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Die These von der Militarisierung der EU ist nur ein "Mythos" - Der EU-Reformvertrag enthält eine Aufrüstungsverpflichtung

Jo Leinen (SPD-MdEP) und Tobias Pflüger (parteilos, für die LINKE im Europaparlament) beschreiben ihre konträren Positionen zum EU-"Reformvertrag" von Lissabon

Es gibt Kontroversen, die ihre Spannung nicht nur aus den gegensätzlichen Argumenten, sondern auch aus den Biografien der Protagonisten beziehen. Im vorliegenden Fall stehen sich Vertreter zweier Generationen gegenüber (der eine geb. 1948, der andere 1965), die zudem sehr unterschiedliche Parteipräferenzen haben: der eine als jahrzehntelanges Mitglied der SPD, der andere parteilos, aber mit eindeutiger Anlehnung an das Linke in der LINKEN. Hinzu kommt aber noch etwas temporär gemeinsames: Jo Leinen war in der ersten Hälfte der 80er Jahre prominentes Mitglied im Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung, der damals verantwortlich für die bis dato größten Friedensdemonstrationen in Bonn gewesen war (400.000 anlässlich des Besuchs des damaligen US-Präsidenten Reagan im Sommer 1982, 500.000 gegen die Raketenstationierung im Oktober 1983). Der Ausflug Jo Leinens, der sehr stark in der Umweltbewegung engagiert war, in die Friedensbewegung war nur von kurzer Dauer und endete mit seiner Einbindung in die Realpolitik. Tobias Pflüger dagegen kann schon jetzt auf eine sehr viel längere "Karriere" in der Friedensbewegung zurückblicken. Und seine parlamentarische Tätigkeit, die mittlerweile ins vierte Jahr reicht, hat ihn keineswegs ins Lager der "Realpolitiker" getrieben.
Nun streiten beide über die Verfassung der Europäischen Union. Für den ehemaligen Friedensaktivisten Jo Leinen ist die "These von der Militarisierung der EU" nur ein "Mythos", die EU selbst auf dem besten Weg in eine demokratischere und sozialere Zukunft. Und die Militärinterventionen würden nur in Übereinstimmung mit der UN-Charta und dem Völkerrecht erfolgen und seien zum Wohl der Menschen. Tobias Pflüger dagegen stellt klar, dass keineswegs von einem "Mythos" die Rede sein kann. Vielmehr sei die Militarisierung der EU mit harten Fakten zu belegen und der Lissaboner Vertrag daher abzulehnen.
Im Folgenden dokumentieren wir die Kontroverse, die im "Neuen Deutschland" veröffentlicht wurde.*



Europa wird sozialer und demokratischer

Von Jo Leinen

Mit dem Vertrag von Lissabon kommt die Europäische Einigung einen großen Schritt voran. Die Richtung stimmt. Die Europäische Union wird sozialer und demokratischer. Gewinner sind die 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger in der EU, weil etliche der großen Probleme unserer Zeit schneller gelöst werden können.

Die Bürgerrechte und die Bürgerbeteiligung werden durch den neuen Reformvertrag erheblich gestärkt. Mit der »Charta der Europäischen Grundrechte« wird der weltweit modernste Katalog von Grundrechten und Grundfreiheiten rechtsverbindlich und kann von den Menschen vor den jeweiligen Gerichten eingeklagt werden. Alle Bürgerkammern -- sowohl die nationalen Parlamente als auch das Europäische Parlament -- erhalten erheblich mehr Kompetenzen. Mit dem Europäischen Volksbegehren wird zusätzlich ein Element der direkten Demokratie auf EU-Ebene eingeführt. Die EU ist hier fortschrittlicher als eine Reihe von Mitgliedsländern, darunter auch Deutschland.

