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Schäfer (SPD): "Das deutsche Parlament hat eine außergewöhnliche Stärkung seiner Rechte erfahren" / Gysi (DIE LINKE): "Das Bundesverfassungsgericht hat den Lissabon-Vertrag völlig neu interpretiert"

Der Bundestag debattiert über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag

Einen Tag nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach zwar der Lissabon-Vertrag mit dem Grundgesetz vereinbar sei (siehe "Vertrag von Lissabon mit Grundgesetz vereinbar"), das vom Bundestag verabschiedete "Begleitgesetz" aber verfassungsrechtlich Mängel aufweise, sodass der Vertrag von Lissabon noch nicht ratifiziert werden dürfe, debattierte auch der Bundestag über das Urteil. Dabei zeigte sich, dass Politiker dazu neigen, große Entscheidungen immer zu ihren Gunsten zu interpretieren. Es schien nur Sieger zu geben - wie nach einer Wahl. Dies wurde schon am Tag zuvor deutlich, als die Fraktionen ihre Presseerklärungen abgegeben hatten (siehe hierzu und zu einer Erklärung aus der Friedensbewegung: "Es ist wie nach einer Wahl: Alle erklären sich zum Sieger"). Dennoch verdient die Debatte dokumentiert zu werden, weil in ihr die grundsätzlichen Standpunkte der Fraktionen zum EU-Verfassungsvertrag deutlich werden.
Es sprachen in dieser Reihenfolge:



Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht, 229. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2009
Plenarprotokoll 16/229

Tagesordnungspunkt 3:
Vereinbarte Debatte: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon


Vizepräsidentin Petra Pau:

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der gestrige Tag vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe war ein wichtiger Tag für Deutschland, für Deutschland in Europa, für den Deutschen Bundestag wie für den Bundesrat. Es ist gut, dass wir uns hier heute direkt mit den Konsequenzen dieses Urteils befassen.

Lassen Sie mich drei einleitende Punkte nennen.

Erstens. Der Vertrag von Lissabon ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Das ist ein großer Erfolg für die große Mehrheit dieses Hauses.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Das Zustimmungsgesetz mit den Änderungen des Grundgesetzes zum Lissabon-Vertrag ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch das ist ein großer Erfolg für die große Mehrheit dieses Hauses.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Ein guter Tag für Europa!)

Drittens. Im Begleitgesetz haben wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere Beteiligung und unsere Möglichkeiten zur Mitwirkung nicht in vollem Umfange genutzt. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle Nein gesagt und uns bestimmte Aufgaben auferlegt, die wir erfüllen wollen und die wir, wie ich glaube, auch erfüllen können und werden. Deshalb diskutieren wir heute.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie uns hier die Maßstäbe zurechtrücken. Wer heute Zeitung liest, hat manchmal den Eindruck, es gehe allein um die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat und weniger um den großen Erfolg der europäischen Integrationsgeschichte. Dieser Erfolg aber ist gleichzeitig ein Signal des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zum Beispiel Richtung Irland, wo das künftige Referendum, also die zweite Runde, erfolgreich verlaufen soll. Gleichzeitig ist es auch ein Signal an die Präsidenten Kaczynski und Klaus – auch nachdem das tschechische Verfassungsgericht so votiert hat –: Es gibt jetzt keine rechtlichen Hindernisse mehr, die Verfassung in Form des Reformvertrages von Lissabon zu unterzeichnen. Auch das sollten wir heute an dieser Stelle ganz deutlich machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es kommt jetzt sowohl darauf an, was wir diskutieren, als auch darauf, wie wir es diskutieren. Zum Thema, wie wir es diskutieren, ist es aus meiner Sicht besonders wichtig, zu sagen: Nein, die Regierungsfraktionen haben nicht immer nur recht.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])

Nein, die Oppositionsfraktionen haben nicht immer nur unrecht. Nein, das Bundesverfassungsgericht weiß nicht immer alles besser. Auch diese drei Dinge sollten wir in die Diskussion mitnehmen.

Wir wollen jetzt – das ist unser Anspruch, den ich gerne für die SPD-Fraktion zum Ausdruck bringen möchte – zügig, aber solide und gründlich mit allen Fraktionen dieses Hauses zu einer fairen Regelung kommen, die ermöglicht, dass erstens der Deutsche Bundestag das Begleitgesetz noch in dieser Legislaturperiode ändert, dass sich zweitens auch der Bundesrat noch in dieser Legislaturperiode damit befasst und dass drittens die Ratifikationsurkunde bis Anfang Oktober dieses Jahres in Rom hinterlegt wird; das wäre auch mit Blick auf die dann in Irland stattfindende Volksabstimmung ein wichtiges Signal. Ich glaube, darauf sollten wir alle uns hier und heute verständigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Das deutsche Parlament hat eine außergewöhnliche Stärkung seiner Rechte erfahren, nicht nur insofern, als deutlich gemacht wurde, welche Rechte ein Parlament hat, sondern auch, weil deutlich gemacht wurde, welche Rechte sich ein Parlament nehmen – manchmal könnte man auch sagen: was es sich herausnehmen – kann. Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem jeder parlamentarischen Regierungsform – auch der Regierungsform, die wir haben und die wir wollen –: Ein Parlament steht, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen, ein Stück weit im Konflikt mit jedweder Regierung. Ein Parlament hat nämlich immer ein Interesse daran, mehr gestalterische Möglichkeiten zu bekommen – das gilt insbesondere für die europäische Ebene –, während eine Regierung immer darauf bedacht ist, ihre Handlungsmöglichkeiten zu behalten, sodass sie genügend Verhandlungsmöglichkeiten hat. Aus unserer Sicht darf nicht der Eindruck entstehen, dass das Parlament störend ist. Vielmehr ist das Parlament ein wichtiger Faktor der Gestaltung und der Kontrolle der Regierung. Auch das sollten wir heute betonen.

(Beifall bei der SPD)

Wenn wir diese Aussage selbstkritisch hinterfragen – es ist wichtig, selbstkritisch zu sein; denn man kann nur selbstbewusst sein, wenn man auch selbstkritisch ist –, stellen wir fest, dass wir die Arbeitsweise unseres Parlaments in Zukunft ein Stück weit werden ändern müssen. Außerdem muss sich – das Haus ist nicht gerade übervoll – die Mentalität, also die Einstellung zur Debatte über die Europäisierung auch unserer Politik verändern. Das ist nicht nur die Aufgabe der sogenannten Europaspezialisten, sondern auch eine Aufgabe, der wir uns in der Alltagsarbeit in allen 22 Ausschüssen des Deutschen Bundestages stellen müssen. Wir müssen ganz ehrlich zugeben: In diesem Parlament haben wir in dieser Hinsicht noch eine ganze Menge Überzeugungsarbeit zu leisten.

Weil die große Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages europäische Föderalisten sind, erlaube ich mir, an dieser Stelle einen deutlichen Beurteilungsunterschied im Vergleich zur Auffassung des Bundesverfassungsgerichts herauszustellen. Jawohl, das Bundesverfassungsgericht hat den Deutschen Bundestag gestärkt. Es hat aber argumentativ – nicht rechtlich, sondern argumentativ – das Europäische Parlament geschwächt.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie hat es das denn gemacht?)

Die Aussage – so steht es in einem Satz der Begründung des Urteils –, dass der Lissabon-Vertrag im Hinblick auf das Europäische Parlament keinen Zugewinn an Demokratie zur Folge hat

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nicht genügend!)

– „keinen“ steht da, nicht „nicht genügend“, sondern „keinen“ –, ist falsch. Das sollten wir deutlich sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn man das Maastricht-Urteil zur Grundlage nimmt, darf nicht so getan werden, als hätte sich von 1992 bis 2009 nichts geändert. 1992 gab es keine Form von gleichberechtigter Mitentscheidung des Europäischen Parlaments. Durch Lissabon haben wir das in ungefähr 90 Prozent der Fälle. So wie der Lissabon-Vertrag angelegt ist, nämlich auf eine repräsentative Demokratie, ist das Europäische Parlament ein zentraler Ort. Es ist gleichberechtigt mit dem Rat.

Die Begründung, die von Karlsruhe angeführt wurde, lautet: Gesetzgeber ist insbesondere der Rat, die nationalen Parlamente haben eine wichtige Stellung, und das Europäische Parlament tritt hinzu oder hat ein Vetorecht. – Von einem Vetorecht des Parlaments ist in keinem Vertrag die Rede, wohl aber von gleichberechtigter Mitentscheidung. Dies sollten wir unterstreichen.

(Beifall bei der SPD)

Das spielt nicht nur aufgrund der solidarischen Zusammenarbeit mit dem EP, sondern auch in Anbetracht der Tradition unseres Hauses eine wichtige Rolle. Es waren Generationen von Abgeordneten, von 1952 bis 1976, die eine Direktwahl des Europäischen Parlaments eingefordert haben. Die SPD stand hierbei Gott sei Dank immer mit an der Spitze; aber dieses Anliegen wurde auch von allen anderen – von der FDP, von der CDU/CSU und später auch von den Grünen – getragen. Auch um diese Frage geht es heute. Es geht heute nicht nur um eine Stärkung der Rechte von Bundestag und Bundesrat in Europafragen, sondern auch um eine Anerkennung, eine Würdigung, eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments.
Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege Markus Löning.

(Beifall bei der FDP)

Markus Löning (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP-Fraktion begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in seinen verschiedenen Aspekten. Wir begrüßen aber zuallererst, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon für verfassungskonform erklärt hat. Karlsruhe sendet damit ein ganz wichtiges Signal, auch über Deutschland hinaus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir begrüßen auch, dass alle Verfassungsbeschwerden und -klagen zurückgewiesen wurden.

(Dr. Peter Gauweiler [CDU/CSU]: Stimmt doch überhaupt nicht! Ist doch angenommen worden!)

Wir halten es für wichtig, dass in der politischen Argumentation, die sich gegen den Lissabon-Vertrag an sich gerichtet hat, nun die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts angelegt werden. Ich bin sehr gespannt auf die politische Debatte, insbesondere von denjenigen, die gegen den Vertrag an sich argumentiert haben.

