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Braucht Europa ein Grundgesetz?

Angela Merkels "Fahrplan", die Gewalt des Volkes und die rudimentäre Zivilgesellschaft

Von Gregor Schirmer *

Sie soll nach dem Auftrag des Europäischen Rates (vom Juni 2006) und sie will nach eigenem Bekunden (Regierungserklärung vom Dezember 2006) einen »Fahrplan« vorlegen, wie es mit dem Verfassungsvertrag für Europa »weitergehen kann«. Die deutsche Bundeskanzlerin misst dem hohe Priorität zu. Gegen Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft will Angela Merkel etwas vorweisen. Denn sie hält es für ein historisches Versäumnis, »wenn wir es nicht schaffen würden, bis zur nächsten Europawahl (also bis 2009, G.S.) mit der Substanz dieses Verfassungsvertrages so umzugehen, dass wir wirklich ein Ergebnis abliefern können«. Sehr zuversichtlich klingt das nicht, eher ratlos. Die eigentlichen Entscheidungen werden in die Zeit der Präsidentschaft Frankreichs verschoben. Ob das französische Volk die Suppe auslöffeln will und wird, bleibt fraglich, gleich wer in unserem Nachbarland Präsident oder Präsidentin wird. Es hat mit klarem Nein den vorliegenden Verfassungsentwurf bereits abgelehnt.

Substanz korrigieren

Die »Substanz« des durchgefallenen Vertrags soll gerettet werden, lautet die Zauberformel der Bundeskanzlerin. Aber worin besteht denn diese »Substanz«? Kurz zusammengefasst:

Erstens wird der im Maastricht-Vertrag von 1992 festgelegte und seither immer schärfer praktizierte neoliberale Kurs eines Markt- und Wettbewerbsrigorismus mit Verfassungsrang festgeschrieben. Der »freie und unverfälschte Wettbewerb« wird schon in Artikel I-3 als Unionsziel deklariert. Im Teil III wird der »Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb« für die Wirtschafts- und Währungspolitik aufgestellt und näher ausgeführt. Eine Union mit sozialen und ökologischen Mindeststandards und Schranken gegen Sozial-Dumping ist nicht vorgesehen. Daran würde auch ein von Angela Merkel ins Spiel gebrachtes unverbindliches Sozial-Zusatzprotokoll nichts ändern.

Zweitens legt die »Substanz« die Europäische Union auf einen militaristischen Kurs fest. Der Verfassungsvertrag ermöglicht »Kampf-einsätze« außerhalb der Selbstverteidigung und ohne Mandat des Sicherheitsrats der UNO, also die Beteiligung der Europäischen Union an völkerrechtswidrigen Kriegen. Er enthält keine strikte Friedenspflicht. Statt Abrüstung wird Aufrüstung zur Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten erklärt.

Demokratiedefizite

Drittens verfestigt der Verfassungsvertrag trotz einiger Verbesserungen das dreifache strukturelle Demokratie-Defizit der EU, das sich seit Maastricht fortpflanzt. Es geht undemokratisch zu in der Union: einmal zwischen den Mitgliedstaaten sowie den EU-Institutionen zu Lasten der kleinen und mittleren Mitglieder und der nationalen Parlamente; zum anderen in den Beziehungen der Organe der Union untereinander zu Ungunsten des EU-Parlaments sowie schließlich auch im Verhältnis zwischen der Union und den Unionsbürgern zu Lasten Letzterer.

Es war gerade diese »Substanz«, weshalb die Franzosen und Holländer den Verfassungsvertrag in Volksabstimmungen abgelehnt haben. 58 Prozent der Spanier sind nicht zur Abstimmung gegangen, 43,5 Prozent der an der Abstimmung teilnehmenden Luxemburger votierten mit Nein. Und es hätten sich wohl weitere Völker Europas der Zustimmung verweigert, wenn sie denn gefragt worden wären. Diese »Substanz« muss also grundlegend korrigiert werden, wenn ein allgemein akzeptabler Verfassungsvertrag zustande kommen soll. Eine alternative Verfassung muss für demokratische gesellschaftliche Veränderungen offen sein. Ein strukturelles Manko der Demokratie in der EU muss verfassungsrechtlich zumindest gemildert werden: Jede, auch jede gerechtfertigte Übertragung einer Kompetenz von der nationalen auf die europäische Ebene beinhaltet zwangsläufig einen Verlust an Entscheidungsrechten der nationalen Parlamente. In der Union landen diese Entscheidungsrechte nur begrenzt beim Europäischen Parlament, sondern maßgeblich beim Rat, also einem Gremium der nationalen Exekutiven. Die Regierungen werden auf diese Weise in Brüssel ihre eigenen Gesetzgeber. Das geht wider die rechtsstaatliche Gewaltenteilung.

