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Welche neue Dynamik nach dem Referendum vom 29. Mai?

Von Thomas Coutrot, Attac Frankreich

Die Referendumskampagne zum europäischen "Verfassungsvertrag" hat sowohl die Bedeutung der Themen der Globalisierungskritiker als auch die Vitalität von Attac bewiesen. In den letzten drei Monaten gab es einen Grad an Mobilisierung und Politisierung, den es so in Frankreich schon lange nicht mehr gegeben hat und der letztlich zum überwältigenden "Nein" bei der Abstimmung geführt hat.

Im Gegensatz zur Abstimmung über den Vertrag von Maastricht spielten die souveränistischen und fremdenfeindlichen Thesen keine große Rolle, verglichen mit der Forderung nach einem anderen Europa, nach einem sozialen, ökologischen Europa, das seine Bürger schützen und gleichzeitig solidarisch und weltoffen sein soll. Die Frage des Beitritts der Türkei konnte zwar zu Beginn die Debatte bestimmen, doch mit der Zeit wurden die Verteidigung der öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherungssysteme, die Ablehnung der Herrschaft durch die Finanzmärkte und der Bestrebungen, die Welt als Ware zu behandeln, also die Hauptthemen der Globalisierungskritiker immer zentraler.

Es ging sogar so weit, dass die Befürworter des Verfassungstextes innerhalb der Linken zugeben mussten, dass die Debatte Befürworter eines neoliberalen und die eines sozialen Europa gegenüberstellte.

Attac Frankreich hat eine entscheidende Rolle bei der Themensetzung der Kampagne gespielt. Es sollte aber trotzdem berücksichtigt werden, dass Attac dabei bei weitem nicht alleine war: Alle Parteien und Strömungen der Linken, die für ein "Nein" waren und vor allem die Hunderten von lokalen Bürgerinitiativen, die auf Initiative des "Appells der 200" der "Fondation Copernic" zustande kamen, haben zu dieser Ausrichtung der Debatte beigetragen.

Zweifellos jedoch haben die Ortsgruppen von Attac mit ihrer Erfahrung und mit ihrer Verwurzelung, deren Vernetzungen in den letzten Jahren mit den sozialen Bewegungen und der Bewegungen für eine andere Welt Attac zur "Speerspitze des linken Neins" (Le Monde 02/05/05) gemacht.

Wie soll sich Attac jetzt positionieren, wo die neue politische Situation ganz offensichtlich auch eine neue Verantwortung zuweist?

Um diese Frage zu beantworten sollten wir uns noch einmal bewusst machen, welchen Platz die globalisierungskritische Bewegung in Europa einnimmt und welche Rolle Attac darin spielt. Es gibt darüber innerhalb von Attac keinen Konsens aber eine Klärung wird sich in den nächsten Monaten als sehr wichtig erweisen.

Die Entwicklung der globalisierungskritische Bewegung: Ein Strohfeuer?

Nachdem sich die globalisierungskritische Bewegung in den Jahren 1998 bis 2001 sehr schnell entwickelte, vor allem nach den Gipfeln von Seattle und Genua und den ersten Weltsozialforen von Porto Alegre, scheint sie – wie auch attac - auf der Stelle zu treten.

In Europa hat sich die neoliberale Politik verschärft und das trotz der starken Mobilisierung sozialer Bewegungen in Frankreich, Italien und Deutschland.

Die Antikriegsbewegung, die auf Initiative des Europäischen Sozialforums von Florenz am 15. März 2003 Millionen von Menschen zur größten Antikriegsdemonstration der Weltgeschichte mobilisiert hat, hat trotzdem den Irakkrieg und die Wiederwahl von Bush nicht verhindern können.

Das Durchsetzen sicherheitsstaatlicher und militaristischer Politik nach den Anschlägen des 11. Septembers hat einen beispiellosen Angriff auf die Grundrechte in Gang gesetzt (Patriot Act in den USA, Antiterrorgesetze in Europa). Die herrschenden Klassen instrumentalisieren die Angst, um vom Legitimitätsverlust der neoliberalen Politik abzulenken, die zu mehr Armut und Ungleichheit führt.