(Beifall bei der FDP)

Es wird jetzt darauf ankommen, dass der Deutsche Bundestag ein weiteres Signal für die europäische Integration sendet, und zwar in Richtung Irland. Ich denke, es ist richtig, dass wir das Begleitgesetz noch in dieser Legislaturperiode – wir sollten den 4. Oktober, den Tag der Volksabstimmung in Irland, im Auge haben – überarbeiten, neu schreiben, auf den Stand bringen, den uns das Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat.

An Deutschland wird der Vertrag von Lissabon nicht scheitern. Das ist ein wichtiges Signal, das wir nach Irland senden, aber auch in die Tschechische Republik und nach Polen; gerade für diese beiden Länder spielt ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle.

Das Bundesverfassungsgericht hat uns für die weitere Integration eine Reihe von Leitplanken gegeben. Der eine oder andere hat in der Debatte gesagt: Was wir da bekommen haben, ist ein integrationsfeindliches Urteil. – Ich sehe es anders: Es ist im Gegenteil ein integrationsfreundliches Urteil. Denn Karlsruhe hat sich in der Begründung nicht etwa von Integrationseuphorie, sondern von der Ratio, von der Vernunft, und von demokratischen Grundsätzen leiten lassen.

Das haben gerade wir als FDP oft genug angemahnt. Das Demokratiedefizit in der Europäischen Union kann nicht dadurch geheilt werden, dass dem Europäischen Parlament mehr Rechte gegeben werden. Es muss dadurch geheilt werden, dass der Deutsche Bundestag und die anderen nationalen Parlamente ihre Aufgabe der demokratischen Kontrolle der Gesetzgebung endlich wahrnehmen.

(Beifall bei der FDP)

Was das angeht, kann ich es mir nicht ersparen, die Koalitionsfraktionen noch einmal anzuschauen. Eine ganze Reihe von Entscheidungen, die in den letzten Monaten getroffen worden sind, wären im Lichte dieses Urteils anders ausgefallen. Ich erinnere an die Grundrechteagentur der Europäischen Union, basierend auf Art. 308 EGV: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre es nicht mehr möglich, dass die Regierung so etwas ohne Ansehen der Meinung der breiten Mehrheit des Bundestages durchwinkt.

(Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Debatte über den Vertrag von Lissabon daran erinnern, dass Bundesregierung und Bundestag über das Mandat zur Verhandlung von Vertragsänderungen Einvernehmen herzustellen haben. Nach dieser Entscheidung hätte der Bundestag auch hier ganz anders eingebunden werden müssen. Der Bundestag hätte dem Mandat zustimmen müssen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Hierdurch werden die Fehler, die von der Großen Koalition in dieser Legislaturperiode gemacht worden sind, deutlich aufgezeigt.

(Beifall bei der FDP)

Der Bundestag ist nach diesem Urteil nicht mehr ein Parlament, das das Recht zur Mitwirkung hat, sondern nach diesem Urteil hat der Bundestag die Pflicht zur Mitwirkung. Wir können nicht durch bloßes Zuhören oder durch Weghören Dinge auf europäischer Ebene passieren lassen. Nach diesem Urteil sind wir als Vertreter des deutschen Volkes in der Pflicht, das, was in Brüssel und in den Ministerräten geschieht, rechtzeitig hier im Deutschen Bundestag zu behandeln, und zwar gerade nicht nur – Herr Kollege Schäfer, das haben Sie richtig gesagt – im Europaausschuss. Ganz besonders in den einzelnen Fachausschüssen des Deutschen Bundestages muss der nächste Bundestag mit europäischen Rechtsetzungsakten und damit, was die Bundesregierung in den Räten entscheidet, ganz anders umgehen. Der Bundestag ist hier in der Pflicht, sich frühzeitig zu informieren, frühzeitig Entscheidungen zu treffen und frühzeitig der Regierung einen Auftrag mit auf den Weg zu geben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, dass wir die Auswirkungen des Urteils auf die Verschiebungen zwischen den Verfassungsorganen so kurz nach dem Urteil noch gar nicht richtig überblicken. Es wird zu einer Stärkung gerade derjenigen Abgeordneten führen müssen, die den Koalitionsfraktionen angehören. Es wird gerade bei den Kolleginnen und Kollegen zu einem stärkeren Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen Regierung führen müssen, die in den Koalitionsfraktionen sitzen. Sie müssen hier anders und mit deutlich mehr Selbstbewusstsein auftreten, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.

(Beifall bei der FDP)

Ich wage die Prognose, dass sich das nicht auf die Europapolitik oder auf das, was auf europäischer Ebene passiert, begrenzen lassen wird.

Wir brauchen hier – das werden wir auch bekommen – ein anderes Rollenverständnis des Bundestags im Vergleich zum Verfassungsorgan Bundesregierung. Dieses Rollenverständnis wird sich selbstverständlich auch auf alle anderen Bereiche der Politik ausdehnen – auch auf das Verhältnis zum Europäischen Parlament –, und es wird sich auch auf unser Verhältnis zu anderen nationalen Parlamenten ausdehnen müssen.

Weit über die Kooperationsmöglichkeiten hinaus, die wir jetzt über die COSAC haben, in der die Europaausschüsse miteinander kooperieren, brauchen wir ein Netzwerk der Kooperation zwischen den nationalen Parlamenten.

Wir müssen bei jeder einzelnen Sachfrage in der Lage sein – bei der Kontrolle der Subsidiarität, aber auch bei anderen Sachfragen –, sehr viel schneller zu politischen Vereinbarungen und politischen Abstimmungen mit anderen nationalen Parlamenten zu kommen. Aus meiner Sicht ist die Stärkung des Bundestages und der anderen nationalen Parlamente die eigentliche Stärkung der Demokratie in Europa, die mit diesem Urteil verbunden ist.

Lassen Sie mich zu guter Letzt eines noch anfügen: Die FDP-Fraktion wird sich an der Ausarbeitung eines neuen Begleitgesetzes beteiligen, wie das von den Koalitionsfraktionen angeboten worden ist. Wir werden darauf dringen, dass die BBV in Gesetzesform gegossen wird. Wir sollten hier keinerlei Risiken eingehen, sondern wir sollten uns sehr klar darüber sein, was wir wollen. Wir sollten keine komischen Zwitterpositionen einnehmen, sondern gesetzlich regeln, was gesetzlich zu regeln ist.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN)

Eines sage ich hier aber auch ganz klar: Für unsere Kooperation und unsere Zustimmung am Ende werden wir strengste Maßstäbe an die Inhalte anlegen. Es darf hier nicht versucht werden, weichzuwaschen. Das, was wir heute in den Medien von Vertretern der Bundesregierung teilweise schon vernommen haben, nämlich Versuche, das Urteil herunterzuinterpretieren, ist nicht akzeptabel. Es geht hier um die Rechte des Parlamentes und darum, dass dieses Begleitgesetz verfassungsfest ist. Da wird es keine Kompromissbereitschaft auf unserer Seite geben. Wir brauchen ein klares Begleitgesetz, das unzweideutig verfassungsfest ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Zu guter Letzt wiederhole ich das, was ich an dieser Stelle schon oft gesagt habe: Die beste gesetzliche Regelung wird nicht helfen, wenn der politische Wille, sie zu nutzen, nicht da ist. Man muss mehr Demokratie auch wollen, und man muss mehr Demokratie auch wagen. Die eigentliche Aufgabe und Herausforderung für dieses Haus besteht aus meiner Sicht darin, eine Änderung des Selbstverständnisses zu finden und mehr Demokratie zu wagen, auch was Europa angeht.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Stübgen (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthält für die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag und den Bundesrat zwei zentrale Botschaften.

Erstens. Das Grundgesetz – das kann man gar nicht oft genug wiederholen – sagt Ja zum Vertrag von Lissabon. Mit dieser sehr klaren Aussage des Vorsitzenden Richters des Zweiten Senates, Professor Dr. Voßkuhle, werden die Anträge der Kläger im Organstreitverfahren verworfen und zurückgewiesen, ebenso die Verfassungsbeschwerden, soweit sie das Ratifikationsgesetz und die Grundgesetzänderung betreffen.

Der Vertrag von Lissabon verstößt nicht gegen das Grundgesetz; er führt nicht zu einer Entstaatlichung der Bundesrepublik Deutschland; Art. 20 des Grundgesetzes, in dem die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer und sozialer Bundesstaat definiert wird, ist nicht verletzt; auch die Entscheidungshoheit des Deutschen Bundestages beim Einsatz der Streitkräfte wird durch die Bestimmungen des Vertrages von Lissabon nicht ausgehöhlt – um die wesentlichen Klageinhalte zu wiederholen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit die Verfassungsbeschwerden der Kläger in ihren zentralen Punkten als unbegründet zurückgewiesen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die zweite zentrale Botschaft lautet: Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat müssen mit den ihnen nach dem Grundgesetz zustehenden Ausgestaltungsmöglichkeiten bei der Umsetzung des Vertrages im innerstaatlichen Recht selbstbewusster umgehen und ihre Beteiligungsrechte aktiver und umfassender wahrnehmen.

In dem 147 Seiten umfassenden Urteil erläutert das Gericht auf den letzten Seiten sehr genau, welche Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates nicht in dem erforderlichen Umfang ausgestaltet worden sind. Gemeint sind in dem Kontext nicht nur die vereinfachten Verfahren zur Änderung der EU-Verträge, die nach der Auffassung des Verfassungsgerichts ein aktives Handeln des Deutschen Bundestages erfordern und einer ordentlichen Vertragsänderung im Wege eines Ratifikationsverfahrens gleichkommen müssen. Gemeint sind auch diejenigen Politikbereiche, die sich in einem dynamischen europäischen Prozess weiterentwickeln, ohne dass bereits heute ausreichend erkennbar wäre, in welche Richtung der Weg geht. Dies betrifft zum Beispiel die Entwicklungsklauseln im europäischen Strafrecht. Bei der Weiterentwicklung des EU-Primärrechts darf es keine Lücken in der demokratischen Legitimation geben.