Mittel dagegen könnten verfassungsrechtliche Bestimmungen sein, die dem Europäischen Parlament wie dem Rat Gesetzesinitiative zubilligen und die Mitbestimmung des Europa-Parlaments auf alle Bereiche ausdehnen, für die eine Zuständigkeit der EU besteht. Zugleich müssen die nationalen Parlamente wirksamere Mitgestaltungs- und Einspruchsrechte erhalten.

Ein weiteres Demokratie-Problem: Die ohnehin vorhandene Hegemonie der großen und mächtigen Mitgliedstaaten muss durch Abstimmungsregeln im Rat begrenzt werden, die einen angemessenen Einfluss der kleinen und mittleren Mitgliedstaaten sichern. Das im Verfassungsvertrag vorgesehene Verfahren der qualifizierten Mehrheit macht die Großen zu Gewinnern, die Kleinen zu Verlieren. Gegenüber den Nizza-Regeln würde das Stimmengewicht Deutschlands von 8,4 auf 17,0 Prozent steigen, das kleine Malta würde von 0,9 auf 0,1 Prozent zurückfallen. Das kann so nicht bleiben, auch wenn man anerkennt, dass Malta mit 360.000 Einwohnern nicht dasselbe Stimmengewicht wie Deutschlands mit 78 Millionen haben kann. Die Gleichberechtigung der Völker der EU erfordert andere Lösungen.

Befürworter des Verfassungsvertrages berufen sich darauf, dass die Mehrheit der Mitgliedstaaten, nämlich 17 von 27, den Vertrag ratifiziert haben. Aber die Mitgliedstaaten haben in Artikel IV-447 des Vertrages vorgesehen, dass er nur dann in Kraft tritt, wenn er von allen Vertragsparteien und nicht bloß von einem Teil ratifiziert ist. Das ist nicht mehr erreichbar, denn den Franzosen und den Niederländern kann wohl kaum zugemutet werden, ein zweites Mal über denselben Text und dann »richtig« abzustimmen. Und es würde sich zumindest ein anderes Mitglied finden – England, Polen, Tschechien? –, das den Vertrag, mit oder ohne Volksabstimmung, abermals zum Scheitern und damit das endgültige Aus brächte.

Tricks und Mogelei

Deutschland wird gewöhnlich der Gruppe der Ratifikationsstaaten zugerechnet. Das ist nicht richtig. Der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler hat gegen das mit »überwältigender« Mehrheit vom Gesetzgeber, nicht vom Wähler (!), angenommene Zustimmungsgesetz Verfassungsbeschwerde erhoben und ein Organstreitverfahren angestrengt, in dem die Grundgesetzwidrigkeit des europäischen Verfassungsvertrages gerügt wird. Der Bundespräsident hat daraufhin zugesichert, das Gesetz vor einer Entscheidung des Gerichts nicht zu unterzeichnen. Das deutsche Ratifikationsverfahren war damit unterbrochen. Eine deutsche Ratifikationsurkunde wurde in Rom nicht hinterlegt. Der Berichterstatter des Senats im Beschwerdeverfahren sieht für eine Entscheidung »gegenwärtig keine Priorität«. Nachvollziehbar ist, dass das oberste Gericht nicht über die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes zu einem Vertrag befinden möchte, der in der vorliegenden Fassung ohnehin nicht in Kraft treten wird.

Man wird Tricks versuchen, um die »Substanz« des Vertrages durchzuboxen oder durchzumogeln. Was ist vorstellbar?

Variante 1: Es wird ein inhaltlich möglichst unveränderter, aber gekürzter Text, eben die »Substanz«, vielleicht unter einem weniger ambitionierten Namen als dem einer Verfassung, möglichst von einer Regierungskonferenz vorgelegt. Zu diesem »Minivertrag« müsste dann allerdings der Ratifikationsprozess von Neuem beginnen – möglichst nur durch die Parlamente und ohne störende Volksabstimmungen.

