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Nach dem "Non" in Frankreich: Ein GAU oder eine Chance für Europa?

Umdenken oder "Weiter so"? - Pressestimmen, Kommentare, Leitartikel

Die politische Klasse in den EU-Ländern war nach der Abstimmung in Frankreich über die EU-Verfassung konsterniert. Kaum jemand wusste präzise zu sagen, wie und mit welchem Ziel der Ratifizierungsprozess nun weitergehen solle. In Brüssel selbst war man sich indessen schnell einig: Das französische Anstimmungsergebnis war innenpolitisch motiviert - die EU ist auf dem richtigen Weg - Also: Weiter so! In den Kommentaren der überregionalen Presse mischte sich Enttäuschung mit Trotz, Untergangsstimmung mit Gelassenheit. Irgendwie würde es schon weitergehen mit Europa - und vielleicht ist der Schock ja auch heilsam.
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus einer Reihe von Kommentaren und Leitartikeln aus Presse und Fernsehen.



"Ein Gau für Europas Politik" überschrieb Martin Winter seinen Kommentar in der Frankfurter Rundschau. Für ihn liegt der Schlüssel einer Lösung im Profil und der Überzeugungskraft der führenden Politiker sowie in der Fortsetzung des eingeschlagenen Weges. Winter schreibt u.a.:

Frankreichs Nein ist Europas Krise. Die Europäische Union ist in mancher Form und Zusammenstellung denkbar. Doch ohne Frankreich kann die EU genauso wenig weiterleben wie ohne Deutschland. Wenn einer dieser beiden Kernstaaten europapolitisch ins Stolpern gerät, kann sich die ganze Gemeinschaft das Genick brechen. Darum ist es gegenwärtig die einzige Aufgabe der EU, diese Krise zu bewältigen. Das ist wichtiger als die Fortsetzung der Erweiterung und wichtiger als das Basteln an großen ökonomischen Konzepten. Denn ohne die in den Verfassungsvertrag eingebetteten Reformen ist alles nichts. Die EU gewönne keine Handlungsfähigkeit nach Innen und spielte nach Außen nicht die Rolle, die ihrer Größe und Bedeutung entspricht.
(...)
Was die EU braucht ist eine Mischung aus Verlässlichkeit und Kreativität. Allein schon durch Festhalten an der Prozedur zur Verabschiedung der Verfassung, beweisen die Mitgliedsländer ihren Völkern, dass sie es ernst meinen. Sich in die Büsche zu schlagen, wie Großbritannien es vorzuhaben scheint, wäre ein fatales Signal. Selbst wenn morgen auch die niederländische Volksabstimmung daneben geht, ist das noch kein Grund, andere Abstimmungen - ob nun im Volk oder Parlament - abzusagen. Zum einen haben alle Länder einen Anspruch darauf, ihre Meinung zu dem Vertragswerk zu sagen. Zum anderen steigt mit jedem Ja-Sager der Druck auf den oder die Nein-Sager, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Noch ist es schwer vorstellbar, aber auch Frankreich könnte seine Bürger ein zweites Mal an die Wahlurne bitten. (...)
(...)
(...) Gelingt es den Ländern, europäische Fragen zu Hause europäisch zu diskutieren, steigen die Chancen der Verfassung. Eine bessere Kommunikation zwischen Brüssel und den Bürgern kann da hilfreich sein, gibt aber nicht den Ausschlag. Noch nie ist die Arbeit an einem Vertrag in der EU so öffentlich gewesen, wie an diesem. Was ihm auch nichts genutzt hat. Es fehlt an Überzeugungskraft bei den Regierungen. Es ist das Pech der europäischen Reform, dass ihre wichtigsten Protagonisten in Berlin, Paris oder Den Haag ausgerechnet in dem Moment Schwächeanfälle erleiden, in dem man sie sehr bräuchte. Da sich das in anderen Ländern wiederholen kann, muss die EU vorbeugen. Sie braucht ein Konzept, wie die Ziele der Reform erreicht werden können, selbst wenn die Verfassung endgültig scheitert. Viel Zeit kann sie sich nicht lassen. Denn eines darf der EU nicht widerfahren: Am Ende eines gescheiterten Verfassungsprozesses in Desorientierung zu versinken.