Dies würde auch dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zuwiderlaufen. Der Deutsche Bundestag muss also das Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon ändern, bevor die Ratifikationsurkunde in Rom hinterlegt werden kann. Die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD haben hierfür bereits einen Fahrplan beschlossen, der sicherstellt, dass die erforderlichen Änderungen nach der Maßgabe der Entscheidung des Verfassungsgerichts noch vor der Bundestagswahl ins Gesetz geschrieben werden. Wir drängen in dieser Frage auf Eile, nicht nur deshalb, weil wir davon überzeugt sind, dass der Vertrag von Lissabon für die weitere Gestaltung der Europäischen Union absolut notwendig ist.

Wir drängen auch auf Eile, weil wir eine europäische Mitverantwortung für die rechtzeitige Inkraftsetzung des Vertrages von Lissabon in der Europäischen Union tragen und vom Verhalten des Deutschen Bundestages und des Bundesrates eine Signalwirkung für die noch ausstehenden Unterschriften unter das Ratifikationsgesetz in Polen, Tschechien und Irland ausgeht. Wir werden diese Verantwortung wahrnehmen, ohne dass wir dabei die notwendige Sorgfalt außer Acht lassen.

Wer das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Ganzen liest, kommt zu dem Ergebnis, dass der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber gestärkt aus dem Verfahren herausgekommen ist, nicht zuletzt deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht Nachbesserungen beim Begleitgesetz verlangt hat, mit denen eine aktive Beteiligung des Bundestages in allen europapolitischen Fragen verlangt wird, besonders aber bei jenen Fragen, bei denen der Integrationsweg nicht hinreichend bestimmt ist.

Es reicht nicht, wenn der Bundestag Vertragsänderungen stillschweigend passieren lässt. Er ist durch das Grundgesetz zur aktiven Verantwortungswahrnehmung verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht stärkt den Deutschen Bundestag auch im Verhältnis zur Bundesregierung. Wir haben uns in den vergangenen Jahren bei der Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten auf die Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung stützen können und erst vor wenigen Wochen einen Antrag dazu im Deutschen Bundestag verabschiedet, in dem Meinungsverschiedenheiten und Auslegungsdefizite ausgeräumt werden sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat gestern klargestellt, dass dieser Vertrag mit der Bundesregierung schon wegen seiner unklaren Rechtsnatur für die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte nach dem Grundgesetz nicht ausreicht. Wir werden deshalb nicht umhinkommen, wesentliche Elemente aus der Vereinbarung in das Gesetz hineinzuschreiben, zum Beispiel die notwendige Herstellung des Einvernehmens vor der Aufnahme neuer Mitglieder bzw. dem Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen oder vor der Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen. Im Duktus des Urteils sind dies wesentliche EU-Entscheidungen bzw. EU-Rechtsetzungsakte. Diese bedürfen eines Zustimmungsvorbehaltes durch den Deutschen Bundestag und – soweit betroffen – auch vom Bundesrat.

Wir werden uns sehr eng an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts halten.

Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung in eigener Sache. Die Zusammenarbeitsvereinbarung besteht seit über zwei Jahren. Wir haben gerade vor wenigen Wochen eine Debatte darüber geführt. Aber gerade das Verfahren zum zweiten Monitoring-Bericht dieser Vereinbarung und das Ergebnis zum Beispiel des Briefes der beiden Parlamentarischen Staatssekretäre an den Ausschussvorsitzenden haben in mir schon damals die Überzeugung wachsen lassen, dass es grundsätzlich besser wäre – wie es das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden hat –, die grundlegenden Normen der Zusammenarbeitsvereinbarung in einem Gesetz zu regeln. Diesen Auftrag haben wir jetzt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass ungeachtet der Stärkung der nationalen Parlamente im Vertrag von Lissabon die Europäische Union zu ihrer Legitimation weiterhin auf die Rückkopplung mit den nationalen Parlamenten angewiesen ist. Der supranationale Charakter der Europäischen Union hat nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine staatliche Identität. Er wird sie auch in Zukunft nicht bekommen, es sei denn – das ergibt sich aus dem Urteil –, dass unsere Nachfolger im Sinne des Art. 146 des Grundgesetzes einen echten europäischen Bundesstaat gründen wollen, und zwar mit einem Referendum über eine echte europäische Verfassung. Ich denke aber, diese Fragen können wir getrost unseren nachfolgenden Generationen überlassen.

Die gestrige Entscheidung definiert eine Grenze der europäischen Integration nach dem jetzigen Staatenbundmodell, die gerade von uns als Bundestag bei der weiteren Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union beachtet werden muss.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Vertrag von Lissabon nachhaltig unterstützt und alles daransetzen wird, dass er so früh wie möglich in Kraft gesetzt werden kann. Der Vertrag von Lissabon erweitert die Zuständigkeiten der Europäischen Union; er macht die Europäische Union jedoch zugleich demokratischer, indem er die Mitentscheidung des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente verbessert und diesen zum Beispiel ein Klagerecht gegenüber dem Europäischen Gerichtshof gegen Gesetzgebungsakte einräumt, die nach ihrer Auffassung gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen.

Auch andere institutionelle Neuerungen – zum Beispiel die Abschaffung der Rotation bei der EU-Ratspräsidentschaft und die Zusammenführung des Amtes des Hohen Beauftragten mit dem des EU-Außenkommissars – sind aus unserer Sicht notwendig und stärken die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in ihren auswärtigen Beziehungen. Europa soll künftig seine Interessen noch wirkungsvoller vertreten können. Dass dies notwendig ist, zeigt sich beispielhaft an den Themen weltweiter Klimaschutz und Bewältigung der globalen Finanzkrise. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung kein Urteil gegen die europäische Integration gefällt. Ganz im Gegenteil: Es hat auf die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes hingewiesen und die Notwendigkeit unterstrichen, dass die Legimitation europäischen Handelns vor allem von den Nationalstaaten ausgehen muss. Sie bleiben die Herren der europäischen Verträge. Die Europäische Union hat eben keine Kompetenzkompetenz. Diese darf ihr nach dem Grundgesetz auch nicht übertragen werden. Natürlich ist die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft. Aber sie kann vollen demokratischen Standards nur zusammen mit dem Grundgesetz genügen.

Wir haben in den nächsten Wochen eine ganze Menge zu tun. Wir alle wissen, was wir wollen und was möglich ist; denn wir alle haben darüber in den letzten Jahren diskutiert. Deswegen habe ich die große Hoffnung, dass wir es schaffen, mit großer Mehrheit das Begleitgesetz demokratischer zu machen – wie es das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat – und es noch im September abzuschließen. Ich hoffe, dass der Bundesrat – die Zusammenarbeit mit ihm wird von besonderer Bedeutung sein – diesen Weg mitgeht und wir noch vor dem Referendum in Irland am 4. Oktober unsere Urkunde in Rom zur Ratifikation des Lissabon-Vertrages hinterlegen werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, die wenigsten haben über Nacht die 147 Seiten des Urteils gelesen. Wer nicht dabei war und nicht zugehört hat und trotzdem so redet, als ob er es wirklich gelesen hätte, sagt deshalb falsche Sätze, zum Beispiel den Satz, es sei wunderbar, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon als grundgesetzgemäß angesehen habe. Dazu muss man zwei Dinge sagen: Erstens. Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht einen internationalen Vertrag für grundgesetzwidrig erklärt.

(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])

– Herr Trittin, warten Sie! Zu Ihnen komme ich noch. Sie haben schon während der Verkündung alles besser gewusst. Die Richter hatten es noch nicht vorgelesen, da waren Sie schon wieder oberschlau, lieber Herr Trittin. Das habe ich mitbekommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Entscheidend ist, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts den Lissabon-Vertrag völlig neu interpretiert haben

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

und mit ihrer Interpretation Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung gebunden haben. Dadurch hat der Vertrag zum Teil einen neuen Inhalt. Lassen Sie mich zwei Sachen herausgreifen. Zum Beispiel bleibt die Bundeswehr eine Parlamentsarmee.

(Zuruf von der SPD)

– Entschuldigung, im Vertrag ist es anders geregelt.

(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Wo steht das?)

– Das kann ich Ihnen sagen: im Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Aber das haben Sie nicht gelesen. Dort steht, dass man die Bestimmung auch so verstehen könne, dass man das aber für Deutschland anders interpretiere; das gehe nur, wenn der Bundestag zuvor zugestimmt habe.

< (Beifall bei der LINKEN)

Dort steht ebenfalls, dass man die Bestimmung zur Sozialstaatlichkeit zwar auch so verstehen könne, dass es aber für die Bundesrepublik Deutschland nur eine Interpretation gebe; sie müsse in der Zuständigkeit dieses Parlaments bleiben. Das alles wollen Sie nicht zur Kenntnis nehmen. Der Lissabon-Vertrag ist durch Interpretation des Bundesverfassungsgerichts deutlich verändert. Das ist Tatsache.

(Beifall bei der LINKEN – Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Das finden Sie wohl amüsant. Aber das ist gar nicht amüsant. Das hat das Bundesverfassungsgericht übrigens schon oft gemacht, Herr Trittin. Zum Beispiel wurde die Organklage im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR abgewiesen. Aber Bayern hat das als Erfolg gefeiert, weil die Interpretation des Vertrages völlig anders war als zuvor. Auch das haben Sie nicht mitbekommen.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war damals eine Niederlage für Bayern!)

Nun gebe ich Ihnen einen Beweis. Wissen Sie, wie der vorletzte Satz des Urteils lautet? Dort steht: Mit Rücksicht darauf, dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon – Sie sind stolz darauf, dass die Beschwerde dagegen abgewiesen wurde – nur nach Maßgabe der Gründe dieser Entscheidung mit dem Grundgesetz vereinbar und die Begleitgesetzgebung teilweise verfassungswidrig ist, wurden Bundestag und Bundesregierung verpflichtet, uns ein Drittel der Kosten zu erstatten; das haben Sie völlig übersehen. Ich finde das völlig richtig.

(Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das heißt, dass Sie auf zwei Dritteln der Kosten sitzen bleiben!)