Die Entwicklung der globalisierungskritischen Bewegung (und vor allem der Beginn einer Zusammenarbeit zwischen sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften) wurde in den USA durch den Antiterrorkonsens stark behindert, was nicht ohne Auswirkungen auf die weltweite Entwicklung blieb.

In Brasilien hat die sozial-liberale Politik der Regierung Lula, an der auch die Linke PT beteiligt ist, die Glaubwürdigkeit alternativer Politik zum Neoliberalismus beschädigt, da die brasilianische Linke sehr stark an der Gründung des WSF beteiligt war.

Es wäre jetzt aber zu früh zu sagen, die globalisierungskritische Bewegung hätte sich erschöpft. Jenseits der Schwierigkeiten, die sie bei der Einflussnahme auf die Politik hat, wird diese Bewegung immer breiter und immer tiefer verwurzelt. Ausgehend von ihren Gründungsbewegungen (NGOs mit Schwerpunkt internationale Solidarität, Menschenrechte, die Bauernbewegung von Via Campesina, usw.) zieht sie immer neue Bewegungen an (Feministinnen, ethnische Minderheiten, Armenbewegungen...) und kann nicht länger von den großen Gewerkschaften ignoriert werden. Diese (wie der europäische Gewerkschaftsdachverband CES) müssen nun besonders für transnationale Mobilisierungen mit Globalisierungskritikern zusammenarbeiten. Parallel dazu breitet sich die Bewegung auch geographisch aus, was sich am Erfolg des Forums von Mumbai und der vorrausichtlichen Entwicklung in Afrika zeigt.

Die Hypothese einer strategischen Rolle der Globalisierungskritiker könnte eine langfristige Orientierung für Attac bieten. Gemäss dieser Hypothese – die innerhalb von Attac allerdings nicht unwidersprochen bleibt – wäre die gegenwärtige globalisierungskritische Bewegung die Vorläufer einer großen weltweiten internationalistischen Emanzipationsbewegung, die in der Lage wäre, die Arbeiterbewegung zu integrieren, die durch Arbeitslosigkeit und Prekarität geschwächt ist, auch nicht fähig ist, den nationalen Rahmen wirklich zu überschreiten und dessen Führer zu einem großen Teil von den neoliberalen Eliten kooptiert wurden.

Die globalisierungskritische Bewegung ist, im Gegensatz zur Arbeiterbewegung, nicht auf einem Klassengegensatz begründet. Sie will die gemeinsamen Interessen der gesamten Menschheit gegen die Raubzüge des Kapitals und der Technowissenschaft wahrnehmen. Sie ist in Kämpfen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene verwurzelt, verfügt aber über eine globale Vision und Struktur: Es geht darum "lokal zu handeln und global zu denken", so diese berühmt gewordene Formel. Sie könnte neben dem bestehenden neoliberalen einen neuen alternativen und sozialen historischen Block hervorbringen, wo sich die prekarisierten unteren Schichten die mittleren Arbeitnehmerschichten und deren Organisationen, die Frauen-, Bauern- und Umweltbewegungen, die Initiativen für einen fairen Handel usw. zusammenschließen könnten.

Für einen konstitutiven Prozess in Europa

In Europa könnte die Niederlage der Europäischen Verfassung und die nunmehr offene Krise des Aufbaus Europas das Europäische Sozialforum zu einem neuen Aufschwung und einer neuen Rolle verhelfen. Dieser ist heute ein Ort der Begegnung und des Austausches für alle sozialen Bewegungen des Kontinents, inklusive der Gewerkschaften, die nach Alternativen zur Vorherrschaft der Kriegs- und Finanzlogik suchen. Er stellt einen Vorposten der europäischen Zivilgesellschaft, die sich unabhängig von wirtschaftlichen und staatlichen Machtstrukturen organisiert.

Während der unter Führung von Giscard d’Estaing gestellte Konvent - ein undurchsichtiges und bunt zusammengesetztes, unter Kontrolle der neoliberalen Kräfte stehendes Konglomerat -beim Versuch gescheitert ist, eine konstitutive Prozedur mit einem minimalen Anschein von Legitimität vorzutäuschen, könnte sich das ESF zwar nicht als Europäische Verfassungsgebende Versammlung aufspielen – dazu fehlt ihm offensichtlich die einzig und allein von der allgemeinen Wahl ausgehende Legitimität – aber doch sich zumindest als permanentes Forum mit dem Ziel der Initiierung eines konstitutiven, von den Überlegungen und alternativen Vorschlägen aus allen Sozial- und Bürgerbewegungen in allen europäischen Ländern genährten Prozesses einrichten.

