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Wer wollte sagen, er habe es nicht wissen können?

Die Militarisierungsprogrammatik im EU-Verfassungsvertrag. Texte und Kommentare zusammengestellt von Albert Fuchs

Im Folgenden dokumentieren wir die Einleitung zu einer höchst verdienstvollen Sammlung einschlägiger Textauszüge und Kommentierungen zu den Teilen der EU-Verfassung, die sich mit Außen- und Sicherheitspolitik befassen. Verfasser ist Prof. Dr. Albert Fuchs, Mitglied des Redaktionsteams von W&F. Der gesamte Text ist erschienen als Dossier der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden (Heft 4/2004).
Wir haben ihn als pdf-Datei in voller Länge ebenfalls dokumentiert: www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/verf-dossier.pdf


Vorbemerkungen:
  1. Gemäß Beschluss des Europäischen Rats von Laeken im Dezember 2001 hat der sog. Konvent zur Zukunft Europas zum EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 einen Entwurf für einen "Vertrag über eine Verfassung für Europa" (EU-VerfV) vorgelegt und ihn am 18. Juli der italienischen Ratspräsidentschaft überreicht.* Dieser Entwurf ist in vier Teile gegliedert. Teil 1 definiert Ziele, Zuständigkeiten, Organe und Entscheidungsverfahren; Teil 2 enthält die "Charta der Grundrechtre der Union"; in Teil 3 geht es um die Politikbereiche und die Arbeitsweise; Teil 4 beinhaltet "Allgemeine und Schlussbestimmungen", darunter zum Verfahren zur Änderung des Vertrags. Schließlich sind verschiedene Anhänge angefügt, denen ebenfalls Verfassungsrang zugedacht ist. Auf dem Gipfel in Brüssel im Dezember 2003 sollte über den EU-VerfV entschieden werden. Nachdem seinerzeit eine Verabschiedung i.W. an Fragen der Stimmengewichtung bei Beschlüssen mit "qualifizierter Mehrheit" gescheitert war, erreichte man auf der Regierungskonferenz am 17./18. Juni d.J. eine Einigung. Abgesehen von der Regelung der Abstimmungmodalitäten wurde der Konventsentwurf redaktionell überarbeitet, aber auch inhaltlich verändert, nicht zuletzt im militärpolitischen Bereich. So ist i.B. ein "Protokoll über die ständige strukturierte Zusammenarbeit" hinzugekommen.* In der vom Sekretariat der Regierungskonferenz im Internet veröffentlichten "vorläufigen konsolidierten Fassung" vom 06.08.04 wurde der Text schließlich neu durchnummeriert.* Der Vertrag soll am 29. Oktober d.J. von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Staaten in einer feierlichen Zeremonie in Rom unterzeichnet werden.
  2. Bereits in den Vertrag von Maastricht von 1992 wurde das Ziel einer gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aufgenommen. Durch Übernahme der "Petersberg-Aufgaben" der WEU in den Vertrag von Amsterdam von 1997 wurde dieses Ziel differenziert und präzisiert. Zwar existier(t)en innerhalb der EU erhebliche Differenzen bezüglich der zukünftigen sicherheitspolitischen Rolle der Union, dem grundsätzlichen Konsens der Staats- und Regierungschefs über die Stärkung der militärischen Macht Europas aber war das kaum abträglich. Der französisch-britische Gipfel vom Dezember 1998 in St. Malo machte den Weg frei für einen kaum noch verdeckten Militarisierungskurs. In der Abschlusserklärung dieses Treffens wurde verkündet, die Union müsse in der Lage sein, "ihre Rolle in der internationalen Arena voll und ganz wahrzunehmen"; dazu benötige sie "eine autonome Handlungskapazität, unterstützt von glaubwürdigen Streitkräften mit den Mitteln und der Bereitschaft sie zu nutzen", um internationalen Krisen zu begegnen (zit. nach Wehr, 2004, S. 84). Mit der Ratstagung in Köln im Juni 1999 wurde diese Entwicklung durch den Beschluss, entsprechende ständige Strukturen zu schaffen, um einen entscheidenden Schritt weitergetrieben (u.a. Einrichtung eines politischen und sicherheitspolitischen Komitees, eines Militärausschusses und eines Militärstabs, Ernennung des früheren NATO-Generalsekretärs Javier Solana zum "Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik"). Zugleich wurde ausdrücklich festgehalten, dass damit das NATO-Bündnis nicht beeinträchtigt werden solle; die NATO solle im Gegenteil ihre Mittel und Fähigkeiten der Union für deren Aktionen zur Verfügung stellen. Bereits ein halbes Jahr später, auf der Ratstagung von Helsinki im Dezember 1999, wurden die politischen Vorgaben von Köln in konkrete Ziele umgesetzt (u.a. Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bis 2003 eine rasch verlegbare und mindestens ein Jahr durchhaltefähige "Schnelle Eingreiftruppe" in der Stärke von 15 Brigaden (rd. 60.000 Mann/Frau) aufzubauen. Eine Regelung der Zusammenarbeit mit der NATO kam nach langen Verhandlungen auf der Kopenhagener Ratstagung im Dezember 2002 zustande. Die Krönung dieses Militarisierungskurses würde seine endgültige Verankerung im Verfassungsvertrag darstellen.