Aus: Frankfurter Rundschau, 31. Mai 2005

Bei dem wichtigen Thema leistet sich die Frankfurter Rundschau noch einen zweiten Kommentar. Hans-Helmut Kohl treibt aber nicht das Schicksal Europas um, sondern die offenkundige Unfähigkeit des französischen Präsidenten, europäisch zu denken und zu handeln. Chirac schicke sich an weiter zu wurschteln, "als wäre fast nichts geschehen".

(...) Charles de Gaulle kannte sie, die Geschichte seiner Nation. Als ihm sein Volk die Gefolgschaft verweigerte, wechselte er nicht einfach die Regierung aus, sondern ging selbst. Nachfolger Jacques Chirac hatte dieses Format zu keinem Zeitpunkt seiner Karriere. Selbst auf dem Höhepunkt seiner nationalen und internationalen Anerkennung, als sturer Gegenpart zum kriegslüsternen George W. Bush, blieben seine Motive schillernd.
Vor allem: Im Unterschied zu allen anderen Präsidenten der V. Republik fühlte Chirac nie wirklich europäisch. Er konnte sich, und dies hat er mit einem Teil seines Wahlvolks gemein, Europa stets nur als größeres Frankreich vorstellen. Und wenn es ihm in der innenpolitischen Auseinandersetzung zupass kam, gab Brüssel einen wohlfeilen Sündenbock ab.
So wie er es vor dem Referendum versäumte, das "Ja" mit dem Versprechen vorgezogener Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Herbst sicherzustellen, so unterließ er am Tag danach jede Geste, aus der wütende Franzosen hätten schließen können, ihr Präsident habe verstanden. Kein runder Tisch, kein Hineinhorchen in die gespaltene Gesellschaft, sondern Cliquenpolitik der überkommenen Art; gerade so, als handele es sich bei der schallenden Ohrfeige vom Sonntag um eine Streicheleinheit. Der Regierungschef wird ausgewechselt, ein paar Minister spielen Reise nach Jerusalem, und der müde Mann im Élysée macht weiter.
Nein, Frankreich hat Besseres verdient. Europa auch. Das Kind liegt im Brunnen, und es sieht so aus, als würde sich niemand danach drängen, es zu retten. Vielleicht müssen die Europäer damit leben, dass noch jeder Versuch, den Kontinent zu einen, scheiterte - frühere mit Gewalt und jetzt auch jene mit friedlichen Mitteln. Der Traum aber bleibt.

Aus: Frankfurter Rundschau, 31. Mai 2005

Der Kommentar in der "Deutschen Welle" ("Verfassungsvertrag tot, EU lebendig") fällt cooler aus. Bernd Riegert kann dem Ergebnis in Frankreich sogar positive Seiten abgewinnen. Auch wenn der Verfassungsvertrag nicht mehr zu retten ist, so sei doch die EU keineswegs am Ende. Sie wird eine schöpferische Pause einlegen - vielleicht nicht das schlechteste Ergebnis des französischen Referendums, sagt Riegert.