Der Vertrag ist der sozialste Europavertrag, der bisher erarbeitet wurde. Ein neuer Zielkatalog verpflichtet die Union und ihre Organe zu einer Politik der Vollbeschäftigung, des sozialen Fortschritts, der Bekämpfung von Ausgrenzung und Armut sowie zur nachhaltigen Entwicklung. Diskriminierungen aus ethnischen, religiösen oder geschlechtlichen Gründen sind in der EU verboten. Die öffentlichen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge werden gestärkt und unterliegen nicht mehr automatisch dem Wettbewerbsregime. Die Konservativen in Wirtschaft und Politik haben diese Fortschritte auf dem Weg von einer Wirtschaftsunion zu einer Sozialunion erheblich gegeißelt und auch bekämpft. Die Behauptung von interessierter Seite, der Vertrag von Lissabon würde eine neoliberale Wirtschaftspolitik festschreiben oder sogar noch verstärken, ist jedenfalls grundfalsch. Wie die Veränderung der Bolkestein-Initiative zur Dienstleistungsfreiheit in der EU gezeigt hat, hängt der soziale Fortschritt von politischen Mehrheiten und der Mobilisierung der Betroffenen ab. Europäische Verträge geben lediglich einen Rahmen, der durch praktische Politik ausgefüllt werden muss. Hier hat die Linke in Europa eine echte Herausforderung, die sie nur ungenügend wahrnimmt.

Ein anderer Mythos ist die These von der Militarisierung der EU durch den neuen Vertrag. In der Tat bekommt Europa eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Das ist auch dringend notwendig und schon lange überfällig. Die EU wird jedoch kein zweiter Weltpolizist wie die USA. Im Vertrag von Lissabon verpflichtet sich die EU eindeutig, nur in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zu handeln und Militärmissionen nur im Auftrag der Völkergemeinschaft durch ein UNO-Mandat zu ermöglichen. Dies sind keine Kriegs-, sondern Friedensmissionen. Die EU setzt in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik auf Konfliktvermeidung und Friedenserhaltung, wie die erfolgreichen Missionen in Mazedonien oder auch in der Demokratischen Republik Kongo gezeigt haben. Nur Pazifisten können fordern, dass auch solche Missionen zu vermeiden sind. Den Menschen in Bürgerkriegsregionen haben sie bisher jedenfalls schon viel geholfen.

Mit dem Vertrag von Lissabon antwortet die EU auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Die neuen Zuständigkeiten beim Klimaschutz und in der Energiepolitik sollen helfen, Europa als Avantgarde bei einer nachhaltigen Entwicklung in der Ressourcennutzung und der Energieverwendung voranzutreiben. Eine gemeinsame Politik wird es in Zukunft auch beim Gesundheits- und beim Katastrophenschutz geben. Bei Erdbeben, Großbränden oder Überschwemmungen soll ein europäisch organisierter Zivilschutz in der Lage sein, schnell und effektiv zu helfen.

Bevor diese Fortschritte Realität werden, muss der Vertrag erst in Kraft treten können. Voraussetzung dafür ist, dass der Reformvertrag in allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Ich höre die Forderung nach Volksabstimmungen. Eine Kaskade von nationalen Referenden ist jedenfalls die völlig falsche Methode, um einen europäischen Vertrag zu genehmigen. Ich wäre einverstanden, für die Ratifizierung eines großen Europavertrages eine europäische Volksabstimmung am gleichen Tag und in allen 27 Mitgliedsländern durchzuführen. Davon sind wir jedoch meilenweit entfernt. Deutschland und andere Länder müssten ihre Verfassung ändern. Das Thema »Europäisches Referendum« taugt für die Zukunftsdebatte über Europa, nicht aber für die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages im Jahre 2008.

Ohne Zweifel lässt sich am Vertrag von Lissabon vieles kritisieren. Auch ich finde Dinge, die mir nicht gefallen. Dieser Vertrag ist jedoch nur eine Etappe und noch nicht das Ziel der Europäischen Einigung. Alle, die sich gegen diesen Vertrag aussprechen, müssen wissen, dass die Alternative zum Vertrag von Lissabon der bestehende Vertrag von Nizza ist. Der Nizza-Vertrag ist nach allgemeiner Auffassung weniger demokratisch, weniger sozial und weniger kompetent, die Zukunftsfragen zu lösen. Eine lebendige Debatte des Lissabon-Vertrages ist überall nötig und willkommen. Eine Obstruktion wäre jedoch kurzsichtig und würde nur zu Nachteilen und Rückschritten führen. Gut gemeint muss nämlich nicht immer gut sein.

