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Abschied von der EU-"Verfassung" - Vorwärts zum "Reformvertrag"

Das Ergebnis der deutschen Ratspräsidentschaft: Die Inhalte der gescheiterten EU-Verfassung bleiben gültig und werden umgesetzt

"Ein guter Tag für Europa" war die Pressemitteilung der Bundesregierung nach Abschluss des EU-Gipfels am 23. Juni 2007 überschrieben. Was sollte sie auch anderes sagen? Polens Bedenken - was die Stimmengewichtung betraf - wurde ebenso partiell Rechnung getragen wie denen Großbritanniens in der Frage der (Un-)Verbindlichkeit der Grundrechtecharta. Also war Einigkeit hergestellt. Die EU-Verfassung, für deren Zustandekommen die Bundeskanzlerin sich seit Monaten fverwendet hatte, ist endgültig zu Grabe getragen worden. Also eine Niederlage für Frau Merkel? Mitnichten, denn stolz präsentiert sie als Ergebnis ein Lösung, wonach zwar die Verfassung tot, dafür aber ein "Reformvertrag" vereinbart wurde, in dem sich alles, was bisher in dem Verfassungsvertrag wirklich wichtig war, wiederfindet. Ein guter Tag also für die Verfechter einer neoliberalen und militarisierten EU - das muss kein guter Tag für Europa sein.

Im Folgenden dokumentieren wir die Presseerklärung der Bundesregierung sowie einen kritischen Kommentar zu den Ergebnissen des Gipfels.



Ein guter Tag für Europa

Steinmeier, Merkel Die deutsche Ratspräsidentschaft löste in Brüssel eine Mammutaufgabe: Nach fast 36 Stunden Verhandlung brachte sie eine neue Vertragsreform für die EU auf den Weg. Mit der Beteiligung Polens. Einfach war das nicht. Aber es hat sich gelohnt. Eine Regierungskonferenz wird nun den neuen Vertrag in allen Einzelheiten ausarbeiten.

"Wir haben geschafft, was wir wollten", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Abschluss der Gespräche am Samstagmorgen. Europa sei aus dem Stillstand herausgekommen, das nun vorliegende Mandat ein "Gemeinschaftswerk".

Bis Ende des Jahres soll die Regierungskonferenz klären, welche Vertragsveränderungen für die neuen Grundlagenverträge nötig sind. Wie geplant, soll das neue Vertragswerk 2009 in Kraft treten.

Was waren die Knackpunkte?

Einer der problematischsten Punkte war der künftige Abstimmungsmodus bei Mehrheitsentscheidungen im EU-Ministerrat. Der Verfassungsentwurf sah hier das Prinzip der doppelten Mehrheit vor: Beschlüsse erfordern danach eine Mehrheit von 55 Prozent der Mitgliedsländer. Insgesamt müssen dabei 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen.

Fast wäre der Gipfel an diesem Punkt gescheitert. Polen tat sich damit schwer und wollte sogar ein Veto einlegen.

Nach dem bisher geltenden Nizza-Vertrag hat das Land mit rund 40 Millionen Einwohnern 27 Stimmen im Rat. Deutschland mit fast doppelt so vielen Einwohnern verfügt über 29 Stimmen. Mit dem System der doppelten Mehrheit verliert Polen Stimmen im Rat. Deutschland dagegen gewinnt an Gewicht.

Lösung: Die doppelte Mehrheit wird erst 2014 in Kraft treten. In Streitfällen können sich Staaten außerdem noch bis 2017 auf den geltenden Nizza-Vertrag berufen und den Aufschub einer unliebsamen Entscheidung fordern.

Die Briten wiederum hatten Bedenken gegen die Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechts-Charta. Sie solle nicht verbindliches britisches Recht werden, war das Argument. Deshalb sollte sie auch nicht im reformierten Vertragswerk erscheinen.

Lösung: Die Grundrechtscharta ist nicht mehr Teil der Verträge. Allerdings wird sie durch einen Verweis verbindlich. Ausnahme: Großbritannien.

Auch die Berufung eines EU-Außenministers als oberster Chefdiplomat der EU stieß auf britische Bedenken.

Lösung: Im Amt des "Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik" werden die Funktionen des EU-Außenbeauftragten und des EU-Außenkommissars gebündelt. Bisher haben der Spanier Javier Solana und die Österreicherin Benita Ferrero-Waldner diese Posten inne. Mit dem neuen Amt bekommt die EU-Außenpolitik erstmals ein einheitliches Gesicht.

Bis Ende des Jahres soll die Regierungskonferenz klären, welche Vertragsveränderungen für die neuen Grundlagenverträge nötig sind. Wie geplant, soll das neue Vertragswerk 2009 in Kraft treten.

Von der Verfassung zum Vertrag

Die negativen Volksabstimmungen werden in einigen Mitgliedsländern als Angst der Bürgerinnen und Bürger vor einem europäischen Superstaat interpretiert. Dieser Angst galt es zu begegnen. Unter den 27 Staaten bestand schon zu Beginn des Gipfels Einigigkeit, dass der Begriff "Verfassung" nicht mehr verwendet wird.

Stattdessen werden die europäischen Verträge durch einen Reformvertrag reformiert. Es gibt im neuen Vertragswerk auch keine staatsähnlichen Symbole und keine Hymne.

Weitere Reformen

Künftig hat die EU einen ständigen Ratspräsidenten. Der Europäische Präsident soll zweieinhalb Jahre den Europäischen Rat leiten. Damit gibt es keine rotierende Präsidentschaft mehr und damit mehr Kontinuität.