(...) Zunächst ist eine Denkpause über die Geschwindigkeit der Integration und Erweiterungswellen notwendig. Diese Pause wird mehrere Jahre dauern. Erst danach kann man das Projekt Verfassung, also Verschlankung und Demokratisierung der Entscheidungs-Prozesse, wieder anpacken. Denkbar ist, dass Staatengruppen einige Politikbereiche außerhalb der EU-Verträge weiter vertiefen. Einige Institutionen, wie der gemeinsame Außenminister, könnten auch ohne Verfassung eingeführt werden. Zuviele Elemente aus dem toten Werk dürfen es aber nicht sein, denn das hieße ja, den Willen der französischen Wähler zu mißachten.
Thema wird auf jeden Fall der Beitritt der Türkei werden. Fraglich ist, ob die Verhandlungen tatsächlich am 3. Oktober beginnen werden und ob das Ziel tatsächlich eine Vollmitgliedschaft sein wird. Der durch das negative Referendum geschwächte französische Präsident und der schwer angeschlagene deutsche Bundeskanzler waren bislang die stärksten Fürsprecher für einen Türkeibeitritt. Jacques Chirac ist nun zu mehr Skepsis verpflichtet, denn die Mehrheit der Franzosen hat dem bisherigen Kurs eine Absage erteilt. Gerhard Schröder könnte im Herbst bereits von einer konservativ-liberalen Bundesregierung abgelöst worden sein, die aktiv gegen die Aufnahme weiterer EU Mitglieder eintreten könnte.
(...)
Europa ist mit diesem schweren Rückschlag nicht am Ende, aber die EU wird sich wandeln. Sie wird mehr auf soziale Herausforderungen eingehen müssen. Sie wird sich dem falsch eingeschätzten wirtschaftlichen Gefälle zwischen West und Ost stellen müssen. Sie wird sich weniger schnell vertiefen und erweitern. Das muss am Ende gar nicht mal so schlecht sein.
Sauer ist das EU-Establishment in Brüssel übrigens auf den französischen Präsidenten, denn Jacques Chirac hätte statt des zornigen Volkes auch einfach das Parlament die Verfassung ratifizieren lassen können. Er wählte aus innenpolitischen Gründen den Weg des Referendums, und Europa muss die Suppe jetzt auslöffeln.

Aus: Deutsche Welle, 30. Mai 2005

Werner Pirker überschreibt seinen Kommentar in der "jungen Welt" mit dem Ruf: "Vive la France!" Das "Non" FRankreichs sei stellvertretend für alle jene Nationen abgegeben worden, die selbst nicht direkt abstimmen dürfen.

Die Nation der Franzosen, die auf einem revolutionären Gründungsakt beruht, hat ihrem Ruf alle Ehre gemacht und gegen das Projekt einer europäischen Verfassung gestimmt. Das »Non« bezog sich nicht allein auf den zur Abstimmung vorgelegten Entwurf, sondern darüber hinaus auf die Idee einer europäischen Verfassung. Denn dieses »Europa« ist kein freier Ausdruck der europäischen Nationen, sondern ein bürokratisches Ungetüm ohne Basishaftung. Welche Verfassung sich dieses imperialistische Großmachtprojekt auch immer geben mag – sie kann grundsätzlich keine demokratische sein.
Allein die völlige Unterordnung der Legislative (EU-Parlament) unter die Exekutivmacht läuft auf ein nichtrechtstaatliches System und die Herstellung postparlamentarischer Zustände hinaus, was auch die Realverfassung in den Mitgliedsländern nachhaltig verändern würde. Da ist dann auch geradezu selbstverständlich, daß der Verfassungsentwurf keine Form der Volkssouveränität kennt. So würden nationale Verfassungen, die, wie etwa das deutsche Grundgesetz, nach vorne hin offen sind, in einen Rahmen gestellt werden, der keine progressiven Alternativen zum Liberalismus mehr zuläßt. Die EU-Verfassung wäre die erste in der bürgerlichen Welt, in der eine bestimmte Wirtschaftspolitik, konkret die auf die vier Freiheiten des Kapitals fixierte, verbindlich festgeschrieben wäre. Und die erste, die eine Verpflichtung zur Militarisierung enthielte. Besteht der Verfassungsanspruch in tradierten bürgerlichen Demokratien immer noch in der Gewährleistung einer demokratischen Willensbildung von unten nach oben, so beinhaltet die EU-Verfassung in ihrem Kern die Verallgemeinerung des unter dem Liberalisierungs- und Privatisierungsdiktat vollzogenen Demokratie- und Sozialabbaus.
Über die Gründe, warum die Franzosen Nein sagten, wird jetzt viel gerätselt. Ob es nun eher innenpolitische Motive gewesen seien oder diffuse Globalisierungsängste? Oder ob nicht doch der »Grand Nation«-Dünkel abstimmungsentscheidend gewesen sei? Und natürlich wird auch wieder die Verschwörungstheorie von den populistischen Volksverhetzern in Umlauf gebracht. Daß die Franzosen primär egoistischen nationalen Interessen folgten, getrieben von der Angst vor einem Bedeutungsverlust Frankreichs, kann ausgeschlossen werden. Da hätten die Polen oder Tschechen wesentlich gewichtigere Gründe zur Ablehnung der Euro-Verfassung. Frankreich aber ist neben Deutschland die treibende Kraft des EU-Imperialismus. Doch dabei ging es nicht bei diesem Referendum. Hier stimmte ein Volk ab, das in seiner Revolution den Gedanken der Volkssouveränität kreiert hatte. Es hat so gesehen für alle Völker Europas »Non« gesagt.

