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Stockholmer Mammutprogramm für den EU-Rat

Schweden will in seiner Präsidentschaft ab Mittwoch weit über 3000 Treffen durchführen

Von André Anwar, Stockholm *

Am 1. Juli übernimmt Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt die EU-Ratspräsidentschaft. Er will neben der Bewältigung der Wirtschaftskrise auch den Umweltschutz nicht vernachlässigen und den Vertrag von Lissabon durchsetzen.

Eine Bannmeile gibt es um die schwedische Regierungskanzlei in Stockholm nicht. Deshalb haben sich nur 30 Meter vom Bürofenster von Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt Fußballspieler mit ausgestreckten gelben Karten in der Hand und einem großen Schild aufstellen können. Auf dem Schild steht, dass der rechtsliberale Ministerpräsident und seine bürgerliche Vierparteienkoalition nicht die Umweltpolitik in Brüssel links liegen lassen dürften, wenn er am Mittwoch die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Die Fußballspieler sind eigentlich Greenpeace-Aktivisten und ihre Befürchtung ist gerechtfertigt. Denn Reinfeldt hat ein Mammutprogramm für seine sechs Monate an der EU Spitze aufgestellt. Rund 3300 Treffen soll Schwedens Premier laut Berechnungen der schwedischen Tageszeitung »Svenska Dagbladet« schon minutiös eingeplant haben. Über allen Themen hängt die Wirtschaftskrise. EU-Länder wie Lettland stehen kurz vor dem Staatsbankrott. Islands regierende Sozialdemokraten wollen wegen des Zusammenbruchs des heimischen Bankensektors und der eigenen Währung schon nach dem Sommer über einen Beitritt verhandeln. Auch der umstrittenen türkischen EU-Mitgliedschaft will Reinfeldt kräftig auf die Sprünge helfen. Die Gespräche seien von »größter strategischer Bedeutung für Europa«, sagte er kürzlich in Stockholm und wies darauf hin, dass die Türkei ein wichtiges Transitland für Öl und Gas nach Europa sei.

Um die Finanzkrise in Europa zu bewältigen, will Reinfeldt nun, nachdem überall Konjunkturpakete auf Kosten der Staatskassen geschnürt worden sind, wieder zu mehr Haushaltsdisziplin in den EU-Ländern beitragen. Nur zu gut weiß er, dass sich teure staatliche Rettungsaktionen zu einem unüberschaubaren Problem auswachsen können. Das musste Schweden in den 90er Jahren nach dem Zusammenbruch des Immobilienmarktes erfahren. Dass Reinfeldt nicht bereit ist, mehr Geld auszugeben, zeigte sich auch zu Hause: Seine Regierung war trotz des enormen Drucks aus Wirtschaft, Gewerkschaften und Opposition nicht bereit, die Traditions-Automarke Saab mit Staatsgeldern zu retten. Die kürzliche geglückte Saab-Rettung ohne staatliche Riesenkredite gaben ihm nachträglich Recht.

Doch auch der Umweltschutz -- genauer: die Klimapolitik -- wird mit Macht in die Agenda Reinfeldts drängen. Im Dezember soll in Kopenhagen beim Weltklimagipfel ein Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll abgeschlossen werden. Die EU war bisher stets die treibende Kraft. Stockholm muss bis zum Beginn des Gipfels erreichen, dass die EU-Länder eine echte finanzielle Solidarität mit den Schwellen- und Entwicklungsländern zeigen. Reinfeldt sieht Schweden als gutes Vorbild in der Bekämpfung des Klimawandels. Seit 1990 ist die Wirtschaft um knappe 50 Prozent gewachsen, gleichzeitig konnte der Kohlendioxidausstoß um 10 Prozent gesenkt werden. Für den Fall, dass es beim Klimagipfel nicht zu einer Einigung kommt, schiebt Reinfeldt allerdings bereits vorsorglich den Schwarzen Peter den USA und China zu. Beide müssten endlich ihren Teil beitragen.

Auch zwei interne EU-Entscheidungen werden Reinfeldt beschäftigen: Im Herbst sollen die Iren zum zweiten Mal entscheiden, ob sie den EU-Vertrag von Lissabon annehmen. Ein zweites Nein würde erneut eine institutionelle Krise der EU auslösen. Und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der gern sein eigener Nachfolger werden würde, muss noch vom EU-Parlament wiedergewählt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Juni 2009


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