Ein weiterer Hinweis: Das 147 Seiten umfassende Urteil ist von grundlegender Bedeutung; denn die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben Stellung zur Europäischen Union, zum europäischen Recht, zum Europäischen Gerichtshof, zu Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung sowie übrigens auch zu den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts genommen. Selten ist in einem Urteil so häufig zu diesen Kompetenzen Stellung genommen worden wie in diesem. Ich glaube, dass wir alle das Urteil noch sehr gründlich studieren und auswerten müssen, weil es von großer Relevanz für unsere künftige Politik ist. Es hat eine Sache festgestellt, die Sie auch nicht gesagt haben, nämlich dass die 27 souveränen Staaten Verträge schließen dürfen, die aber nicht so verwirklicht werden dürfen, „dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum“ – alles wörtlich – „zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt“. Das ist ein ganz wichtiger Grundsatz, der hier aufgestellt wird. Ich komme zu einer weiteren Sache, nämlich dass das Begleitgesetz für grundgesetzwidrig erklärt worden ist.

(Zuruf von der SPD: Teilweise!)

Was mich schon erstaunt – auch bei Ihnen, Herr Trittin, bei Ihnen allen –, ist, dass keiner von Ihren Fraktionen auch nur einen selbstkritischen Satz sagt, zum Beispiel: Ja, wir haben etwas Grundgesetzwidriges beschlossen. –

(Zuruf von der SPD: Doch, haben Sie nicht zugehört, Herr Gysi?)

Das hat keiner von Ihnen gesagt. Das ist das Mindeste, was ich hier erwartet hätte.

(Beifall bei der LINKEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sie haben mir nicht zugehört! Schade, schade!)

– Ich wusste, dass Sie sich gleich aufregen, aber wahr ist es trotzdem. Das hat nun einmal das Bundesverfassungsgericht festgestellt. –

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gysi, Sie haben zu zwei Dritteln verloren!)

Das Nächste ist: Was hat das Bundesverfassungsgericht entschieden? Es hat erstens Europa in den Bundestag geholt. Das ist wichtig. Es stimmt, was gesagt wurde: Wir müssen über neue Bedingungen nachdenken. Das ist wahr. Es wird übrigens auch höchste Zeit, wenn wir die Akzeptanz der Europäischen Union in der Bevölkerung erhöhen wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens hat es das Verhältnis von Legislative und Exekutive geklärt. Jetzt sage ich es Ihnen einmal ganz deutlich: Es wird keine Änderung des Vertrages, wie Sie es wollten – alle vier Fraktionen wollten das –, ohne Zustimmung des Bundestages geben. Das hat das Bundesverfassungsgericht festgelegt. Sie wollten, dass Brüssel ohne Zustimmung des Bundestages Strafrechtsnormen beschließen kann. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass genau das nicht gehen wird.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat es immer noch nicht verstanden!)

Sie haben keine Rechte des Bundestages und keine Rechte des Bundesrates im Begleitgesetz festgelegt. Genau deshalb ist es für grundgesetzwidrig erklärt worden. Das ginge doch auch nicht. Es geht doch nicht, dass sich Brüssel überlegt, was hier eine Straftat sein könnte, und der Bundestag noch nicht einmal darüber mitentscheidet. Sie können doch einmal selbstkritisch sagen, dass Sie die Rechte des Bundestags in dieser Hinsicht verletzt haben.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Es ist Quatsch, was Sie da sagen!)

Es wird auch keine wichtigen zivil- und familienrechtlichen Vorschriften aus Brüssel ohne vorhergehende Zustimmung des Parlaments geben.

Nun müssen wir also ein neues Begleitgesetz schaffen. Wir werden dabei zusammenarbeiten. Ich stimme dem Vertreter der FDP zu: Auch mit uns wird es kein Gesetz geben, das versucht, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen. Aber das ist nicht das Einzige. Das Bundesverfassungsgericht hat noch etwas anderes vorgeschlagen, und ich bitte Sie, das gründlich zu lesen. Es gibt Fälle, in denen die Europäische Union kompetenzüberschreitend oder identitätsverletzend wirkt.

Es wurde vorgeschlagen, über ein neues Verfahren nachzudenken, wie man diesbezüglich eine Feststellung des Bundesverfassungsgerichts einholen kann. Das verlangt eine Änderung des Grundgesetzes. Ich bitte Sie, diese Stelle genau zu lesen und uns dann in dem Gremium gleichzeitig beraten zu lassen, ob wir dieses Gesetz nicht einbringen, das Grundgesetz ändern und die Möglichkeiten des Weges zum Bundesverfassungsgericht erweitern.

Letztlich kommen Sie um eines nicht herum – Sie können hier alle reden, was Sie wollen –:

(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das hat was mit Freiheit zu tun!)

Durch Gauweiler, durch Graf Stauffenberg und durch die Fraktion Die Linke sind die Rechte des Bundestages und des Bundesrates gestärkt worden.

(Beifall bei der LINKEN – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Auf diesen Satz haben wir gewartet!)

Sie hätten sie geschwächt. Ein Satz von Ihnen hätte fallen müssen: Danke, Graf Stauffenberg, danke, Herr Gauweiler, danke, Fraktion Die Linke. –
Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Rainder Steenblock das Wort.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern war ein wichtiger, ein großer Tag für die Demokratie, für die Demokratie in Deutschland und für die Demokratie in Europa. Dieses Ereignis wird uns – da haben alle recht – noch sehr lange beschäftigen: die Menschen, die ihre Hoffnungen auf Europa setzen, und uns, die wir das vermitteln müssen und die in den Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes treten müssen, um Europa dichter an die Menschen zu bringen.

Lieber Kollege Gysi, die Menschen in diesem Lande ärgert immer besonders, dass sich nach Wahlen alle zum Sieger erklären, selbst die Verlierer; auch ich finde das äußerst ärgerlich, selbst wenn es Vertreter meiner Partei machen. Ich meine, es ist für die politische Kultur ausgesprochen wichtig, dass diejenigen, die aus einem Entscheidungsprozess als Verlierer hervorgegangen sind, ihre Niederlage akzeptieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

In den letzten Monaten hat mich wirklich begeistert, wie die politische Figur John McCain seine Niederlage gegen Barack Obama akzeptiert hat; wie er darauf reagiert hat, war für mich vorbildlich. Die Größe von Politikern und Parteien zeigt sich nicht beim Feiern von Erfolgen, sondern insbesondere in der Niederlage. Was Sie allerdings an den Tag legen, das ist bitter.

Herr Gysi, Sie haben recht – ich bin an dieser Stelle völlig bei Ihnen –: Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist für die Demokratie in Deutschland ein großer Erfolg. Das, was Sie mit dieser Klage erreichen wollten, ist aber etwas völlig anderes als das, was das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Sie sind jahrelang durch dieses Land gezogen und haben den Vertrag von Lissabon schlechtgeredet.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Warum denn? – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Das wissen wir auch nicht!)

Das war sozusagen der Kernpunkt Ihrer Klage, also das, worauf Sie hingesteuert haben. Sie sind grandios gescheitert!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

All Ihre Kritik am Vertrag ist vom Verfassungsgericht zurückgewiesen worden.

Lieber Kollege Gysi, lassen Sie uns das, was Sie verbockt haben, nicht schönreden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zusammen mit dem Kollegen Gauweiler haben Sie uns die Chance gegeben, die Demokratie in Deutschland weiterzuentwickeln. Das ist gut so, und das unterstützen wir. Ihr Tun sollte sich nicht darin erschöpfen, hier den Vertrag von Lissabon zu kritisieren. Wir, der Deutsche Bundestag und damit die Volksvertretung, also die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sind diejenigen, die durch dieses Urteil neue Kraft bekommen haben. Wir haben neue Kompetenzen bekommen, und – Markus Löning hat darauf hingewiesen – diese Kompetenzen müssen wir auch nutzen. Das ist unsere große Chance.

Daraus ergibt sich eine Reihe von zusätzlichen Fragen, die wir klären müssen. Eine zentrale Frage ist, wie die Verfassungsorgane in dieser Republik zueinander stehen. Eine Antwort, die wir bekommen haben, betrifft das Verhältnis von Bundesregierung und Parlament. Dieses Verhältnis wird sich ändern, und das wird erhebliche Konsequenzen haben.

Ich finde, der Bundesinnenminister hat heute eine schlechte Erklärung abgegeben, als er gesagt hat: Eigentlich wird sich gar nichts ändern; es müssen lediglich einige Änderungen an den Gesetzesformulierungen vorgenommen werden. Das ist falsch: Wenn wir dieses Urteil ernst nehmen, wird sich in diesem Hause viel ändern. Wir alle, die Parlamentarier, werden mehr Verantwortung bekommen. Diese Verantwortung müssen wir annehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist wichtig.

Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn wir in Zukunft das Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander neu gestalten, geht es auch darum, die Rolle des Verfassungsgerichtes neu zu gestalten. Das Urteil des Verfassungsgerichtes enthält auch darauf Hinweise; ich verweise auf bestimmte Fragestellungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH. Dieses Thema wird Sie in der nächsten Legislaturperiode beschäftigen müssen; ich werde dem Parlament leider nicht mehr angehören.

(Beifall des Abg. Dr. Peter Gauweiler [CDU/ CSU] – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das bedauere ich auch!)

– Das ist kein Grund zum Klatschen.

(Heiterkeit)

Ich selber habe mich dazu entschieden; das ist auch gut so.

Gerade was die europapolitischen Fragen angeht, wird es nicht nur eine Herausforderung sein, den Prozess europäischer Gesetzgebung zu begleiten, sondern auch, im Parlament selber entsprechende Arbeitsstrukturen zu entwickeln; das ist nicht einfach. Darüber hinaus wird es Arbeitsstrukturen auf europäischer Ebene – Stichwort „Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten“ – geben müssen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt sehr deutlich, dass die nationalen Staaten den Staatenverbund Europa gestalten. Das ist eine integrationsfreundliche Gestaltung. Das Verfassungsgericht hat noch einmal sehr klar gesagt: Dieses Grundgesetz will – erlaubt also nicht nur – die europäische Integration im Staatenverbund.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist wichtig. Das ist eine ganz deutliche Ansage in Richtung der Nationalisten, von welcher Seite auch immer sie kommen.