Aus: junge Welt, 31. Mai 2005

In Österreich sieht man das Nein der Franzosen gelassener als in anderen Ländern. Irgendwie würde es schon weiter gehen. "Europa ist nicht verloren" überschreibt der Chefredakteur des Wiener "Standard", Gerfried Sperl, seinen Leitartikel. Darin thematisiert er das Verhältnis von Europa zum Nationalstaat und kann dem gegenwärtigen Zustand durchaus Positives abgewinnen.

Das Nein der Franzosen ist kein Nein zu einem europäischen Grundgesetz, sondern die Ablehnung der ideologischen Ausrichtung der vom Konvent beschlossenen Variante. Die Gegner, wie beispielsweise die Globalisierungskritiker von Attac, haben, wie es ihr Name sagt, ihre Argumente erfolgreich zugespitzt. Nicht Marktwirtschaft sei Ziel dieser Verfassung, sondern Manchester-Liberalismus. Nicht soziale Rücksicht, sondern Überforderung und Ausbeutung.
Die Befürworter konnten nur wenige dieser Wortplakate entkräften. Die Mehrheit glaubt unverdrossen, dass ein Ja zu einem verstärkten Import verfeinerter Varianten des Thatcherismus führen würde: keine 35-Stunden-Woche mehr, weniger als sechs Wochen Urlaub, Entmachtung der Gewerkschaften, gnadenloser Preiskampf auf dem Buckel der Arbeitnehmer. Die Mehrheit glaubt unverhohlen, die Brüsseler Politik stünde im Sold der großen Konzerne.
(...)
Die französische Entscheidung zeigt, dass einige Grundprinzipien der EU noch nicht Allgemeingut sind: der europäische Finanzausgleich zum Beispiel. Denn nichts anderes ist die Bevorzugung wirtschaftlich und sozial schwacher Länder wie Portugal. Oder jahrelang das Burgenland.
Sie zeigt gleichzeitig das tiefe Unbehagen gegenüber künftigen Erweiterungen. Angst überlagert Realismus. Ein Wunder angesichts der täglich medialisierten Weltkonflikte? Soll "das Volk" strategisch denken können, wenn selbst "Experten" darüber uneins sind? Türkei, bitte warten. Auch das ist eine Sonntagsbotschaft des katholischen Frankreich.
Die in vielen Schlagzeilen an diesem Montag verkündete "Krise" der EU ist evident. Weil Brüssel damit den entscheidenden Schritt zur Schaffung eines Bundesstaates tun wollte. Und ihn (jetzt) noch nicht tun kann.
Manche sagen: Wir haben ihn ja schon. Durch den Euro. Durch die Europawahlen. Durch bindende Kommissionsbeschlüsse. Andere sagen: Selbst bei einer Ratifizierung der Verfassung bliebe den Nationalstaaten viel Souveränität.
Ja, aber viel weniger. Und deshalb zeigt der Weg im Moment (ganz nach der französischen Façon) in die Richtung einer Selbstbehauptung der Nationalstaaten. Und damit zur Fixierung eines Staatenbundes - der eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Mit einer militärischen Eingreiftruppe und mit parlamentarischer Legitimation.
Im September könnte ein Ja zu Angela Merkel in Deutschland das Nein der Franzosen komplettieren. Europa bleibt, wie es ist. Und ist deshalb nicht verloren.