Die nationalen Kompetenzen sollen gestärkt werden: Innerhalb von acht Wochen können nationale Parlamente gegen beabsichtigte Rechtsakte der EU Einspruch erheben. Falls sie meinen, dass diese nationale Zuständigkeit verletzen. Das Europaparlament entscheidet künftig gleichberechtigt mit dem Ministerrat über den EU-Haushalt.

Die Zahl der Kommissare soll kleiner werden: Bis 2014 von derzeit 27 auf 15.

Staaten - wie Großbritannien - können aus EU-Beschlüssen über engere Zusammenarbeit in Fragen der Justiz- und Polizeizusammenarbeit aussteigen. Auch in der Sozialpolitik können Staaten aus der gemeinsamen Politik ausscheren. Wenn innerhalb von vier Monaten keine Einigung erreicht wird, können jene Staaten, die das wollen, vorangehen.

Deutschland hatte bereits Mitte 2006 den Auftrag erhalten, einen Fahrplan für eine Vertragsreform zu erarbeiten. Hintergrund war das "Nein" der Volksabstimmungen zum Verfassungsentwurf in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005. Europa verordnete sich daraufhin eine zweijährige Denkpause. Diese war vorüber. Bis zur Wahl des Europäischen Parlaments im Jahre 2009 soll ein neuer Vertrag von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert sein. Damit die erweiterte EU auch dann handlungsfähig bleibt.

Anfang der Woche hatte die deutsche Präsidentschaft allen anderen 26 Mitgliedsstaaten den Stand der Verhandlungen bei der Vertragsreform vorgelegt. In Brüssel trug jeder seine Meinung und sein Anliegen vor. Dann begann die Suche nach Kompromissen.

Quelle: Website der Bundesregierung (www.bundesregierung.de)


Nein zum Reformvertrag

Von Sahra Wagenknecht *

Von Beginn an war klar, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft öffentlich daran gemessen werden würde, ob es Angela Merkel gelingt, dem Verfassungsprozess neues Leben einzuhauchen. Nach der Regierungskonferenz in der Vorwoche konnte die Kanzlerin nun mit stolzgeschwellter Brust ihren Erfolg verkünden: Der deutschen Ratspräsidentschaft ist es gelungen, die Verfassung zu retten. Denn nichts anderes ist das, was jetzt als Reformvertrag verkauft wird. Der Name hat sich gewandelt, der Inhalt jedoch bleibt fast vollständig gleich: Es gibt keine Änderung an der neoliberalen Ausrichtung des Vertrags, Wettbewerbsorientierung und Militarisierung sind weiterhin Programm. Der Erfolg der Bundesregierung ist deshalb ein niederschmetterndes Ergebnis für die Menschen in der EU.

Ein soziales, gerechtes und demokratisches Europa rückt in weite Ferne. Die massiven Auseinandersetzungen vor dem Gipfel können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei der Ausrichtung des Vertrags kaum Differenzen zwischen den Regierungen gibt. Der neoliberale Inhalt der Verfassung, der maßgeblich zum negativen Votum der Bevölkerung in Frankreich und den Niederlanden geführt hatte, stand nie zur Debatte. Im Gegenteil: Er sollte auf Biegen und Brechen bewahrt werden. Um die Kritik zu bannen, brauchte es allerdings kosmetische Änderungen. Da ist es ein geschickter Schachzug, auf Betreiben des französischen Präsidenten Sarkozy zwar den Verweis auf den freien und unverfälschten Wettbewerb als Ziel der EU am Anfang des Vertrags herauszunehmen – die Substanz jedoch mit Hilfe eines Zusatzprotokolls durch die Hintertür genauso verbindlich wieder in den Vertragstext hineinzubekommen. Frohlockend stellte der europäische Unternehmerverband Businesseurope am Ende fest, dass seine Vorschläge umgesetzt worden seien, und Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes erklärte, dass die Änderung keinerlei Einschränkung für die Politik bedeute.

»Europa gelingt gemeinsam«, so lautete das Motto der deutschen Ratspräsidentschaft. Dass sich diese Parole aus Regierungssicht nicht gerade auf die Bevölkerung bezieht, wird dadurch unterstrichen, dass Volksabstimmungen über das Vertragswerk nach seiner Umbenennung unnötig werden. Dies dürfte bei allen Regierungen Erleichterung auslösen, schließlich waren es die unbotmäßigen Abstimmungsergebnisse der französischen und niederländischen Bevölkerung, die die Verfassungskrise der EU erst ausgelöst hatten. Diese Gefahr ist nun gebannt – demokratischer wird die EU so aber nicht.

Was der Öffentlichkeit als Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft präsentiert wird, ist nichts anderes als die Neubestätigung einer verfehlten Politik. Vertan wurde die Chance, endlich eine Änderung des Kurses einzuleiten. In ihrer Bilanzrede vor dem Europäischen Parlament äußerte Angela Merkel die Hoffnung, dass man in 50 Jahren auf 2007 zurückblicken und denken werde, dass die Weichen damals richtig gestellt worden seien. Es steht zu hoffen, dass die Menschen sich nicht 50 Jahre Zeit nehmen werden, um ihr Urteil zu fällen. Dass die Änderung einer Politik, die vor allem den Profitinteressen der Großkonzerne dient und die Bedürfnisse der Bevölkerung hintanstellt, mehr als überfällig ist, lässt sich auch heute erkennen. Widerstand gegen den Reformvertrag bleibt deshalb so nötig wie gegen die Verfassung!

* Sahra Wagenknecht (LINKE) ist Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments.

Aus: Neues Deutschland, 29. Juni 2007



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