Wir wollen als deutsche Bundesrepublik mit dem Grundgesetz die europäische Integration. – Das ist ein sehr wichtiger Satz in dem Urteil.

Deshalb müssen wir die Nationalstaaten in die Lage versetzen, zu kooperieren. Ich will jetzt gar nicht die Debatte um die zweite Kammer noch einmal aufmachen, aber: Wir müssen als Parlamentarier solche Strukturen schaffen, dass wir nicht nur unsere Regierungen kontrollieren, sondern auch diesen europäischen Prozess auf der Ebene der europäischen Parlamente miteinander besser diskutieren können – die COSAC ist dazu nach meiner Kenntnis nicht in der Lage –; das steht an.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Natürlich müssen wir auch mit den Parlamentariern aus dem Europäischen Parlament – Axel Schäfer hat darauf hingewiesen – anders und besser zusammenarbeiten. Ich interpretiere das Urteil nicht als Schwächung der europäischen Parlamentarier, sondern als Stärkung der nationalen Parlamentarier. Auch die europäischen Parlamentarier sind gut beraten, glaube ich, von ihrer Seite aus aktives Engagement in diese Kooperation mit den nationalen Parlamenten zu investieren.

In fast allen europäischen Ländern gibt es zum Teil Unverständnis, Misstrauen in europäische Entscheidungsstrukturen. Als Parlamentarier, als diejenigen, die auf nationaler Ebene vom Volk oder auf europäischer Ebene gewählt worden sind, müssen wir die Verantwortung annehmen, das heißt kooperieren. Es geht nicht an, dass jeder in seinem eigenen Pott oder in seiner eigenen Partei rührt; wir müssen zusammenarbeiten.

Zum Schluss möchte ich gern noch Folgendes ansprechen: Wir werden diesen Prozess nur dann hinbekommen, wenn wir unsere Rolle als Parlamentarier tatsächlich mit mehr Rückgrat spielen, als wir das bisher gemacht haben; das meine ich jetzt nicht als individuellen, persönlichen Vorwurf.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Hört! Hört!)

Wir haben in diesem Land eine politische Kultur, die eher auf Parlamentarier-Bashing ausgerichtet ist. Wir arbeiten für das Volk, weil wir vom Volk gewählt sind und die Verantwortung annehmen. Natürlich sind auch wir mit Fehlern behaftet, wie alle. Aber wenn ich an all die Debatten denke, in denen es um die Bezahlung der Politiker, um die Ausstattung der Politiker, um die Reisen der Politiker geht, komme ich zu dem Schluss: Wir müssen sehr selbstbewusst sagen: Wir arbeiten. Wir können die Regierung kontrollieren. Wir können die Entscheidung auf europäischer Ebene mitgestalten; das kommt jetzt dazu. Dahinter stehen muss das Selbstbewusstsein, zu sagen: Wir stehen hier als diejenigen, die gewählt worden sind – mit Rechten und Pflichten. Wenn das in populistischer Manier kleingeredet wird, sollten wir das parteiübergreifend bekämpfen; denn wir sind diejenigen, die das Mandat haben, über dieses Land zu entscheiden.
Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollege Steenblock, die Wünsche des gesamten Hauses, denke ich, begleiten Sie in Ihren neuen Lebensabschnitt.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Es wird trotzdem nicht seine letzte Rede gewesen sein!)

Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Michael Roth (Heringen) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist dem Vertrag von Lissabon in den vergangenen Monaten und Jahren nicht alles entgegengeschleudert worden? Hydra! Camouflage! Marktradikales Monster! – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt eindeutig: Er ist weder ein asoziales Subjekt noch ein militaristischer Moloch.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael Stübgen [CDU/CSU])

Ich erlaube mir, aus dem Urteil zu zitieren:

Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte besteht auch nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort. Der Vertrag von Lissabon überträgt der Europäischen Union keine Zuständigkeit, auf die Streitkräfte der Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des jeweils betroffenen Mitgliedstaates oder seines Parlaments zurückzugreifen.

Außerdem heißt es darin:

Der Vertrag von Lissabon beschränkt die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages nicht in einem solchen Umfang, dass das Sozialstaatsprinzip ... in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit notwendige demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindert wären.

Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieses Urteil eine Ermutigung für alle Europapolitikerinnen und Europapolitiker in den Fraktionen, die sich tagtäglich darum bemühen, dieses europäische Einigungswerk demokratischer, transparenter und handlungsfähiger zu gestalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Es ist aber auch ein Weckruf für alle anderen Abgeordneten, auch hier in diesem Hause, die sich mitunter etwas arrogant oder desinteressiert über diejenigen äußern, die im Europaausschuss sitzen und tagtäglich versuchen, ihre Arbeit zu leisten – nicht um ihrer selbst willen, sondern damit dieses Integrationsprojekt auch weiterhin in eine gute Zukunft geführt werden kann. Es ist, liebe Mitglieder der Bundesregierung, natürlich auch ein Stoppsignal für alle Exekutiven, sei es in Brüssel, sei es in Berlin, die der Auffassung sind, dass der Parlamentarismus bzw. seine Stärkung Sand im Getriebe des europäischen Räderwerks sind. Auch das muss man so klar und deutlich benennen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dennoch hat mich das Urteil – das sage ich unumwunden – enttäuscht. Ich frage mich, ob der Deutsche Bundestag die Rolle eines Europaparlamentes zu übernehmen in der Lage ist, wie wir es heute in der Überschrift einer respektablen Zeitung haben lesen dürfen. Wir alle wissen – das ist jetzt auch schon mehrfach gesagt worden –: Allein die Änderung des Begleitgesetzes, auch wenn alle Fraktionen daran mitwirken sollen, müssen und dürfen, reicht nicht aus.

Ich befürchte auch, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode nicht alle Fragen, deren Beantwortung uns das Verfassungsgericht aufgetragen hat, klären können. Deswegen erwarte ich von uns allen, ob wir diesem Parlament dann noch angehören oder nicht, dass wir die Inhalte dieses Urteils auch als Arbeitsauftrag für die nächste Legislaturperiode verstehen und dann grundsätzlicher, in aller Ruhe und Sorgfalt noch einmal darüber nachdenken, was das für den Europaausschuss heißt, was das für die Zusammenarbeit der Fachausschüsse heißt, was das im Einzelnen für die Fraktionen heißt und was das für die Zusammenarbeit zwischen den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages heißt. Ich meine, hier sind keine Schnellschüsse gefragt.

Wir müssen aber anerkennen – das hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben –: Europa ist Innenpolitik. Heribert Prantl hat heute so schön geschrieben – wir haben uns hier im Plenum und im Ausschuss so oft darüber beklagt, dass dies nicht geschieht –:

Europa muss... ins Deutsche übersetzt werden.

Ich meine, das gilt auch im übertragenen Sinne. Wir müssen es den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Wir müssen auf die Defizite, aber gleichzeitig auch auf die Chancen hinweisen. Hier setzt meine Kritik am Urteil des Bundesverfassungsgerichtes an.

Es ist selbstverständlich, dass für das Bundesverfassungsgericht das Konzept der nationalen Souveränität verpflichtend ist. Ich frage mich aber, ob sich so im 21. Jahrhundert die Globalisierung politisch gestalten lässt. Wir reden tagtäglich über den Klimaschutz. Wir reden darüber, dass die Welt friedlicher werden soll. Können wir das wirklich allein nationalstaatlich regeln? Die überwiegende Mehrheit von uns wollte die Möglichkeiten zu Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene ausweiten, weil wir uns ein handlungsfähiges Europa gewünscht haben, das sich nicht klein macht, sondern sich seiner internationalen Verantwortung bewusst ist und auch diese Verantwortung übernehmen kann. Dafür braucht es aber auch eine entsprechende Entscheidungsfähigkeit, die ich derzeit noch nicht zu sehen vermag.

Für mich galt immer ein Satz: Die Europäische Union ist selbstverständlich eine Union von Staaten, sie ist aber auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Dies hat sich ja bei den Direktwahlen zum Europäischen Parlament immer wieder manifestiert.

Das Bundesverfassungsgericht bemisst die Frage, wie die Zukunft Europas gestaltet werden soll, allein am Maßstab des Grundgesetzes. Dazu ist es verpflichtet. Wir alle wissen aber auch, dass jeder Vertrag von den 27 nationalen Kulturen und Traditionen jedes Mitgliedstaates geprägt ist und in einem überwölbenden Kompromiss zustande gebracht werden muss. Deswegen weiß natürlich jeder Europapolitiker zuallererst und zuvörderst: Es ist immer ein wenig Demut, Toleranz und Respekt gegenüber den 26 anderen Partnern – möglicherweise werden es, wie einige hoffen, noch mehr – in der Europäischen Union nötig.

Ich frage mich: Wie kann man das alles unter einen Hut bringen? Das Bundesverfassungsgericht bleibt ein wichtiger Akteur. Aber es kann uns nicht alles im Kleinen vorgeben. Vielmehr müssen wir als Parlament diese Aufgaben selbstbewusst wahrnehmen und dürfen uns dabei nicht alles vorschreiben lassen.

(Beifall bei der SPD)

Ja, das ist eine Stärkung der Demokratie auf nationaler Ebene. Ich finde es schade, dass Rainder Steenblock, der sich diesbezüglich immer durch Kompetenz und Engagement ausgezeichnet hat, im nächsten Bundestag nicht mehr dabei sein wird. Kolleginnen und Kollegen wie ihn brauchen wir in den nächsten Legislaturperioden noch viel mehr, als es in den vergangenen Jahren der Fall war. Es ist schade, dass Kolleginnen und Kollegen, die sich der europäischen Idee verpflichtet fühlen, in der nächsten Legislaturperiode nicht mehr dabei sein werden. Dazu, wie wir die Demokratiedefizite auf der EUEbene beheben können, sagt das Bundesverfassungsgericht nichts. Ich habe meine Zweifel, ob die Frage allein damit beantwortet ist, dass wir das Europäische Parlament schlechter reden, als es aus meiner ganz persönlichen Sicht realiter ist.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr!)