Aus: DER STANDARD, 31. Mai 2005

Moritz Schuller vom Berliner "Tagesspiegel" betätigt sich als Arzt am Bett des "europäischen Patienten" und schlägt als eine Therapioe vor, den Ratifizierungsprozess schnellstmöglich zu stoppen.

Natürlich kann man die Leiche noch einmal schminken, ihr ein hartes Kissen ins Kreuz schieben und den Angehörigen vom starken Puls vorschwärmen. Die realistische Diagnose nach dem Referendumsdebakel in Frankreich lautet aber: die europäische Verfassung ist tot. Leider. Der Vertrag hätte die Union in vielerlei Hinsicht auf eine bessere Grundlage gestellt, er hätte die Union stärker, auch demokratischer gemacht. Hätte. Die Franzosen haben diese Verfassung mit einer klaren Mehrheit abgelehnt. Die Spielregeln dabei waren eindeutig: Kein Plan B, es geht ums Ganze, die Verfassung gilt nur, wenn sie von allen Mitgliedsländern ratifiziert wird. Frankreich, das zweitgrößte Land Europas, hat trotzdem mit Nein gestimmt.
Dieses Votum zu respektieren, kann also nur bedeuten: den Ratifizierungsprozess zu beenden und diese Verfassung für tot zu erklären. Den Franzosen vorzuwerfen, sie hätten ja gar nicht über den Inhalt der Verfassung abgestimmt, sie womöglich noch einmal antreten zu lassen, wenn die politische Stimmung eine andere ist; oder Europa ohne das Kernland Frankreich voranzutreiben – das hieße, im Nachhinein die Spielregeln zu ändern. Die Ratifizierung fortzusetzen, würde genau das verstärken, was eben auch zur anti-europäischen Stimmung in Frankreich beigetragen hat: das Gefühl der politischen Ohnmacht gegenüber einem Projekt. Die Verfassung dennoch – wie auch immer – in Kraft treten zu lassen, würde diese Entfremdung von Europa noch befördern.
Je früher die Diskussion darüber beginnt, welche Teile aus dem Vertragswerk ausgekoppelt werden und dann – weniger theatralisch als durch eine „Verfassung“ – europäische Realität werden können, desto besser. (...)

Aus: Der Tagesspiegel, 31. Mai 2005

Gerold Büchner diagnostiziert ebenfalls ein Ende der europäischen Politik ("Europa auf Eis"). Die Schlappe Chiracs sieht er in einem engen Zusammenhang mit dem "Coup" des deutschen Kanzlers: Stillstand ist angesagt, eine Lösung nicht in Sicht.

Ein Nein ist nur scheinbar eine klare Antwort. Das "Non" der Franzosen zur EU-Verfassung jedenfalls erfährt höchst unterschiedliche Deutungen, je nach Standpunkt und Interesse: Frankreichs Präsident Jacques Chirac wird wohl seinen Premier entlassen, obwohl der genauso wie er für die Verfassung geworben hat. In Brüssel haben die einen den Ruf nach mehr Demokratie - und also mehr Europa - vernommen, andere hingegen erkennen eine Re-Nationalisierung. Aus dem Europäischen Parlament kommt die Warnung vor einem "Weiter so", was aber die EU-Kommission nicht beeindruckt, denn genau darauf setzt sie. Nur die Vermittlung müsse besser werden, meint ihr Präsident Barroso. Man kennt das vom deutschen Kanzler.
Zu mehr Klarheit also hat das klare Ergebnis des französischen Referendums mitnichten geführt. Das liegt auch daran, dass das Nein stärker schillert als ein Ja. Tatsächlich haben sich in der Ablehnung durch 55 Prozent der Franzosen mehrere Motive verbunden: Angst vor Arbeitslosigkeit und Globalisierung, Ärger über die eigene Regierung, allgemeiner Verdruss über den Zustand und den Gang der Dinge. Gegen die Verfassung hat vor allem die Landbevölkerung gestimmt, die Städte eher dafür. Eine Quersumme des Protests aber lässt sich ziehen: Die Leute haben das Gefühl, keinen Einfluss auf politische Entscheidungen zu haben, und begehren bei der erstbesten Gelegenheit auf.
(...)
Das Machtvakuum wird umso deutlicher jetzt, da die Europäische Union in eine politische Krise rutscht. Auf keiner Ebene im komplizierten institutionellen Geflecht bietet sich eine Kraft an, die aus der Ablehnung der Franzosen Funken für eine neue EU-Politik zu schlagen vermöchte. Die Verantwortlichen stehen den großen Herausforderungen so ratlos gegenüber wie die kleinen Leute. Nur zugeben wollen sie es nicht. Selbst ein riskanter Befreiungsschlag à la Schröder verbietet sich in Europa - weil es keine Regierung gibt, die neu- oder abzuwählen wäre.
Der Coup des Kanzlers und das Scheitern Chiracs binnen einer Woche markieren eine Entwicklung, die auf ein Ende der europäischen Politik hinausläuft. Das deutsch-französische Duo, das sich einst mit Recht als Motor der europäischen Integration sah, sorgt nun für Stillstand in der erweiterten Union. Europa liegt für unbestimmte Zeit auf Eis.

