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Die Linke will ein anderes Europa

Strategiedebatte über alternative Gestaltung der Union notwendig

Von Francis Wurtz und Gabi Zimmer *

Angela Merkel hat es auf bemerkenswerte Art und Weise verstanden, die EU-Ratspräsidentschaft mit der Präsidentschaft der G8-Staaten zu verknüpfen. Dagegen wäre ja an sich kaum etwas einzuwenden, wenn die Verzahnung von Themen wie Klimaschutz, Energiepolitik oder Hilfe für Afrika durch G8 und EU ernsthaft mit dem Anspruch erfolgte, die dringendsten sozialen, ökologischen und globalen Fragen lösen zu wollen. Genau das ist aber nicht der Fall.

Nicht die von den Vereinten Nationen beschlossenen entwicklungspolitischen Zielstellungen (Millennium Development Goals) zur drastischen Reduzierung von Armut und Hunger, zur Bekämpfung von Krankheiten wie Aids/HIV, Tuberkulose oder Malaria, die Senkung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit, des Zugangs insbesondere von Mädchen und Frauen zu Bildung oder auch die Versorgung mit sauberem Wasser standen im Mittelpunkt der G8-Debatte in Heiligendamm. Auch in der Klimapolitik wird nicht nach Lösungen gestrebt, wie denn zum Beispiel die afrikanischen Länder Energieressourcen nutzen können, die sie dringend für eine soziale und nachhaltige Entwicklung benötigen. Angela Merkel steht nicht für ein verantwortungsvolles Handeln von EU und G8 als globale Akteure, sondern für Inkonsequenz und interessengeleitetes Handeln, vornehmlich der Interessen von Konzernen, gerade auch deutscher Konzerne. Fast unmerklich hat es die Bundeskanzlerin geschafft, die Interessen der EU im globalen Konkurrenzkampf um Absatzmärkte, Energieressourcen und Einflusssphären zu fokussieren.

Unsoziale deutsche Ratspräsidentschaft

Diese Denk- und Politikstrukturen der Regierenden werden zweifellos direkte Auswirkungen auf die sozialen, ökologischen und Beschäftigungsbedingungen der Menschen in den EU-Mitgliedstaaten haben. Es ist schon erstaunlich, dass dringend notwendige Kämpfe gegen die zunehmenden sozialen Ungleichheiten, gegen Armut und soziale Ausgrenzung, gegen prekäre Beschäftigung, sowohl global gesehen als auch auf die EU bezogen, nicht einmal mehr eine Alibirolle in der Präsidentschaft spielen durften. Nicht ein einziges Projekt wurde durch die Bundesregierung initiiert, um soziale und ökologische Mindeststandards durchzusetzen. Dabei kann sich die Weigerung der Bundesregierung, in dieser Hinsicht initiativ zu werden und gleichzeitig Mindestlöhne in Deutschland gesetzlich zu regeln, als Dammbruch gegen erkämpfte Standards in anderen Ländern erweisen. Der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland erfolgt aus unserer Sicht auf Kosten anderer EU-Mitgliedstaaten, vor allem der osteuropäischen, in denen zum Beispiel Mindestlöhne geregelt sind. Diese Haltung der Bundesregierung steht im vollen Einklang mit der von maßgeblichen Vertretern des Rats und der Kommission an Paris gerichteten Aufforderung, nun endlich vermeintliche Defizite in der Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung der französischen Wirtschaft zu beseitigen und Rückstände aufzuholen.

Wir begrüßen, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge, die erneuten Vorstöße für eine Europäische Verfassung, die Konflikte mit dem Energielieferanten Russland, die Zuspitzung der Klimaproblematik und natürlich der jüngste G8-Gipfel zu einer neuen Debatte unter europäischen Linken führten. Alternative Vorstellungen über ein anderes Europa, einschließlich alternativer Verfassungsprinzipien sind dabei ebenso wichtig wie die Frage, mit welchen Ideen und mit wem wir als Linke darum ringen können, Kräfteverhältnisse auf regionaler, nationaler und EU-Ebene zu verändern – trotz unserer gegenwärtigen Minderheitenposition in der Gesellschaft. Wir möchten unter den Linken in der Europäischen Union eine Strategiedebatte befördern, die bis 2009 erste wichtige Ergebnisse erbringen soll. Sie beginnt aus unserer Sicht mit dem weit gehenden Konsens unter den Linken, dass es sich bei der Europäischen Union um ein Faktum handelt, das auf lange Sicht als unumkehrbar anzusehen ist.