Bei allem Respekt sind weder Herr Gauweiler noch die Fraktion Die Linke die Helden des gestrigen Tages. Die Helden sind für mich die Europapolitikerinnen und Europapolitiker des Alltags, die sich tagtäglich darum bemühen, europapolitischen Themen Aufmerksamkeit zu verschaffen, die der Regierung Beine machen, die sich selbstbewusst in das komplizierte und komplexe europäische Räderwerk einbringen und damit die demokratische Legitimation des europäischen Gesetzgebungsprozesses stärken. Ich wünsche mir viel mehr solcher Kolleginnen und Kollegen im nächsten Deutschen Bundestag. Dann könnte manches gelingen, was uns das Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht zutraut.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler aus der Unionsfraktion.

Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Steenblock hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die heutige Debatte an einen Wahlabend erinnert, an dem es lauter Sieger gibt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht gestern entschieden hat, dass der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung mir nicht 30 Prozent, sondern 50 Prozent meiner Kosten erstatten müssen, fühle ich mich zur Hälfte als Sieger. Die andere Hälfte als Verlierer nehme ich gerne in Kauf, weil es sich um ein sehr gutes Urteil handelt, das da erstritten worden ist.

Ich möchte Ihnen zunächst ein paar Punkte zu dem Vorwurf vortragen, dass das Europaparlament schlechtgeredet worden ist. Das ist nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum Europaparlament überhaupt nicht politisch geäußert. Es hat rechtlich festgestellt, dass das Europaparlament nicht gleichheitsgerecht gewählt ist.

(Zurufe von der LINKEN: So ist es!)

Es hat weiter erklärt, dass es deshalb nicht geeignet ist, politische Leitentscheidungen zu treffen, die in einer Demokratie repräsentativ und zurechenbar sein müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit gleichzeitig Ihre Kompetenzen gestärkt, meine Damen und Herren. Das sollte einen Bundestagsabgeordneten ermuntern, statt ihm Anlass zur Kritik zu geben.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte Ihnen sieben Punkte darstellen, die mir im Hinblick auf das Urteil wesentlich erscheinen. Erstens. Das Bundesverfassungsgericht stellt ausdrücklich klar, dass das Prinzip der souveränen Staatlichkeit eine Schranke der Integrationsermächtigung ist.

(Zuruf von der LINKEN: So ist es!)

Die Bundesregierung und der Bundestag haben dies in ihren Schriftsätzen ausdrücklich bestritten. Insofern führt das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu einer Klärung dieser verfassungsrechtlichen Streitfrage.

Zweitens. Einer der wesentlichen Streitpunkte war die Frage – das wissen Sie, Herr Schäfer –, ob es richtig ist, dass im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren bei Anwendung der sogenannten Brückenklauseln eine Vielzahl von Bestimmungen der EU-Verträge ohne Befassung des Bundestages und der anderen nationalen Parlamente geändert werden kann. Das ist von anderer Seite als „Selbstkastrierung des Parlaments“ bezeichnet worden. Diese Selbstkastrierung des Parlaments ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verhindert worden, weil das von diesem Hause mit riesiger Mehrheit beschlossene Begleitgesetz in wesentlichen Punkten geändert und unter vielen Aspekten ergänzt werden muss, um den Anforderungen des Grundgesetzes bei der Anwendung des Vertrags Geltung zu verschaffen.

Der dritte Punkt. Die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV – auch das war ein Einwand der Kritiker – birgt die Gefahr in sich, dass die EU die Kompetenzkompetenz für die Gesetzgebungszuständigkeit und damit letzten Endes faktisch die Souveränität von unserem eigenen Souverän an sich zieht. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich bestätigt, dass diese Bedenken zu Recht bestehen. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Sie darüber hinwegreden können.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] und Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Es verlangt deshalb, dass die Inanspruchnahme dieser Klausel – und zwar entgegen den Regelungen des Vertrags, nach denen die Zustimmung der nationalen Parlamente nicht nötig ist – in Deutschland der Ratifikation durch Bundestag und Bundesrat bedarf. Das ist ein gewaltiger Sieg. Damit ist das, was Sie hier beschlossen haben, ins Gegenteil verkehrt worden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Viertens. Das Bundesverfassungsgericht hat – das stimmt; da haben Sie recht – zwar das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon als verfassungsmäßig angesehen, allerdings ausdrücklich – darauf haben Sie schon hingewiesen – nur nach Maßgabe der vom Gericht formulierten Entscheidungsgründe. Das Gericht hat an vielen Stellen zu jedem Vertragspassus – das zieht sich durch das ganze Urteil – einschränkende Interpretationen vorgenommen und Auslegungsmöglichkeiten, die der Wortlaut des Vertrags zulässt und die mit dem Grundgesetz unvereinbar wären, ausgeschlossen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] und Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Es hat fünf besondere Gebiete genannt, in denen die Zuständigkeit – schütteln Sie nicht den Kopf, sondern lesen Sie das Urteil – unter keinen Umständen, höchstens in einem sehr eng begrenzten Bereich, weitergegeben werden darf. Es hat insbesondere das Strafrecht, das staatliche Gewaltmonopol, die Staatsausgaben und die Prinzipien des Sozialstaates genannt. Es ist gut für den Deutschen Bundestag, dass das – erstmals – in dieser Klarheit festgestellt werden konnte.

Fünftens. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass – das war uns besonders wichtig – das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor zentral für den Staatenverbund ist. Nur weil dieses Prinzip nach wie vor gilt, ist der Vertrag überhaupt mit dem Grundgesetz – mehrfach heißt es: „noch“ – vereinbar.

(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: So ist es!)

Das Bundesverfassungsgericht hat auch darauf hingewiesen, dass die Fülle von Einzelermächtigungen, die es nach dem Vertrag von Lissabon geben wird, die Gefahr in sich birgt, dass hier eine flächendeckende Kompetenz geschaffen wird. Dem hat das Bundesverfassungsgericht jetzt erstmalig in dieser Form einen Riegel vorgeschoben.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Es verteidigt nämlich gegen eine mögliche Auslegung des Vertrags seine Kompetenz, ultra vires gehenden, also die Grenzen der Ermächtigung überschreitenden, EURechtsakten in Deutschland die Gefolgschaft zu verweigern.

(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch nicht neu!)

Den Vorrang des EU-Rechts und die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts durch einen völkerrechtlichen Vorbehalt abzusichern, wird die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein. Ich bitte die Bundesregierung herzlich, uns allen hier Klarheit zu verschaffen.

(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Wieso die Bundesregierung?)

– Die Bundesregierung kann das durch einen entsprechenden Vorbehalt, der erklärt werden muss, absichern. Das sollten Sie eigentlich wissen. Das steht am Anfang der Debatte.

Sechstens – ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin – hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass die demokratische Legitimation der EU-Organe unzulänglich ist und demokratischen Anforderungen nicht genügt.

(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die sagen, dass das so sein muss!)

Deswegen ist immer von „noch verfassungsgemäß“ die Rede.

Siebtens und letztens. Das Urteil macht bedeutende Vorgaben für die weitere Entwicklung der europäischen Integration. Das gilt insbesondere für die Notwendigkeit einer verfassungsgebenden Volksabstimmung. Herr Kollege Steenblock, Sie haben in Ihrer Abschiedsrede die Befugnisse und das Recht des Parlaments betont. Ich danke Ihnen. Aber dieses Urteil bedeutet für dieses und das nächste Parlament einen Kompetenzschub. Es dient uns nicht zum Ruhme, dass es dazu eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedurfte.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP und der Abg. Jörg Tauss [fraktionslos] und Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Ich möchte Ihnen herzlich mit auf den Weg geben, auch als Staatsbürger, der Sie ja sind: Ein Parlament, das seine Kompetenzen aufgibt, gibt sich selber auf. Dies zu verhindern, sind wir da.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP und der Abg. Jörg Tauss [fraktionslos] und Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Diether Dehm (DIE LINKE):

Meine Damen und Herren! Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Die Medien vom heutigen Tage wie Süddeutsche Zeitung, Handelsblatt und Welt sind eine einzige Ohrfeige für die Bundesregierung und für die Mehrheit des Bundestages. Ich zitiere aus der FAZ von heute:

Ein deutlicheres Attest ihrer Selbstentmündigung hätten die Parlamentarier kaum ausgestellt bekommen können.

Vom gespielten Jubel der Regierung ist die Rede. Sie hätte einen starken Stier kaufen wollen und von Karlsruhe eine kleine Kuh geliefert bekommen; jetzt jubiliere sie: Immerhin ein Rindvieh.

Hätte die Koalition die Rechte des Bundestages nicht abgewertet, Karlsruhe hätte die Rechte nicht aufwerten müssen. Das ist doch die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Sie beschließen ein grundgesetzwidriges Gesetz, werden ertappt und ernennen sich zum Sieger.

Die Medien haben naturgemäß versucht, den Erfolg der Linken so klein wie möglich zu halten.

(Zurufe von der SPD: Oh! – Markus Löning [FDP]: Das macht ihr schon selber! Dazu braucht ihr die Medien nicht!)

Hinter den Medien stehen ja meist CDU/CSU, FDP und ein paar Finanzhaie. Aber immerhin hat Herr Professor Mayer, der Prozessbevollmächtigte der Gegenseite und damit unser Gegner, heute Morgen im Ausschuss gesagt, künftige Oppositionsfraktionen müssten der Linken dankbar sein; denn unsere Klage habe die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag gestärkt, was gänzlich neu sei. Lieber Rainder, sollen wir uns jetzt darüber ärgern oder sollen wir uns darüber freuen, dass der gegnerische Prozessbevollmächtigte uns gesagt hat, durch uns seien die Minderheitenrechte gestärkt worden?

(Beifall bei der LINKEN – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das hat nichts mit eurer Klage zu tun!)