Aus: Berliner Zeitung, 31. Mai 2005

In der Westdeutschen Allgemeine (WAZ) wird tiefer gegraben und nach Fehlern des EU-Erweiterungsprozesses gesucht. "Nach dem Nein der Franzosen zur EU-Verfassung: Es lebe Europa!" ist der Leitartikel von Uwe Knüpfer überschrieben. Trotzdem klingt er nicht gerade optimistisch:

Es war ein Fehler, die Europäische Union um zehn Staaten zu erweitern, ohne sie zuvor regier- und verstehbar gemacht zu haben. Es war ein Fehler, nach der Ost-Erweiterung weitere Beitritte in die Wege zu leiten, ohne die EU wenigstens jetzt zuvor regier- und verstehbar gemacht zu haben. Es war ein Fehler, die europäische Idee auf offene Grenzenund freien Handel zu reduzieren; so konnte der Verfassungsvertrag in den Augen seiner Kritiker zum Symbol für Lohndrückerei und Sozialabbau werden. Der Versuch, der Europäischen Union ein Grundgesetz zu geben, ist vorerst gescheitert. Wenn darin etwas Gutes liegt, dann die Chance, die oben beschriebenen Fehler zu beheben. Europa war, als es in den 1950er Jahren zu werden begann, eine Kopfgeburt. Erfahrene und deshalb vorausschauende Politiker – und Technokraten – hatten erkannt, dass es für diesen Kontinent nur eine wirksame Impfung gegen die Pest des militaristischen Nationalismus gab. Diese Impfung bestand in einer zunehmenden Verflechtung der Wirtschaftsräume, in der schleichenden Verlagerung von Staatsgewalt aus den Hauptstädten nach Brüssel. Europa begann mit der EGKS, der Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Technokratischer kann sich eine Friedensbewegung kaum geben. Das Rezept ging auf. Europa wurde von einer Idee zur Alltäglichkeit.
(...) Was uns heute selbstverständlich erscheint, ist alles andere als selbstverständlich. Europa ist friedlich, zivil und tolerant, weil Euro- und Technokraten nie nachgelassen haben, die Integration voranzutreiben. Bis hin zu diesem Vertrag. Gescheitert sind sie jetzt an ihrem eigenen Erfolg. Mit Nein haben in Frankreich ja nicht nur rückwärtsgewandte Nationalisten gestimmt, sondern gerade auch Anhänger der europäischen Idee. Ihnen ist die Verfassung nicht demokratisch, nicht sozial, sprich: nicht europäisch genug. Sie haben Angst vor einer raschen EU-Erweiterung, weil ihnen um Europa bange ist, nicht vor der Türkei. Diese Menschen nicht mitgenommen zu haben auf dem Weg zur Verfassung, darin liegt das Versagen der Eurokraten und der politischen Eliten. Wenn sie daraus nicht Konsequenzen ziehen, droht die Impfung gegen den Nationalismus ihre Wirkung zu verlieren. Ein Dom, an dem nicht ständig gebaut wird, verkommt zur Ruine. Wenn die EU zur Ruine verkommt, nisten sich in Europa bald wieder die Gespenster der Vergangenheit ein. Die kommen, das möge bitte niemand vergessen, blutrot, vor allem aber braun daher.

