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Unverfasste EU - fassungslose Bürger

Verfassungsdogma "Offene Marktwirtschaft": Ein Elitenprojekt des Klassenkampfes von oben

Von Elmar Altvater *

Vor zwei Jahren sagte eine Mehrheit der Franzosen und Niederländer "non" beziehungsweise "nee" zum EU-Verfassungsvertrag. Ein wunderbares Indiz für demokratischen Eigensinn. Die Völker hatten erkannt: Das ist keine "Verfassung des Volkes". Ganz anders der Bundestag und andere europäische Parlamente. Sie hatten den Vertrag zuvor fast ohne Debatte durchgewunken. Ein trauriges Indiz für verfassungspolitisches Desinteresse der "Volksvertreter".

Wieso spurten Franzosen und Niederländer nicht so, wie ihre Regierungen es wollten? Flugs meinten Befürworter der Verfassung, die Exekutive in Paris habe den Fehler begangen, den Vertrag mit seinen 448 Artikeln per Postwurfsendung an die französischen Haushalte zu verteilen und den Bürger mit dem Konvolut zu erschrecken. Die Deutschen hingegen blieben still, weil sie keine Notiz von diesem Dokument haben nehmen können und müssen. Eine ganze Heerschar von verfassungstrunkenen euphorischen Intellektuellen und Politikern pries die Verfassung als gut und richtig, ließ tatsächlich aber die Bürger im Ungewissen, worüber ihre Vertreter eigentlich abstimmten. Eine parlamentarische Perfidie, die aber dank des "Nein" in zwei EU-Gründungsländern nicht aufging.

Seither ist guter Rat teuer. Im 35-seitigen "Präsidentschaftsprogramm" der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit dem schönen und beruhigenden Titel Europa gelingt gemeinsam steht, man werde sich Ende Juni "mit der Zukunft des Verfassungsvertrags befassen". Ende Juni - am 1. Juli geht die Verantwortung auf Portugal und ab 1. Januar 2008 auf Slowenien über, die nach Deutschland den Ratsvorsitz übernehmen. Niemand erwartet von diesen kleinen Ländern einen Durchbruch - bestenfalls könnte der mit der französischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 gelingen. Doch ob es dazu kommt? Dass Europa gemeinsam gelingt, werden die Bürger nach dem Verlust von 10.000 Arbeitsplätzen im gemeinsamen deutsch-französisch-britisch-spanischen Airbus-Projekt mit Fug und Recht bezweifeln.

Warum ist ein Verfassungsvertrag für Europa überhaupt wichtig? Weil, so wird regelmäßig geantwortet, mit den bisherigen Verträgen von Rom (März 1957), Maastricht (1991), Amsterdam (1999) und Nizza (2003) die Politikkoordination von inzwischen 27 EU-Mitgliedern nicht möglich sei. Das leuchtet zunächst ein, wirft aber unvermeidlich die Frage auf, was sonst noch in dem Vertrag steht, der für das Alltagsleben der europäischen Bürger einen Rahmen setzt. Es gibt daher einen guten, ja dringlichen Grund, sich mit der Verfassung Europas auseinander zu setzen und - wie Wolfgang Abendroth vor 50 Jahren mahnte - "Verfassungspositionen zu besetzen" und diese nicht der technokratischen Auslegung der politischen Eliten zu überlassen.

Möglicherweise hat der US-Autor Jeremy Rifkin Recht, der nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden schrieb: "Meiner Auffassung nach stellt die gegenwärtige europäische Debatte... nicht die EU-Verfassung in Frage, sondern - indirekt - die Zukunft des Kapitalismus". (Etwas ähnlich Kapitalismuskritisches hat Christian Klar gesagt und soll dafür nach Stoibers Willen "auf Dauer hinter Schloss und Riegel" bleiben.)

Fassungslos jedenfalls sind viele, die den vorliegenden Verfassungstext gelesen haben, entspricht er doch so gar nicht dem, was von einer Verfassung zu erwarten ist. Von Verträgen ist man gewohnt, dass sie oftmals 1.000 Seiten umfassen, wenn die zu regelnde Materie komplex genug ist. Es bleibt dann Sache von Anwälten, sich im Zweifelsfall um die Auslegung zu streiten. Eine Verfassung hingegen sollte transparent formuliert und zukunftsoffen sein. Amartya Sen berichtet von einem japanischen Kaiser aus dem 7. Jahrhundert, der eine Verfassung mit 17 Artikeln ausarbeitete. Alles Strittige sollte "durch Diskussion" geklärt werden, in einer - wie es heute heißt - "deliberativen Demokratie".