Es könnte, wie René Passet es vorgeschlagen hatte, in Frankreich und Europa die Abfassung von "cahiers de doléances" (Klageheften) und die Abhaltung von Generalversammlungen organisieren, bei denen die Grundzüge einer alternativen Politik zum Neoliberalismus erarbeitet würden.

Nur ein massives Eingreifen der Bürger und deren direkte Beteiligung an der Ausarbeitung von alternativen Richtlinien können den Aufbau Europas auf neue Bahnen bringen und zum neuen Aufschwung verhelfen. Die Zeit ist vorbei, in der undurchschaubare zwischenstaatliche, in Brüsseler Korridoren von Unternehmer- bzw. gewerkschaftlichen Lobbys vorangetriebenen Verfügungen ausgehandelt und dann den Bürgern als "einzige Lösung für das Europa von morgen " verkauft wurden.

Natürlich wird ein derartiger konstitutiver Prozess erst nach grundlegenden politischen Veränderungen in den wichtigsten Ländern der Europäischen Union Erfolg haben. Jene würden dann die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung Europas auf die Tagesordnung setzen, und dies kann keine kurzfristige Perspektive sein. Dafür müssen mehrheitsfähige politische Koalitionen entstehen, die auf den sozialen und ökologischen Bestrebungen der Bevölkerung basieren und die die Zwangsjacke der von Kapital- und Finanzwelt aufgezwungenen neoliberalen Politik zurückweisen. Aber diese Koalitionen werden erst dann glaubwürdig erscheinen, wenn sie in mehreren wichtigen Ländern gleichzeitig entstehen und sich koordinieren, um gemeinsam ein einheitliches Konzept zum Aufbau Europas vorstellen. Das ESF könnte einen guten Nährboden zur Ausarbeitung solcher Alternativen auf Grund der Erfahrungen und Forderungen sämtlicher europäischer Sozialbewegungen liefern. Das würde eine neue Form der Verbindung zwischen Politik und Soziales voraussetzen – weder Unterwerfung, noch Gleichgültigkeit, stattdessen Austausch und flexible Koordination.

Welche Rolle für Attac nach dem 29. Mai?

Die Entscheidungen, die Attac Frankreich in dieser neuen Situation treffen wird, werden für die spätere Entwicklung von großer Bedeutung sein. Zunächst weil Attac Frankreich ein Laboratorium von Ideen und ein Koordinationsinstrument ist, das seinesgleichen sucht, aber auch weil die sozialen Bewegungen Attac brauchen. Dann wegen des europaweit strukturierten Netzwerkes Attac, das in der oben skizzierten Situation von großer Bedeutung sein wird.

Dabei gibt es innerhalb von Attac zwei unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle dieses Verbandes.

Für die gegenwärtige Führung ist Attac vor allem eine Organisation, die man weiter aufbauen und die sich als solche behaupten sollte. Attac sollte wegen seiner Repräsentativität und wegen seiner weiten Perspektiven innerhalb der sozialen Bewegungen die Hegemonie anstreben, und sich davor hüten, in undeutlich definierte Gruppierungen aufzugehen. Attac sollte seine eigene Herangehensweise und seine eigenen Themen unermüdlich weiter entwickeln, mit dem obersten wenn nicht gar einzigen Ziel, neue Mitglieder zu gewinnen. Der Verband definiert sich weder als rechts noch links, in der Hoffnung so auch bis ins rechte Wahlspektrum hinein an Einfluss zu gewinnen. Er sollte eine Lobby bilden, die durch die Mittel der Volksaufklärung und der Bewusstseins-Schärfung der Wähler die Linke zum Bruch mit dem Neoliberalismus bewegen würde. Attac sollte sich also um so mehr von der extremen Linke abgrenzen, als seine Positionen denen so nah sind; Attac sollte sich von allen Sammlungsbestrebungen bzw. Neugruppierungen am linken Rand der Linke fernhalten und stattdessen auf die linken Regierungsparteien Einfluss nehmen, ohne jene zu destabilisieren.