Westdeutsche Allgemeine (WAZ), 31. Mai 2005

In der taz müssen zwei Kommentare her, um die Abstimmungsüberraschung aus Frankreich angemessen zu analysieren. Dorothea Hahn sieht in dem französischen "Nein" einen "großen Sprung für die EU" und schreibt:

Am Sonntag hat Frankreich eine kontinentale Premiere geboten. Nach jahrelangen Rückzügen aus der öffentlichen Sache haben die Bürger eines EU-Landes erstmals die Politik zurückerobert. Dass dies in Frankreich stattgefunden hat, einem Land, das in der Geschichte vielfach historische Umwälzungen angestoßen hat, ist kein Zufall.
Die zweite positive Nachricht: Ein halbes Jahrhundert nach der Gründung der Gemeinschaft ist erstmals eine Debatte über Inhalte und Ziele der EU von oben nach unten verlagert worden. Wider Erwarten hat sich das französische Volk für das widersprüchliche, komplizierte und lange Sujet der Verfassung begeistert. (...)
Die nationalen und europäischen Verantwortlichen haben diesen öffentlichen Prozess genau beobachtet. Wer von ihnen jetzt behauptet, die Franzosen hätten aus nationalen Motiven entschieden, tut das wider besseres Wissen. Als einzige Begründung dafür kann gelten, dass das Resultat des Referendums für manche unangenehm ist. (...)
An diesen interessierten, mündigen und fordernden Bürgern müssen sich fortan die nationalen und europäischen Verantwortlichen messen. Wer sich dem verweigert und die Wähler als "naiv" oder - schlimmer - von "Demagogen verführt" beschimpft, zeigt ein gespaltenes Verhältnis zur Demokratie. Und eine gefährliche Missachtung des Volkes.
Es war ein historischer Fehler der regierenden europäischen Linken, dieser EU-Verfassung auf der Spitzenebene zuzustimmen. Doch noch fataler wäre es, das Monopol der Kritik am Marktliberalismus den Nationalisten und Rechtsextremen zu überlassen. Die französische Linke hat in den vergangenen Monaten bewiesen, dass das auch anders geht. Damit hat sie die EU einen großen Sprung vorangebracht. DOROTHEA HAHN

Aus: taz, 31. Mai 2005

Das CONTRA formuliert Daniela Weingärtner: Sie geht davon aus, dass das Nein der Franzosen Europa "lähmen" werde.

(...) Diese Krise enthält keine Chance für einen europapolitischen Befreiungsschlag. Die widersprüchlichen Erwartungen an die Union werden in eine Phase der Lähmung führen. Das bedeutet, dass die Kommission die gerade von der Linken attackierte marktwirtschaftliche Tagesroutine wie Beihilfekontrolle und Fusionsgenehmigungen technokratisch auf Grundlage der bestehenden Verträge weiterführen kann. Der zerstrittene Rat der Regierungen kann dem politisch nichts entgegensetzen.
Die Finanzverhandlungen für die Planungsphase von 2007 bis 2013 sind blockiert. Daher können Projekte in Osteuropa und in armen Regionen der alten EU nicht vorbereitet werden, weil die Finanzierung für 2007 nicht sichergestellt ist. Das Geld, das helfen soll, Europa zusammenwachsen zu lassen, kann nicht fließen. Alle, die bislang finanziell profitiert haben, können sich entspannt zurücklehnen - ihre Privilegien bleiben bestehen. Solidarité à la française eben.

Aus: taz, 31. Mai 2005

"Vor dem Aus" heißt der kurze Kommentar im "Neuen Deutschland" (Autor: Olaf Standke). Was auch immer nun geschehe: Die Verfassung in der jetzigen Form habe ausgespielt. Eine Chance für die "Linke"?