Variante 2: Es wird zunächst auf der Grundlage der Verträge von Nizza weiter neoliberalisiert und militarisiert. Dieses Verfahren ist bereits im Gange, wie die Gründung der Rüstungsagentur und die Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie zeigen. Über kurz oder lang wird ein Änderungsvertrag zu Nizza vorgelegt, mit dem die noch nicht erledigten Teile der »Substanz« des Verfassungsvertrages durchgedrückt werden. Solche Tricks müssen entlarvt und durchkreuzt werden. Der alte Vertrag ist nicht mehr zu retten.

Vorerst bleibt der Maastricht-Vertrag in der Fassung von Nizza die verbindliche Grundlage der Union. Aber auf dieser Grundlage kann kein anderes, neues Europa aufgebaut werden. Der Verfassungsvertrag ist in mancher Hinsicht besser als Nizza. Aber er ist nicht gut genug, um ihn unter der Devise »Etwas Besseres ist nicht erreichbar« zu reanimieren. Notwendig ist ein Neuanfang im Verfahren und im Inhalt. Ob er gelingt, ist freilich unsicher. Aber ohne eine andere Verfassung wird es kein anderes Europa geben. Bleibt die Frage: Braucht die Europäische Union überhaupt einen Verfassungsvertrag? Der Jurist würde darauf antworten, dass die EU einen solchen hat, nämlich den Vertrag von Maastricht vom Februar 1992, seither geändert durch die Verträge von Amsterdam 1997 und Nizza 2000. Der Inhalt des Verfassungsvertrages für Europa hätte gut und gern und mit gleicher völkerrechtlich verbindlicher Wirkung als Änderungsvertrag zu den Verträgen in der Fassung von Nizza durchgesetzt werden können. Das hätte wahrscheinlich weniger Aufsehen erregt und nicht solchen energischen Widerstand hervorgerufen.

Anspruchsvolles Label

Aber der Konvent und die Regierungen haben, aus welchem Grund auch immer, das Kind unter dem anspruchsvollen Namen Verfassungsvertrag in die Welt gesetzt. Dass die Rechtsgrundlage der Europäischen Union ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten sein muss, ist selbstverständlich, denn die EU ist eine Union souveräner kapitalistischer Staaten. Der Name Verfassung ist gerechtfertigt, weil es sich um die höchsten Rechtsgrundsätze für Inhalt, Ziel, Organisation und Verfahren eines Staatenverbundes, einer Gemeinschaft von Völkern und von Bürgerinnen und Bürgern handelt. Der Begriff der Verfassung ist zwar historisch mit dem Begriff des Staates verbunden. Und die Europäische Union ist kein Staat. Aber es gibt keinen Grund, nicht auch die höchste Rechtsgrundlage einer Staatenunion als Verfassung zu bezeichnen. Das Ausmaß an Kompetenzübertragung an die Union, die Auswirkungen dessen, was in Brüssel, Straßburg und Luxemburg geschieht auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger und das Vorhandensein verfassungstypischer Organe und Verfahren wie Parlament, Rat, Rechtsetzung, Gerichtshof, Grundrechte, machen den Namen Verfassung angemessen und treffend. Es wäre eine Mogelpackung, wenn der Name Verfassungsvertrag durch die Bezeichnung »Grundgesetz«, wie das Kurt Beck vorschlägt, oder Ähnlichem abgelöst würde.

Der Name Verfassung macht die Menschen hellhörig und verweist sie darauf, dass es um Grundsätzliches geht. Und das ist gut so. Dieses »Label« ist besser geeignet, bürgerrechtliche (und auch linke) Ideen zur Zukunft Europas zu transportieren, als bei einer Änderung der Nizza-Verträge. Freilich ist der anspruchsvolle und integrationsträchtige Begriff »Verfassung« erst dann gerechtfertigt, wenn das Dokument auf demokratische Art und Weise zustande kommt.