Eine andere Vorstellung wurde in einem Text verteidigt, der im Dezember 2004 von Mitgliedern des wissenschaftlichen Rates von Attac unterzeichnet wurde ("Beginn einer neuen Etappe: Attac innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung", www.france.attac.org/a3731, siehe SiG 42).

Nach dieser Vorstellung ist Attac mehr ein Werkzeug im Dienste der Entwicklung der globalisierungskritischen Bewegung als ein Selbstzweck. Die Identität von Attac wäre demnach nicht, als oberstes Ziel ihren eigenen Aufbau zu betreiben, sondern seine Fähigkeit, die Überlegungen und Vorschläge der Globalisierungskritiker voran zu treiben sowie deren Kohärenz und Stichhaltigkeit zu belegen.

Einzigartig durch seine Fähigkeit, Aktivisten und Bürger aus allen verschiedenen Richtungen der linken Parteien, Verbände und Gewerkschaften innerhalb der Gründerkollegs sowie der Ortsgruppen zusammenzubringen, dürfte Attac kein neuer weiterer Verein sein, sondern sich als ein Katalysator und Förderer im Dienste einer kollektiven Dynamik der sozialen Bewegungen stellen.

Der Verband sollte seine Aktionen nicht selber beschneiden, indem sie an den Interessen oder dem Einfluss gewisser Strömungen innerhalb der Linken oder der Gewerkschaften angepasst werden, sondern permanent nach Aktionsformen und Zusammenschlüssen suchen, die es den sozialen Bewegungen ermöglichen, voran zu schreiten und in der Durchsetzung ihrer eigenen Ziele voranzukommen – Demokratie, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, internationale Solidarität, Umweltschutz...

Diese Debatte wird an der Kampagne über den Verfassungsvertrag besonders deutlich. Die Führung von Attac hat zunächst gezögert, sich dem breiten Bündnis im Sinne des "Appell der 200" anzuschließen. Sie hat vor allem versucht, eine eigene Attac-Kampagne auf die Beine zu stellen, musste aber bald einsehen, dass die Ortsgruppen bereits sehr aktiv in den gemeinsamen Bündnissen mit anderen zusammenarbeiteten. Jetzt wo die Referendumskampagne beendet ist, ist die Versuchung stark, diese Bürgerinitiativen aufzulösen, die "ihre Aufgabe erfüllt" haben sollen. Sie werden nämlich sehr misstrauisch beäugt, gelten sie doch entweder als sehr leicht zu manipulieren und/oder als unkontrollierbar, vor allem aber als potentiell gefährliche Konkurrenten.

Für andere hingegen innerhalb von Attac bilden diese Bürgerinitiativen einen möglichen und vielleicht unersetzlichen Rahmen zur Fortsetzung der Dynamik der Referendums-Kampagne und Einleitung eines Mobilisierungsprozesses von unten zur Erarbeitung von Alternativen. Die Auflösung dieser Gruppen bzw. die Aufforderung, sich Attac anzuschließen wäre ein großer politischer Fehler und ein Ausdruck von Sektierertum und Hegemoniestreben.

Diese Bürgerinitiativen haben in der Kampagne bewiesen, dass sie ausgehend von den alltäglichen Problemen der breiten Volksmassen eine mehrheitsfähige Bewegung aufbauen können. Natürlich sollte vermieden werden, dass sie im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2007 manipuliert und gesteuert werden, also in den Dienst einer Präsidentschaftskandidatur aufgehen, die sich als "echte Linke", "100% Links" oder als "Antiliberale Linke" gibt. Aber indem Attac ihnen weitere Ziele vorschlägt, dank seiner Erfahrungen ihre Fähigkeit zur Ausarbeitung von Analysen und Vorschlägen erhöht und zur internationalen Vernetzung zwischen den Mobilisierungen für ein anderes Europa beiträgt, wird Attac wirklich seine Rolle als Forschungsinstrument und Ideenkiste spielen können. Eine unersetzliche und strategische Rolle in einer Zeit voller Verheißungen, die sich mit dem 29. Mai 2005 eröffnet hat.

2.6.05

COPYLEFT Attac* Österreich
* Association pour une taxation des transactions financières pour l´aide aux citoyens

Quelle: www.attac.at



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