Doch wie sollte die in der EU funktionieren, in der zwar, wie im deutschen "Präsidentschaftsprogramm" formuliert, der "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" gewährleistet werden soll, das Prinzip der sozialen Gleichheit in einer demokratischen Ordnung aber nur am Rande erwähnt wird? Den "Raum der Freiheit" nutzen vorrangig die mächtigen ökonomischen Akteure, und die nehmen die Politik ins "Schlepptau der Finanzmärkte", wie Rolf Breuer, der einstige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, selbstbewusst und zynisch mitteilt. Da endet das soziale Europa - diese Art von ökonomischer Freiheit, gewährleistet durch die Verfassung, unterminiert die soziale Demokratie. Der "Raum der Freiheit" und die von einem der Urheber des Neoliberalismus, F.A. von Hayek, so genannte "Verfassung der Freiheit" treiben verfasste Gesellschaften aus dem "Gefäß" und liefern sie den "unverfassten" Mächten der globalen Ökonomie aus. Für Juristen wie den früheren Bundespräsidenten Herzog sieht dies wie eine Stärkung der Exekutive gegenüber dem Parlament und daher wie eine "Gefährdung der parlamentarischen Demokratie" aus. Bei genauerem Hinsehen fällt freilich auf, dass die größere Freiheit der Exekutive die zeitraubende "Deliberation" - also Debatten in den Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft - abkürzen kann und daher dem im globalen Wettbewerb verlangten Tempo angemessen ist. Globalisierung und Demokratie befinden sich in einem gespannten Verhältnis.

Der vorliegende Verfassungsentwurf versucht das in die Verfassungswirklichkeit umzusetzen, was der kanadische Politikwissenschaftler Stephen Gill einst als "neoliberalen Konstitutionalismus" bezeichnet hat. Teil III des Verfassungsvertrags ist daher ein detailliertes Bekenntnis zur neoliberalen Ordnung und einer ihr entsprechenden Wirtschaftspolitik. In den Artikeln III 177, 178 und 185 wird die "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (nicht die "soziale Marktwirtschaft") zum Prinzip erhoben, das nur unter Bruch der Verfassung geändert werden könnte. Die Franzosen hatten Recht, als sie diesen Text ablehnten, der dem Sozialabbau noch einen würdigen Verfassungsmantel umgehängt hätte. Eine Verfassung mit diesen Festlegungen ist nicht zukunftsoffen und schließt politische Veränderungen aus.

Es könnte sich schließlich in einer gar nicht fernen Zukunft herausstellen, dass die Emissionen von Treibhausgasen mit markttypischen Mitteln (dem Handel von Verschmutzungszertifikaten etwa) nicht gestoppt werden können und die Emissionen so radikal abgesenkt werden müssen, dass eine direkte Regulation durch öffentliche Institutionen notwendig wird. Soll dies ausgeschlossen und der mögliche Klimakollaps in Kauf genommen werden, weil die Verfassung eine "offene Marktwirtschaft" vorschreibt, zu der Staatseingriffe wohl nicht passen?

Allerdings sind die europäischen Politiker nicht päpstlicher als der Papst. Im Falle der Airbus-Industrie wird zwar von Merkel und Chirac die Verantwortlichkeit des Managements betont - das hindert sie jedoch nicht daran, den ökonomisch angeschlagenen Konzern politisch zu unterstützen. Kanzlerin Merkel hat auch angekündigt, es sei ihr zentrales Anliegen, die Lissabon-Strategie fortzuführen. In der portugiesischen Kapitale wurde im Jahr 2000 beschlossen, aus der EU solle bis 2010 die "wettbewerbsstärkste" Region der Welt werden. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass dieses Ziel erreicht wird. Ganz abgesehen davon, dass die Politiken, mit denen es verfolgt wird, einseitig markt- und unternehmensorientiert sind. Soziale Belange der Arbeitnehmer oder der Schutz der Umwelt kommen im Vergleich zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des "Standorts Europa" viel zu kurz. Also wird zu der dummen Trostformel Zuflucht genommen, Ökonomie und Ökologie seien keine Gegensätze. Stimmt, aber Ökologie und kapitalistische Ökonomie sind es sehr wohl. Auch die sozialen Gegensätze zwischen Lohnarbeit und Kapital lassen sich nicht dadurch ruhig stellen, dass man in der Verfassung die gemeinschaftlichen Beschäftigungs- und Sozialpolitiken den "Grundsätzen der Wirtschaftspolitik" (Art. III 179, 206) unterordnet. Die Gewerkschaften sind durch Arbeitslosigkeit und Prekarisierung, durch die verschärfte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und den Sozialabbau geschwächt, so dass es ihnen schwer fällt, diesem Dokument des - in traditioneller und nicht falscher Terminologie - Klassenkampfes von oben Widerstand entgegen zu setzen.

Die EU ist seit der Gründung der EWG vor genau 50 Jahren eine kapitalistische Großmacht geworden. Der mächtige deutsche Kommissar Verheugen bezeichnet sie bereits als "Weltmacht" und der Außenbeauftragte Solana hat dafür die Bezeichnung eines "liberalen Imperialismus" parat. Bei diesem Selbstverständnis ist der Artikel I, 41 logisches Resultat: Die Mitgliedsstaaten sollen ihre militärischen Fähigkeiten verbessern, also aufrüsten und sich befähigen, überall in der Welt einzugreifen. Das Aufrüstungsgebot in einer Verfassung - das ist ein Unikum. Europa eine Friedensmacht, wie es viele in den neunziger Jahren erwarteten? Nein, die EU muss aufrüsten und militärisch die Muskeln spielen lassen. Da kann man den Franzosen und Niederländern nur dankbar sein, dass sie diesen "liberal-imperialistischen" Größenwahnsinn zunächst verhindert haben.

* Aus: Freitag 10, 9. März 2007


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