Für ein Verfahren, das dem Grundsatz »Alle Verfassungsgewalt geht vom Volk aus« gerecht würde, haben sich die Linksfraktion im Bundestag in einem Antrag (Drucksache 16/3402) und deren beide Vorsitzende in einem Memorandum (s. ND v. 9. und 12. Januar) stark gemacht. Ihr Vorschlag: Es wird eine Verfassunggebende Versammlung der Union einberufen, die aus zwei Kammern besteht, einer Bürgerinnen- und Bürgerkammer (Erste Kammer) und einer Staatenkammer (Zweite Kammer). Die Erste Kammer könnte direkt gewählt werden. Oder das 2009 zu wählende Europäische Parlament könnte sich als Erste Kammer konstituieren. Die Zweite Kammer würde aus Vertretern der Regierungen und der Parlamente der Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der Gleichheit der Staaten bestehen. Der Text des Verfassungsvertrags wird unter breiter Teilnahme der europäischen und nationalstaatlichen Öffentlichkeit ausgearbeitet und allen EU-Bürgerinnen und Bürgern vorgelegt. Am Ende findet in allen Mitgliedstaaten am selben Tag und nach denselben Regeln eine Volksabstimmung über den Text statt. Der Verfassungsvertrag ist angenommen, wenn es in allen Mitgliedstaaten mehr Zustimmungen als Ablehnungen gibt. Ohne Zustimmung der Bevölkerungen in allen Mitgliedstaaten kann es keinen legitimen Verfassungsvertrag geben.

Soll die Europäische Union durch ihre Verfassung ein Europäischer Bundesstaat werden? Karlsruhe hat im Maastricht-Urteil vom 1993 festgestellt, der EU-Vertrag begründe einen »Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas, keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat«. Die Union ist längst über einen Staatenbund hinausgewachsen. Sie hat sich in mancher Hinsicht in Richtung auf einen Bundesstaat entwickelt und ist ein staatsähnliches Gebilde. Aber soll das bis zur Vollendung eines europäischen Bundesstaates so weitergehen? Soll die EU auf diesem Weg eine »schlagkräftige« Weltmacht werden? Wer das will, muss einen Verfassungsvertrag wollen, der die Souveränität der Mitgliedstaaten möglicht klein hält und die Souveränität der Union möglichst groß schreibt.

Einen europäischen Staat nach Art der Vereinigten Staaten von Amerika oder der Bundesrepublik Deutschland, wo die Mitglieder zu bloßen Gliedstaaten ohne eigene Souveränität heruntergestuft sind, wollen die EU-Bürgerinnen und -Bürger nicht. Davor haben sie Angst. Sie fürchten um ihre kulturelle Identität. Auch die Mitgliedstaaten wollen keinen europäischen Bundesstaat. Sie wollen wesentliche Souveränitätsrechte, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik, behalten. Und die Linken sollten einen EU-Staat nicht wollen, weil der nach Lage der Dinge nur eine imperialistische Weltmacht neben den USA sein könnte. Auch praktische Gründe stehen für lange Zeit einer supranationalen europäischen Staatlichkeit entgegen: das nur rudimentäre Vorhandensein einer europäischen Zivilgesellschaft und eines europäischen Diskurses sowie die unbedingt erhaltenswerte Sprachenvielfalt.

Nur keinen Superstaat

Die Europäische Union soll weder auf eine qualifizierte Freihandelszone zurückfallen noch ein Superstaat werden. Sie soll sich als eine Union eigener Art (sui generis) entwickeln, als eine politische, ökonomische, soziale und ökologische, dem Frieden verpflichtete Union von Staaten und Völkern, die nach den Grundsätzen der Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit handelt, die zwecks besserer Problemlösung von den Mitgliedstaaten Kompetenzen erhalten hat. Die Mitgliedstaaten behalten aber einen wesentlichen Bestand an souveränen Rechten, darunter die Entscheidung über die Übertragung von Kompetenzen an die Union und über die Mitgliedschaft selbst.

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist freiwillig. Die unterschiedlichen Nationalstaatlichkeiten im Rahmen einer handlungsfähigen Union sind nicht per se etwas Überholtes und daher Rückständiges. Es muss ein zweckdienlicher Ausgleich zwischen den Kompetenzen der Union und der Mitgliedstaaten verfassungsrechtlich festgeschrieben werden. Nur so kann der schöne Leitspruch in Artikel I-8 des Verfassungsvertrages funktionieren. »In Vielfalt geeint.«

Dr. Gregor Schirmer, Jg. 1932, ist Professor für Völkerrecht.

Aus: Neues Deutschland, 10. Februar 2007



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