Jo Leinen, Jg. 1948, studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Bonn und Saarbrücken. Er trat Mitte der siebziger Jahre in die SPD ein und war Anfang der 1980er in der Anti-AKW-Bewegung aktiv. 1985 wurde Leinen saarländischer Umweltminister im Kabinett von Oskar Lafontaine und behielt dieses Amt bis 1992 bei. Seit 1999 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments und seit 2004 Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen. Außerdem ist er stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten.


Ein militaristisches Europa wird möglich

Von Tobias Pflüger

Der am 13.12.2007 von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unterzeichnete EU-Reformvertrag wird die Politik in der EU wesentlich ändern. Die offiziellen Stellen der EU und die Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlamentes werden nicht müde, die Vorteile dieses »Vertrages von Lissabon« anzupreisen. Die LINKE lehnt diesen Reformvertrag wie zuvor den fast identischen EU-Verfassungsvertrag ab. Der Vergleich der Artikel zeigt, dass der Inhalt des EU-Verfassungsvertrages und des Reformvertrages fast übereinstimmend ist. »Etwa 90 Prozent des Kernpakets bleiben gegenüber dem europäischen Verfassungsvertrag unverändert«, so der irische Regierungschef Bertie Ahern.

Der »Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft« ist ein Änderungsvertrag zu den bestehenden Verträgen. Valéry Giscard d'Estaing hat darauf verwiesen, dass der Inhalt größtenteils unverändert geblieben sei; die Änderungen würden lediglich anders dargestellt. Die Regierungen der EU hätten sich auf »kosmetische Veränderungen« der Verfassung geeinigt, um den Vertrag leichter verdaulich zu machen, weil der neue Text dem Verfassungsvertrag nicht ähneln dürfe.

Was sind nun die wesentlichen Gründe für die Ablehnung des Reformvertrages? Neben einer Neustrukturierung der EU-Institutionen werden durch den Reformvertrag inhaltliche Festlegungen in wesentlichen Politikbereichen vorgenommen, vor allem im Bereich Wirtschafts-, Militär- und Migrationspolitik. Insbesondere in den beiden letztgenannten ist einiges neu. Die bisherigen EG- und EU-Verträge verbieten einen eigenen permanenten EU-Militärhaushalt. Dieser soll nun durch den Reformvertrag ermöglicht werden. Mit dem »Anschubfonds« (Art. 26) können auch operative EU-Militärausgaben beglichen werden. Damit gibt es zusätzlich zu den einzelstaatlichen Militärhaushalten einen eigenen EU-Militärhaushalt. Die institutionelle Zusammenarbeit zwischen EU und NATO im militärischen Bereich wird mit dem Reformvertrag abgesichert. Die NATO taucht direkt im Reformvertrag auf: Die »Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (ESVP) solle zur »Vitalität eines erneuerten Atlantischen Bündnisses« beitragen (Art. 27, Protokoll Nr. 4). In Artikel 27,3 findet sich die viel kritisierte Aufrüstungsverpflichtung (»Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«.) nun auch im Reformvertrag. Umsetzen soll dies vor allem auch die EU-Rüstungsagentur (Art. 30), die nun mit dem Reformvertrag primärrechtlich verankert werden soll.

Im »Protokoll über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit« heißt es, dass die EU »spätestens 2010 über die Fähigkeit verfügen werde, entweder als nationales Kontingent oder als Teil von multinationalen Truppenverbänden bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, taktisch als Gefechtsverband konzipiert sind, über Unterstützung unter anderem für Transport und Logistik verfügen und fähig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen nach Artikel 28b des Vertrags über die Europäische Union aufzunehmen, um insbesondere Ersuchen der Organisation der Vereinten Nationen nachzukommen, und diese Missionen für eine Dauer von zunächst 30 Tagen, die bis auf 120 Tage ausgedehnt werden kann, aufrechtzuerhalten«. Das Recht des Bundestages (durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 festgelegt), über Auslandseinsätze der Bundeswehr zu entscheiden, wird erheblich ausgehöhlt.