Die EU ist weder vorrangig eine Verteidigungs- noch eine militärische Gemeinschaft, die sich das Recht auf globale militärische Intervention zuerkennt. Wir verkennen durchaus nicht die wachsende militärische Komponente der EU und ihre hochgradig gefährliche – weil Militärinterventionen einschließende – Militärstrategie. Wir erinnern an dieser Stelle an die direkte Einmischung von EU-Mitgliedstaaten in den Krieg gegen Jugoslawien. Die Europäische Union hat sehr widersprüchliche und nie von Ambivalenzen freie Beiträge für Frieden, Entspannung, internationale Kooperation geleistet. Gerade wegen ihrer Rolle im internationalen Konkurrenzkampf, im Verhältnis zu den armen Ländern des Südens und im Kampf gegen gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus haben wir nicht den geringsten Anlass, die EU zu idealisieren. Das hindert uns nicht, auch wegen unseres Wissens über schreckliche Kriege unter Ländern, die heute zur EU gehören oder noch Mitglied werden wollen, wegen unseres Verständnisses von zivilisatorischen Fortschritten und Menschenrechten Leistungen der Europäischen Union zu schätzen. Ebenso wenig dürfen wir Interessenunterschiede und Gegensätze zu den USA übersehen.

Veränderung steht auf der Tagesordnung

Nicht »Auflösung« oder »Schwächung der EU«, sondern ihre Veränderung stehen auf der politischen Tagesordnung: die Bündelung und der Einsatz ihres Potenzials, damit immer mehr Menschen in der Welt in Würde und selbstbestimmt sowie solidarisch miteinander leben. Alles andere würde nur noch mehr globale Konkurrenz und noch mehr globale Gefahren, insbesondere seitens der USA, bedeuten. Das hat nicht das Geringste mit einer Neuauflage von »linkem Antiamerikanismus« zu tun, sondern mit Solidarität mit der US-amerikanischen Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung, mit den US-amerikanischen Märschen gegen Armut und soziale Ausgrenzung.

Das hängt aber auch mit unserem politischen Selbstverständnis zusammen: Unsere EU- und europapolitischen Überlegungen schließen die globalen Probleme von Beginn an ein. Soziale und ökologische Probleme müssen zusammengedacht werden.

Von dieser Position aus bewerten wir die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und gehen wir an die neu eröffnete Verfassungs- oder Vertragsdebatte heran. Wir meinen, dass die deutsche EU-Präsidentschaft nicht geleistet hat, was jetzt geleistet werden kann und muss. Auch wenn es etwa ein Fortschritt wäre, würde die EU bis 2020 die Treibhausgasemission um mindestens 20 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren und den Anteil erneuerbarer Energien verdreifachen – der fortschreitende Klimawandel erfordert viel radikalere Zielsetzungen. Die gepriesene »Vorreiterrolle« der EU in Sachen globales Klima ist fraglich und bleibt hinter dem Gebotenen zurück. Die Bundesregierung hat im Interesse der deutschen Autoindustrie den Brüsseler Vorstoß für strengere Kfz-Abgasnormen gestoppt. Hingegen wird eine Wende in der Verkehrs- und Energiepolitik gebraucht, die sich zugleich an sozialer Gerechtigkeit und ökologischen Erfordernissen orientiert. Längst haben Studien die Möglichkeiten einer direkten Verbindung von Energie- und Umweltpolitik mit der Schaffung neuer nachhaltiger Arbeitsplätze nachgewiesen.

Kein Vertrag ohne die Stimme der Bürger

»Versorgungssicherheit« muss in erster Linie als Sicherheit für Menschen und Gesellschaften verstanden werden. Der US-amerikanische Raketenschild, der in Polen und Tschechien errichtet werden soll, erhöht nicht die Sicherheit der Menschen in Russland und so auch nicht der deutschen und europäischen Importe von russischem Öl und Gas. Frau Merkel fand keine Kraft, gegen das neue SDI zu opponieren und die Verzahnung zwischen NATO und EU zumindest in Frage zu stellen. Allerdings hatte sie mehr als genug Kraft, um in den Verhandlungen zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit den Afrika-Karibik-Pazifik-Staaten neokoloniale Politik zu demonstrieren.