  3. Der EU-VerfV erfordert allerdings eine Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten. Für den Ratifizierungsprozess werden zwei Jahre veranschlagt; dann will man weitersehen. Damit haben FriedensaktivistInnen, -initiativen und -bewegungen auf absehbare Zeit eine letzte Chance, sich mit der militärpolitischen Seite des europäischen Integrationsprozesses kompetent und zielführend auseinander zu setzen. Die vorliegende Handreichung soll der Unterstützung einer solchen Auseinandersetzung dienen. Die einschlägigen Bestimmungen sind kaum überschaubar über alle Teile des Vertrags verstreut. Die Dramatik der militärpolitischen (Neu-) Orientierung der Union wird aber erst deutlich, wenn man versucht, diese Bestimmungen systematisch zusammenzustellen. Im Folgenden geschieht das unter den Rubriken "Integration durch Militarisierung" - "Mit allen militärmachtpolitischen Mitteln" - "Wohin soll marschiert werden?" - "Wer bläst den Marsch?" und "Wo stehen die 'Noten'?" Innerhalb dieser Rubriken bzw. geeigneter Unterrubriken werden die einschlägigen Artikel in ihrer Abfolge im EU-VerfV wiedergegeben - vielfach bis auf Satzniveau auseinander genommen und unter Inkaufnahme von gelegentlichen Wiederholungen zur Verdeutlichung des sachlogischen Zusammenhangs. Dabei wird die "vorläufige konsolidierte Fassung" zugrunde gelegt.
  4. Die Textwiedergabe (erste Spalte) wird im Folgenden strikt von der Kurzkommentierung (zweite Spalte) getrennt - um die Bestimmungen zunächst sich selbst "erklären" zu lassen und der LeserIn eine unabhängige Meinungsbildung zu erleichtern. Die Zwischenüberschriften stammen vom Bearbeiter; ebenso die in [ ] eingefügten Erläuterungen. Diese Erläuterungen basieren auf dem Kontext der jeweiligen Passage oder der entsprechenden Formulierung im Konventsentwurf. Für die Kommentierung wurden die im Literaturverzeichnis angegebenen Beiträge ausgewertet. Die "Regeln der Kunst" des Zitierens werden bei der Wiedergabe vernachlässigt, da es sich primär um eine Dienstleistung handelt.
  5. Bei Einbezug des gesamten Vertragstextes mögen sich einige Akzente verschieben; i.B. dürfte im Lichte der finanz- und wirtschaftspolitischen Bestimmungen das instrumentalistische Verhältnis der (meisten) Konventsmitglieder und Staats- und Regierungschefs zum Militär- im Sinnes seines Verständnisses als Instrument einer "Politik mit anderen Mittel" - deutlicher hervortreten. Anders gesagt: Die Militarisierung der Union würde vermutlich als letzte Konsequenz einer durchgehenden Orientierung am "Recht des Stärkeren" zu erkennen sein. Der Gesamteindruck eines gigantischen Militarisierungsprogramms würde dadurch also vermutlich eher bestärkt. Durch Einbezug der vom Europäischen Rat bereits im Dezember 2003 verabschiedeten "Europäischen Sicherheitsstrategie" sowie der im Juni d.J. gebilligten "Headline Goal 2010" würde zudem deutlicher, dass die militärpolitischen Konzeptionen des Verfassungsvertrags die außen- und sicherheitspolitische Praxis der Union mehr und mehr konkret bestimmen. Hier kann jedoch nur darauf hingewiesen werden, dass die einschlägigen Artikel des Vertrags auch in diesen Kontexten gelesen werden sollten.
Aus: Wissenschaft und Frieden - Dossier Nr. 47; Beilage zu W&F 4-2004, Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden.

Hier geht es zum gesamten Dossier (pdf-Datei):
www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Europa/verf-dossier.pdf

Das Dossier kann zum Einzelpreis von € 2,- (ab 20 Ex. p.E. € 1,--) bezogen werden:
Informationsstelle Wissenschaft und Frieden, Reuterstr. 44, 55113 Bonn,
Fax: 0228-214924, E-Mail: w-u-f@t-online.de w-u-f@t-online.de



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