Im neuen EU-Vertrag selbst findet sich die Aufforderung, die entsprechenden einzelstaatlichen Vorschriften an die verkürzte Einsatzzeit der EU-Battle-Groups anzupassen und die »nationalen Beschlussfassungsverfahren« zu überprüfen (Protokoll Nr. 4). Die damalige britische Ratspräsidentschaft antwortete mir auf meine Frage im Unterausschuss Sicherheit und Verteidigung, wie die kurze Einsatzzeit (5 bis 30 Tag) der EU-Battle Groups (mobile Kampftruppen) mit der in Deutschland festgeschriebenen Parlamentsbeteiligung in Übereinstimmung zu bringen ist, dass die deutschen Kollegen angemerkt hätten, dass eine Zustimmung des Bundestages auch mal im Nachhinein möglich sei. Gleichzeitig ist bekannt, dass das deutsche Verteidigungsministerium an Bestimmungen arbeitet, wie »Dauergenehmigungen« für EU-Battle Groups und NATO-Response Forces (Eingreiftruppen) erteilt werden könnten. Auf Staatssekretärsebene wird dies auch öffentlich gefordert.

Mit dem Reformvertrag wird ein militärisches Kerneuropa durch das Instrument der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« ermöglicht. Dies schafft einen Primärrechtsrahmen für die verstärkte Entsendung von EU-Battle Groups (Art. 27, Protokoll Nr. 4). Der Gerichtshof der Europäischen Union ist explizit nicht zuständig »für die Bestimmungen hinsichtlich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und für die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte« (Art 11, 240a). Das Europäische Parlament ist ebenfalls nicht zuständig, wird lediglich auf dem Laufenden gehalten (Art. 21). Dieser »Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik« soll sowohl Teil des EU-Rates als auch der EU-Kommission sein.

Die institutionelle Vermischung von Außen- und Militärpolitik wird, rechtsstaatlich äußert fragwürdig, weiterhin festgeschrieben (Art. 9b, 9e, 9d). Das Thema Migrationskontrolle spielt eine sehr wichtige Rolle. Im neuen Paragraphen 69 des Reformvertrages heißt es unter anderem: »Die Union entwickelt eine Politik, mit der (c) schrittweise ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen eingeführt werden soll.« Die LINKE hat dazu klare politische Positionen: »Aber der vorliegende Verfassungsentwurf soll alle EU-Staaten zur Aufrüstung verpflichten. Er befördert die Militarisierung der EU. Neoliberale Wettbewerbspolitik soll Verfassungsrang erhalten. Das für mehr Demokratie in der EU Erreichte bleibt hinter dem Notwendigen zurück. (...) Wir werden alle Möglichkeiten auf parlamentarischer und außerparlamentarischer Ebene nutzen, um dies zu verhindern. Die PDS sagt 'Nein' zu dem vorliegenden Verfassungsentwurf.«

Dies war die Aussage im Europawahlprogramm der PDS 2004. Die Europäische Linkspartei (EL) hat auf ihrem Kongress am 24. und 25. November den EU-Reformvertrag klar abgelehnt. Die Bundestagsfraktion der LINKEN beschloss am 26.11. vergangenen Jahres in einer Sonderfraktionssitzung einstimmig die Ablehnung des EU-Reformvertrages. Es gibt also genügend Anlässe, um nun aktiv -- auch mit einer Informationskampagne -- dafür zu kämpfen, dass der EU-Reformvertrag nicht umgesetzt wird.

Tobias Pflüger wurde 1965 in Stuttgart geboren. Er studierte Politikwissenschaft und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen. Seit den achtziger Jahren ist er in der Friedensbewegung aktiv und gründete 1996 zusammen mit anderen Friedensaktivisten die Informationsstelle Militarisierung (IMI). Pflüger ist im wissenschaftlichen Beirat von Attac aktiv und Redakteur der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden. Auf der PDS-Liste kandidierte er als Parteiloser 2004 für das EU-Parlament und ist seitdem Abgeordneter der Europäischen Linken.

Beide Beiträge erschienen auf der "Debatten"-Seite des "Neuen Deutschland vom 11. Januar 2008


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