Aufrüstung und Kriege ums Öl wurden zwar gestern nicht gestoppt, aber der widerwärtige Versuch – so steht es im Lissabon-Vertrag –, über den Einsatz der Bundeswehr in Brüssel zu entscheiden statt allein im Deutschen Bundestag.

(Widerspruch bei der SPD – Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: So ein Unsinn!)

Das ist durch den Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichtes gestoppt worden.

Der Neoliberalismus, der die Finanzkrise bewirkt hat, wurde nicht gestoppt. Aber das Gericht hat deutlich das Sozialstaatsprinzip betont, ausdrücklich gegen EUBürokratie und Europäischen Gerichtshof. Das Bundesverfassungsgericht betont: Wir sind und bleiben zuständig für den Schutz der Verfassungsidentität, zu der der Sozialstaat gehört. Auch diese soziale Würde des Menschen ist also nicht verhandelbar. Darüber ist jetzt klar entschieden worden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Also passen Sie nicht mehr im vorauseilenden Gehorsam Ihre Gesetze an den Neoliberalismus der EU an! Ich erwähne in diesem Zusammenhang das niedersächsische Vergabegesetz hinsichtlich öffentlicher Bauaufträge und nenne nur das Stichwort Rüffert-Urteil. Lassen Sie EuGH-Angriffe auf Volkswagen und auf die Tariflöhne nicht mehr zu, sondern streiten Sie mit den Gewerkschaften und klagen Sie vor dem Bundesverfassungsgericht! Seit gestern bietet sich die Gelegenheit förmlich an, dagegen zu klagen. Das sollte auch wahrgenommen werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Der Bundestag ist nach dem Urteil zudem gehalten, sich mehr um internationale Verträge zu kümmern, die die Lebenssituation der Menschen unmittelbar betreffen. Das gilt vor allem für die neoliberalen Angriffe über die WTO auf die ärmsten Menschen auf allen Kontinenten. Sollten die Menschen draußen erschrocken sein über die monströsen Schwächen, die der Bundesregierung und der Mehrheit des Bundestages attestiert worden sind, dann können sie in dieser Beziehung beruhigt sein: Sie haben eine starke Linke in den Deutschen Bundestag gewählt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Carl-Christian Dressel (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kommt einem schon merkwürdig vor, nach einer nationalkonservativen Allianz aus PDS und anderen Europaskeptikern und Europagegnern hier reden zu können. Es gilt für uns nach wie vor das, was die Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beinhaltet, nämlich dass das deutsche Volk von dem Willen beseelt ist, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Diese Äußerung hat das Bundesverfassungsgericht in den Mittelpunkt seiner gestrigen Argumentation gestellt. Ich sage: Darüber können wir alle froh sein.

Ich darf den heute schon wiederholt erwähnten Heribert Prantl zitieren, der die richtige Schlussfolgerung gezogen hat:

Diesem spektakulären, glänzenden und klugen Karlsruher Urteil gelingt die Kunst, den europäischen Integrationsprozess nicht aufzuhalten, sondern ihn – bei einem deutschen Zwischenstopp – demokratisch zu befruchten.

Ich denke, das ist die zentrale Botschaft. Das ist auch eine Botschaft an diejenigen, die sich hier gerne als Gewinner feiern lassen; denn von Gewinnen kann man nur reden, wenn man mit seinen Zielen durchkommt. Wenn man das Urteil nicht von hinten zu lesen beginnt, sondern von vorne, dann sieht man, was Sie zum Gegenstand Ihrer Anträge beim Bundesverfassungsgericht gemacht haben, dann stellt man fest, dass Sie sich allein gegen das Zustimmungsgesetz und nicht gegen das Begleitgesetz gewendet haben. Also Gewinner? Fehlanzeige, nur herbeigeredete Gewinner.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht! Der Kollege Gauweiler! – Dr. Peter Gauweiler [CDU/CSU]: Das ist nicht richtig!)

Es ist wichtig, dass wir uns darüber klar werden, was mit dem Urteil gesagt wurde. Wenn Sie noch mehr aus dem Urteil hören möchten, kann ich Ihnen noch mehr vorlesen. Auch wenn es Ihnen nicht recht ist, trage ich vor – Seite 91 –:

Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon ist mit den Anforderungen des Grundgesetzes, insbesondere mit dem Demokratieprinzip, vereinbar. Das Wahlrecht … ist nicht verletzt.

Oder auf Seite 93:

Die Europäische Union entspricht demokratischen Grundsätzen.

Oder:

Die mit den Antrags- und Beschwerdeschriften vorgetragene, im Mittelpunkt der Angriffe stehende Behauptung, mit dem Vertrag von Lissabon werde das demokratische Legitimationssubjekt ausgetauscht, ist unzutreffend.

Anderes brauchen wir nicht zu sagen. Jeden dieser Sätze, die ich verlesen habe, sehe ich als einen knallenden Schlag ins Gesicht derjenigen auf der linken Seite dieses Hauses, die sich als Sieger fühlen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wichtig ist auch, dass im Deutschen Bundestag einmal vorgetragen wird, was der Vorsitzende des Zweiten Senats, Vizepräsident Voßkuhle, zu Beginn der Urteilsverkündung gesagt hat. Er sprach von Vorurteilen und eindeutigen Vorverständnissen, über die das Bundesverfassungsgericht nicht gerichtet hat. Welche Vorurteile und Vorverständnisse sind das? Das ist das, was ich am Anfang schon herausgearbeitet habe: Das sind die Europafeindlichkeit und die überzogene Europaskepsis, die es leider auch in diesem Hause gibt. Wenn wir die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen wollen, müssen auch wir uns klar zu Europa und zur europäischen Einigung bekennen, und diejenigen, die Probleme mit Europa und der europäischen Einigung haben, dürfen nicht weiter versuchen, sich als Sieger des gestrigen Tages darzustellen.

(Beifall bei der SPD)

Ein kleines Detail, Herr Dehm, wenn ich Sie beim Telefonieren stören darf: Der Prozessbevollmächtigte des Deutschen Bundestages, Professor Mayer, hat im Ausschuss gesagt, dass man sich bei Ihnen bedanken kann. Dazu sage ich: Interessant ist, dass sich Professor Mayer auf die Frage der Zulässigkeit bezogen hat, auf die Frage, wann sich eine Oppositionsfraktion an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Das hatte mit dem Inhalt, mit der materiellen Frage oder der Begründetheitsfrage nicht das Geringste zu tun.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Ausdrücklich auch Militäreinsätze!)

So viel zum selbsternannten, gefühlten Gewinner.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das stimmt nicht! Ausdrücklich auch Militäreinsätze!)

Ich sehe ein Handeln der Bundesregierung – darüber sind wir uns in diesem Hause einig – nicht als veranlasst an, Kollege Gauweiler.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Lesen Sie doch erst einmal das Urteil!)

Für uns ist und bleibt es wichtig, dass wir das Begleitgesetz ändern und dass wir unsere Geschäftsordnung ändern; darauf hat noch niemand Bezug genommen.

(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Richtig!)

Ich halte es für zentral, dass wir wichtige Änderungen in der Geschäftsordnung vornehmen, damit wir unseren Aufgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, im Rahmen unserer Möglichkeiten nachkommen können. Das ist für mich die wichtige Botschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Ich halte es für ebenso wichtig und für ein bedeutendes Signal an die übrigen Mitgliedstaaten, dass Folgendes zum Ausdruck gebracht wurde: Wir in Deutschland wollen nach wie vor die europäische Einigung, und wir möchten, dass unsere befreundeten Mitgliedstaaten mit uns an der europäischen Einigung arbeiten. Deswegen ist es unser Ziel, trotz der Wahlen zum 17. Deutschen Bundestag Ende September dieses Jahres noch im Laufe dieser Wahlperiode schnell die notwendigen Änderungen durchzuführen, um dieses Signal, das über unsere Grenzen hinaus wirkt, zu geben, ein Signal zugunsten der Einheit Europas und zugunsten dessen, was in der Präambel des Grundgesetzes schon festgestellt wird: dem Ziel, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Wir sprechen auf der einen Seite über das Urteil; auf der anderen Seite sollten wir das, was angegriffen worden ist, nicht vergessen: den Vertrag von Lissabon. Es steht uns zu, nochmals darauf hinzuweisen, dass der Reformvertrag von Lissabon der Europäischen Union die Fähigkeit verleihen wird, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger auf der Basis unserer europäischen Werte die Europäische Union fortzuentwickeln.

Ich wage eine Prognose, die uns alle betrifft: Wir werden noch im Laufe der 16. Wahlperiode das Begleitgesetz und unsere Geschäftsordnung ändern. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass dies kein statisches System sein kann, sondern dass wir – das sehe ich gemäß dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts an uns alle – darauf Acht geben müssen, dass in der Praxis, die wir hier im Deutschen Bundestag, aber auch Sie im Bundesrat dann an den Tag legen, der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen wird, sodass wir dem Demokratieprinzip immer und unangreifbar Rechnung tragen.
Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Steenblock hat recht: Gestern war ein guter Tag für die Demokratie. Wenn man den Ausführungen so mancher Kollegen hier folgt, dann muss man sich die Frage stellen: Über was streiten wir eigentlich? Jeder fühlt sich als Sieger. Wenn sich jeder als Sieger fühlt, dann bin ich für den weiteren Gang der vor uns liegenden parlamentarischen Beratungen sehr optimistisch. Denn das kann ja dann alles sehr gut über die Bühne gehen, wenn wir uns in diesen wesentlichen Punkten schon einig sind.

Herr Kollege Gysi, gestatten Sie mir bitte folgenden Hinweis: Es wäre zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, dass ein Sieger auf zwei Drittel seiner Verfahrenskosten sitzen bleibt.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Bayern musste alles bezahlen!)

Die Kostenteilung ist hier ein sehr sicheres Indiz; bei Kollege Gauweiler waren es immerhin 50 Prozent. Diese Quote zeigt, wie das Bundesverfassungsgericht es sieht. Derjenige, der sich dafür interessiert, sollte sich einfach einmal die Kostenverteilung ansehen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das erleichtert, glaube ich, den Überblick.

Es war ein guter Tag für die Demokratie. Warum?