In wenigen Tagen kommen die Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer zusammen, um zu klären, wie es mit dem Europäischen Verfassungsprozess weitergehen soll. Mit ihrer »Berliner Erklärung« vom 25. März hatten sie deutlich gemacht, dass sie ohne öffentliche Debatte und demokratische Entscheidung den Bürgerinnen und Bürgern einen neuen EU-Vertrag aufzwingen wollen. Im Sinne der »Berliner Erklärung« soll die Gemeinschaft bis 2009 auf eine »erneuerte gemeinsame Grundlage« gestellt werden, die die »Substanz« des vorliegenden Verfassungsentwurfs enthält und damit wirtschaftspolitische Liberalisierung, Privatisierung der öffentlichen Güter und Leistungen sowie Militarisierung den Menschen in den EU-Mitgliedstaaten aufzwingt. Diese »Substanz« haben Millionen Menschen, vor allem in Frankreich und in den Niederlanden, abgelehnt.

Die Regierenden haben dagegen in ihrer Erklärung nur die Verwendung des Begriffs »Verfassung« gestrichen. Eine Verfassung oder einen Vertrag, die diese »Substanz« festschreiben, nehmen wir nicht hin. Wir halten auch an unserer grundsätzlichen Forderung nach Referenden in jedem Mitgliedsland fest. Wir sind der Überzeugung, dass es unserer ganzen Kraft und breiter Bündnisse bedarf, um die Ratifizierung eines solchen Vertrags zu verhindern. Die Frage nach den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen sollte in diesem Zusammenhang sehr realistisch beantwortet werden.

Gleichzeitig müssen wir die Diskussion zu weiter gehenden Alternativen und politischem Handeln weiter führen. Die notwendige Strategiedebatte unter den europäischen Linken sollte dabei aus unserer Sicht zu einer direkten Verzahnung von europäischen linken Initiativen mit nationalen Initiativen führen. Als eine solche Anregung betrachten wir auch die aus dem Sozialforumsprozess hervorgegangene »Charta der Prinzipien für ein anderes Europa«, die in den nächsten Tagen von ihren Autoren im Europäischen Parlament vorgestellt werden wird. Auch wenn sie sich darauf konzentriert, eine eher fernere Vision zu erzählen.

Die EU muss zivil und solidarisch handeln

Wir haben in den letzten Wochen und Monaten die Dokumente von Gewerkschaften, von Attac, der europäischen Arbeitsgruppe alternativer Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler, von sozialen und ökologischen Bewegungen, von verschiedenen internationalen Netzwerken sowie von europäischen linken Parteien verglichen und die Schnittmengen der Positionen aufgelistet. Sie betreffen folgende Schwerpunkte, die durch vielfältige Forderungen und Vorschläge für konkrete Initiativen untersetzt sind:
  • eine koordinierte europäische Politik für deutlich mehr existenzsichernde Beschäftigung, für angemessene und faire Löhne und für weiter auszubauende Normen des europäischen Arbeitsrechts,
  • ein grenzübergreifender Aufbau sozialer Sicherungssysteme, um Armut, sozialer Ausgrenzung und Prekarisierung entgegenzu wirken,
  • die öffentlichen Dienstleistungen sichern und erweitern,
  • koordiniertes Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten, um soziale Gerechtigkeit und Kohäsion zu fördern,
  • die Neubestimmung der EU-Nachhaltigkeitspolitik und ihre konkrete Umsetzung,
  • die EU als globaler und kooperativer Akteur und ihr konkreter Beitrag zur Minderung und Lösung globaler Probleme (darunter Klima- und Umweltschutz, Neuordnung und Demokratisierung eines gerechten und fairen Welthandels, Abrüstung und Demilitarisierung, Migrationspolitik, Demokratisierung internationaler Institutionen, Initiativen für einen dauerhaften Frieden ganz besonders im Nahen Osten)
Ausgehend von diesen Themen könnte die europäische Linke Kräfte gewinnen, um gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern eine Kampagne zu den europäischen Fragen zu führen, sie zu informieren, zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Wir sind sehr an einer Diskussion unter den linken und alternativen europäischen Kräften interessiert, die klärt, was auf der Ebene der EU und ihrer Mitgliedstaaten getan werden muss, um eine andere Politik zu ermöglichen, und welche Ziele kurz- und mittelfristig realisiert werden können, um unsere Vorstellung von einer zivil und solidarisch handelnden EU in der Welt Wirklichkeit werden zu lassen.

* Francis Wurtz ist Vorsitzender der Linksfraktion (GUE/NGL), Gabi Zimmer Sprecherin der Delegation DIE LINKE. im Europäischen Parlament.

Aus: Neues Deutschland, 15. Juni 2007



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