Seit diesem Wochenende steht es im Endspiel um die EU-Verfassung 9:1, neun Mitgliedstaaten haben sie bisher ratifiziert, Frankreich sorgte jetzt für das erste Gegentor. Und schon das könnte das Aus für dieses Vertragswerk bedeuten, denn für seine Annahme braucht es Einstimmigkeit. Zwar haben sich die Autoren des 480-Seiten-Konvoluts noch eine Hintertür offen gelassen, weil erst am Ende des Ratifizierungsprozesses im nächsten Jahr über das weitere Vorgehen entschieden werden soll. Doch dann dürfte das Nein-Lager nach weiteren Referenden eher noch größer sein. Was immer den EU-Staats- und Regierungschefs schließlich einfallen mag – der jetzt vorliegende Entwurf hat in dieser Form ausgespielt.
Ein Wunder ist das nicht. Wer vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau und Machtarroganz ungezügelten Neoliberalismus zur Leitfigur des künftigen Europa und militärische Aufrüstung zur Pflicht erklärt, muss mit Zukunftsängsten und Gegenwind rechnen. Zumal es in keiner Phase gelungen ist, die EU-Bürger in den Verfassungsprozess wirklich einzubeziehen, bis hin zu den so wenigen Volksabstimmungen. An der Linken, die das Nein entscheidend mitgetragen hat, ist es nun, konkrete und realistische Alternativen aufzuzeigen. Damit dieser Sieg nicht zum Selbsttor wird.

Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2005

Britische Gelassenheit spricht aus dem letzten Kommentar unseres Pressespiegels, den wir dem "Guardian" entnommen haben ("Now let's pick up the pieces"; Autor: Peter Preston). Auch daraus ein paar Auszüge:

(...) The great French referendum debacle is much more than wriggling humiliation in the Maastricht manner. It writes the obituary of a presidency which doesn't deserve to survive. Jacques Chirac's performance, from start to finish, has been inert and empty. Who could trust a single word he uttered? Where was leadership in the black hole between Le Pen and the far left?
Yet sometimes, even in the extremities of despair, you have to smile and tell yourself that serious événements can't always be taken too seriously. In truth, this treaty, under attack from left, right and bemused centre, was never going to get round the two-year obstacle course of electoral approval from Amsterdam to Prague unscathed. It's a dud, a dodo, an impossible dream (as well as a bombastic morass of verbiage). So turn again, and think again.
We're told that failure to ratify - certain after such a defeat, with Dutch knives waiting - must mean years of drifting decay. We're told that the project either retains momentum or wallows in the mire, that European union itself could end in a whimper of disillusion. (Do you recall how the Soviet Union simply disintegrated?) Ho-hum! It's time for that serious smile.
(...)
The European Community, and then its successor union, rose from the ashes of a continent laid waste by repeated war. It sought to close the fault lines for ever, to merge national interests into a single interest of peaceful and prosperous intent. Inevitably, its definition of "Europe" left out the lost lands of the east. This was western Europe, not eastern Europe: this was Bonn and Paris getting their acts together.
But dismantle the Berlin Wall, reunite Germany, bring Poland and Hungary (let alone Romania, Croatia, Ukraine and Turkey) into the ambit of this "ever-closer union", and everything changes. The new EU is a tremendous spreader of democratic practice and market reform, but its initial flame has faded. It is something different now, not more of the same.
(...) This is our new bespoke Europe. The motivations for joining and participating are cut 25 different ways; so is what Tony Blair likes to call the "heart" of the project.
None of this, if you can still smile, is fatal. All of it can and should be part of building a European future where history never ends. But we can't do that by mystic diktat. "Old" Europe, by chance, is clapped out for the moment, with a German chancellor building his own knacker's yard and a French president who builds only contempt and distrust. Reassessment couldn't look more inopportune as Luxembourg hands the package of problems over to Britain and any focus shrinks into domestic politicking about Blair's survival and need to call a referendum of his own on a doomed, redundant treaty. Of course not.
But to hell with all of that! You can't run a continent on empty indefinitely. You have to pause, refuel and travel on. You have to smile over what has been achieved and what more can be made of a unique engine of hope. It ain't broke, but now it needs all our fixing.

The Guardian, 31. Mai 2005


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