Weil der Vertrag von Lissabon seitens des Bundesverfassungsgerichts als verfassungskonform angesehen wird.

(Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Sehr richtig!)

Wir als Parlamentarier haben schon deshalb Vorteile, weil der Vertrag von Lissabon unsere Rolle, die Rolle der nationalen Parlamente aufwertet.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)

Das Begleitgesetz müssen wir in der Tat neu aufrollen, aber mit sehr konkreten Vorgaben, die uns Parlamentariern den Rücken stärken. Deswegen haben wir, wenn man es so nennen möchte, eine Win-win-Situation: Die Parlamente sind die Gewinner des gesamten Verfahrens. Damit meine ich nicht nur das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.

Weil wir hier in einer öffentlichen Debatte sind und so manches, was man den Berichterstattungen der Medien entnehmen durfte, eher zur Begriffsverwirrung der Bürger beigetragen hat, möchte ich Folgendes ausführen: Warum fühlen sich die meisten als Sieger? Ich glaube, es lohnt sich, einen Blick auf das bisherige Verfahren zu werfen. Traditionell ist die Außenpolitik der Europäischen Union stets sehr regierungsgeprägt gewesen. Seit dem Maastricht-Urteil hat der Deutsche Bundestag seine Europatauglichkeit aber kontinuierlich verbessert.

Wir haben heute einen Europaausschuss, der sich nicht nur aus Mitgliedern des Deutschen Bundestages, sondern auch – und zwar aus guten Gründen – aus Kollegen des Europäischen Parlaments zusammensetzt. Wir haben einen Unterausschuss Europarecht. Wir haben die COSAC-Konferenz, eine Kooperation der nationalen Europaausschüsse. Wir haben mittlerweile ein Verbindungsbüro mit Mitarbeitern der Fraktionen und der Bundestagsverwaltung in Brüssel. Seit zwei Jahren besteht außerdem eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung. Dieses Parlament hat kontinuierlich für mehr Rechte gekämpft und diese auch bekommen. Deswegen betrachten wir die gestrige Entscheidung als einen Katalysator, der uns hilft, auf diesem Weg weiterzumachen. Sie können daher sicherlich nachempfinden, dass wir uns über dieses Urteil freuen.

Es geht aber noch um etwas anderes, das bei dieser Debatte nicht ganz in Vergessenheit geraten sollte. Bei aller Betonung der Parlamentsrechte: Wir haben ein großes Interesse daran, dass unsere Regierung, egal welcher Couleur, in Brüssel handlungsfähig bleibt. Wir müssen in Brüssel, in Europa sprechfähig bleiben. Uns wäre nicht geholfen, wenn Regierungsmitglieder bei jeder Entscheidung, die von der ursprünglichen Vorgabe abweicht, in die Maschine steigen und nach Berlin zurückfliegen müssten, um sich das neuerliche Votum des Parlaments einzuholen. Das würde die Europapolitik lähmen.

Wir wollen die Europapolitik und Europa gerade mit dem Vertrag von Lissabon handlungsfähiger machen. Deswegen wird es bei der Neufassung des Begleitgesetzes im Kern darum gehen, eine Balance zu finden. Wir möchten ein austariertes Verhältnis finden zwischen den berechtigten Interessen der Parlamentarier des Bundestages und unserem Wunsch nach einer handlungsfähigen und sprechfähigen Regierung in Brüssel.

(Markus Löning [FDP]: Er ist der Sprecher der Bundeskanzlerin!)

Ich komme zu den einzelnen Punkten, die Kollege Gauweiler angesprochen hat. Ja, die Brückenklausel ging dem Bundesverfassungsgericht zu weit, auch die Einschränkung beim Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wobei es von Beginn an bei diesem Prinzip bleiben sollte. In der Summe kann man aber feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht damit aussagen möchte: Fahrt bitte auf Sicht, gleichsam mit angezogener Handbremse, auch bei der europäischen Integration, wenngleich die europäische Integration erstmals als ausdrückliches Verfassungsziel postuliert wurde.

Man muss allerdings auch einen Blick auf das Bundesverfassungsgericht selbst werfen, das sich in einem ständigen Konkurrenzverhältnis zum EuGH sieht. Deswegen haben auch ein Bundesverfassungsgericht und die dortigen Richter ein elementares Interesse daran, dass ihre eigenen Rechte gewahrt bleiben. In diesem Zusammenspiel ist das Urteil sicherlich auch zu sehen. Es ist ein Grundsatzurteil und wird weit über den gestrigen Tag hinaus wirken. Es ist vielleicht noch bedeutender als das Maastricht-Urteil.

Ich möchte noch eines aufgreifen, was Kollege Gauweiler in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel gesagt hat. Ich zitiere – –

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Gysi?

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Danach.

Vizepräsidentin Petra Pau:

Sie holten keine Luft. Ich hatte keine Möglichkeit, zwischen Ihren Sätzen etwas zu sagen.

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Sie wundern sich, für wie viel frischen Wind wir hier sorgen können.

Das Zitat des Kollegen Gauweiler lautet:

Das Urteil werde die „europäische Gesinnung“ der Bürger stärken und damit eine „proeuropäische, volkspädagogische Wirkung“ haben.

Mit dem Wort Volkspädagogik, das der Kollege Gauweiler benutzt hat, tue ich mich etwas schwer. Aber wenn das Urteil zu einem dient, dann mit Sicherheit dazu, dass die Akzeptanz der Bürger in Bezug auf die europäische Integration nach dem gestrigen Urteil und dem Ausspruch, dass der Vertrag von Lissabon der Verfassung entspricht, steigen wird. Die Bürger können sich fortan darauf verlassen, dass die Verfassungstauglichkeit und die Verfassungsgemäßheit dieses Vertrages – gleichsam wie durch den TÜV – bestätigt wurden. Das fördert die Akzeptanz der Bürger auch in die europäische Integration.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Bitte.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):

Herr Kollege, da hier immer wieder darüber diskutiert wird, ob es seitens des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Frage eines Einsatzes der Bundeswehr irgendeine Art von Korrektur gegeben hat, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir bestätigen können, dass auf den Seiten 135 und 136 des Urteils ausgeführt wurde, dass es eine Bestimmung gibt, nach der, falls ein Mitgliedsland überfallen wird, die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen schulden, und dass dann dargelegt wird, warum diese Regelung für Deutschland nicht ohne einen Beschluss des Bundestages gilt.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD – Zuruf von der SPD: Weil wir einen Parlamentsvorbehalt haben! Das ist doch eine ganz alte Kiste! Das sollten Sie aber wissen, Herr Kollege!)

– Lassen Sie mich doch einmal zu Ende reden! – Können Sie mir also bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht durchaus akzeptiert hat, dass es eine Bestimmung gibt, die man auch anders hätte verstehen können

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir haben sie nie anders verstanden! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Nein! So war das nicht gemeint! Niemals!) – es gab übrigens auch den Willen, sie anders zu verstehen –, dass man dem aber einen Riegel vorgeschoben hat?

(Markus Löning [FDP]: Was ist das denn für ein Verfassungsverständnis?)

Gunther Krichbaum (CDU/CSU):

Herr Kollege Gysi, ich habe das Urteil, das 147 Seiten umfasst, nicht über Nacht auswendig gelernt. Ich habe es aber gelesen. Wenn Sie das Urteil genau lesen, werden Sie auf eine Passage stoßen, in der das Bundesverfassungsgericht darauf hinweist, dass die im Vertrag von Lissabon vorgesehene gegenseitige Beistandspflicht über die Regelungen, die wir ohnehin schon haben, nicht hinausgeht.

(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es! – Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Richtig!)

In genau diesem Kontext und in diesem Licht ist das Ganze zu sehen. Parlamentsvorbehalte gab es schon in der Vergangenheit. Insofern wird durch den Vertrag von Lissabon keine neue Situation geschaffen.

(Markus Löning [FDP]: Ja! So ist es!)

Infolgedessen gelangt das Bundesverfassungsgericht in diesem Punkt völlig zu Recht zu dem Schluss, dass der Vertrag von Lissabon der Verfassung entspricht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Herr Gysi, Sie sollten das Urteil lieber einmal etwas genauer lesen!)

Wie wird es nun weitergehen? Der Europaausschuss wird mehrere Sondersitzungen durchführen, und wir werden das weitere Verfahren konkret ausgestalten. Ende August dieses Jahres wird dann die erste Lesung im Deutschen Bundestag anstehen. Es ist eine reine Selbstverständlichkeit, dass dieses Gesetz dann aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden sollte. Alles andere widerspräche dem Geist des gestrigen Urteils. Natürlich wird es immer gerne gesehen, wenn, wie es auch heute geschehen ist, seitens der Bundesregierung Formulierungshilfe angeboten wird.

(Markus Löning [FDP]: Nein! In diesem Fall nicht!)

Aber dieser konkrete Fall ist die Stunde des Parlaments, und es geht um die Rechte des Parlaments. Ich glaube, wir tun sehr gut daran, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen und die Maßgaben im neuen Begleitgesetz eins zu eins abzubilden.

Unbestritten ist, dass wir unter Zeitdruck stehen. Deswegen muss das Ganze jetzt zügig über die Bühne gehen. Wenn wir das nicht mehr in dieser Legislaturperiode schaffen, können wir im Hinblick auf das Referendum, das in Irland noch durchgeführt werden muss, keinen positiven Impuls mehr geben. Hinzu kommt, dass wir nicht wissen, wie sich die Situation in Großbritannien weiterentwickeln wird. Es gibt übrigens auch Zeiten, in denen ein Christdemokrat für die Gesundheit eines Labour-Ministerpräsidenten in Großbritannien betet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In diesem Sinne sage ich zum Schluss: Ich bin zuversichtlich, dass es uns, wenn wir zügige Beratungen durchführen, gelingt, das notwendige Begleitgesetz und den Vertrag von Lissabon auf den Weg zu bringen, damit Europa erfolgreich in seine Zukunft gehen kann.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Ich schließe die Aussprache.

Quelle: www.bundestag.de (pdf-Datei, externer Link)


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