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"Kluge Macht" statt Interventionsmacht

Ein Blick auf zukunftsfähige und zivile Ansätze einer europäischen Sicherheitspolitik

Von Thomas Roithner*

Nachdem die NATO-Bomben 1999 auf Jugoslawien fielen und die EU dies als „notwendig und gerechtfertigt“ erklärte wurde sie vielerorts eingefordert. Auch nach den Terroranschlägen des 11.9.2001 in den USA und dem folgenden Bombardement Afghanistans wurden diesbezügliche Stimmen laut. Der 2003 begonnene Irak-Krieg der USA und ihrer Koalition der Willigen hat die EU zu tiefst gespalten und auch hier war der Ruf nicht zu überhören: Eine von den USA deutlich unterscheidbare alternative und überwiegend zivil funktionierende vorbeugende EU-Außen- und Sicherheitspolitik. Die letzten Jahre haben die EU aber weniger zu sichtbaren Alternativen einer zunehmend imperial agierenden USA geführt, sondern waren Katalysatoren, um das „Friedensprojekt EU“ zu militarisieren.

Herausforderungen
Die 2003 beschlossene EU-Sicherheitsstrategie „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ hat als globale Herausforderungen u.a. Armut, Hunger, Unterernährung, Ungerechtigkeit, Flüchtlinge oder die globale Erwärmung festgestellt und gleichzeitig konstatiert, dass größere Angriffe auf die Mitgliedstaaten der Union unwahrscheinlich geworden sind. Diesem Teil der EU-Sicherheitsstrategie ist zuzustimmen und als Basis für eine nachhaltige Sicherheitspolitik zu betrachten.

Zeitgemäße Sicherheitspolitik beruht gemäß der österreichischen Doktrin des Jahres 2001 „auf der gemeinsam mit Partnern vorgenommenen Reduzierung eigener Verwundbarkeiten.“ Im Gegensatz zu der im Kalten Krieg viel diskutierten gemeinsamen Sicherheit wird hier Sicherheitspolitik gegen und nicht mit anderen betrieben. Dies ist kein theoretisches Gedankenspiel, sondern unterscheidet die Politik militärischer Beistandspakte gegenüber der Politik multilateraler Organisationen wie den Vereinten Nationen (UNO) oder der Organisationen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und somit die Art und Weise, wie auf globale Probleme reagiert wird.

Militarisierung
Seit dem Kosovo-Krieg 1999 haben sich die Konturen der EU augenscheinlich verändert. Eine 60.000 SoldatInnen starke Interventionstruppe für humanitäre Aufgaben bis zu mittlerweile globalen Kampfeinsätzen wurde ins Leben gerufen. Defensive Gebietsverteidigung wird in den Militärdoktrinen der Mitgliedstaaten und der Union durch offensiven Interventionismus ersetzt. Den anfänglich selbst Hardlinern illusorisch klingenden Konzepten einer gemeinsamen EU-Rüstungsindustrie folgen nunmehr Taten und werden durch die verfassungsmäßige Aufrüstungsverpflichtung und ein Rüstungsamt ergänzt. Bis 2010 werden EU-Flugzeugträger und weltraumgestützte Kommunikation aufbaut. Aus den Puzzleteilen einer Interventionsmacht von 1999 wird ein erkennbares Bild. Die „battle groups“ als Speerspitze für EU-Miltärinterventionen in Wüsten, Hochgebirge, Dschungel und Städten bilden ein zentrales Element. Das Eurofighter-Rüstungskonsortium EADS geht mit Hilfe von NATO-Berechnungen davon aus, dass im Jahr 2010 die Rüstungsausgaben der USA und der EU rund 50 % über dem Hoch des Kalten Krieges liegen werden.

Den Probegalopp für die globalen EU-Ambitionen bilden die Militäreinsätze am Balkan und im Kongo. Zur Frage der Entwicklung des Charakters der Außenpolitik hat der Vorsitzende des EU-Militärausschusses, General Gustav Hägglund, ausgeführt: „Man hat gesagt, die USA werden den Krieg führen und die EU wird für den Frieden zuständig sein. (...) Das war so und bezieht sich auf die Vergangenheit, aber das stimmt für die Zukunft nicht.“ Der Begriff der Verteidigung wird in diesem Zusammenhang zu einem Orwell’schen Begriff, wenn europäische Armeen für den Zugang „zu strategischen Rohstoffen, der Aufrecherhaltung freien Handels und der Schiffahrt“ zuständig sein sollen, wie auch das Verteidigungsministerium dargelegt hat.

Zivile Aufgaben – zivile Lösungen
Die in der EU-Sicherheitsstrategie genannten Herausforderungen sind überwiegend ziviler Natur und verlangen zivile Bearbeitungsmöglichkeiten. Genau für jene Aufgaben der Armutsbekämpfung, des Welthungers, der Flüchtlingsproblematik oder der globalen Umweltzerstörung hat die UNO (Umweltprogramm, Welternährungsprogramm u.v.a.) auf Ebene der Staatenwelt vielfältigste Lösungsansätze erarbeitet.

Militär als Teil des Problems ...
Der Terror des 11.9.2001 hat auch eine aggressive und imperiale Außen-, Wirtschafts- und Militärpolitik als Ursache. Die Reformkommission des Bundesheeres hat festgestellt, dass durch die „Führungsverantwortung in internationalen Krisenreaktionseinsätzen (...) die Motivlage für terroristische Anschläge im Falle einer Beteiligung Österreichs“ verändert wird. Eine deutliche Absage an globalen Militärinterventionismus ist daher nur ein Teil der Lösung.

... und Möglichkeit der Stabilität
Die Konsequenz dieser zivilen Herausforderungen ist ein Bedeutungsverlust der Armeen. Diese haben jedoch in einer ernsthaft multilateral aufzubauenden globalen Ordnung – und dazu gehört auch eine veränderte Zusammensetzung des UN-Sicherheitsrates – die Aufgabe, peace-keeping-Aufgaben mit einem klaren UN-Mandat zu übernehmen. Derartige Aufgaben wie in Zypern und den Golan-Höhen vermitteln nicht den Eindruck eines unzulässigen Interventionismus, sondern sorgen für Stabilität.

Neue Prioritäten
Von zentraler Bedeutung ist die Umkehrung der Prioritätensetzung zwischen Militärischem und Zivilem in der EU. 60.000 SoldatInnen stehen nach den EU-Beschlüssen von 1999 einem Pool von 5000 Personen gegenüber, die für zivile Aufgaben eingesetzt werden können. Zu den veränderten Prioritäten zählt nicht nur der Ausbau und die Schulung derartiger EU-Kapazitäten, sondern auch der politische Willen der EU und vor allem der Mitgliedstaaten, diese Kräfte auch zum Einsatz zu bringen und derartige Missionen politisch auf allen Ebenen zu unterstützen. Wenngleich in den Einsatzbereichen Polizei, Rechtstaatlichkeit, Zivilverwaltung und Zivilschutz große Fortschritte erzielt wurden, ist der verstärkte Ausbau eine Notwendigkeit. Die Ausbildung derartiger ziviler Kräfte für EU-Einsätze findet u.a. am Friedenszentrum Burg Schlaining im Burgenland statt.

Internationale Ordnung
Der Ausbau ziviler Kapazitäten muss Hand in Hand mit der Neuordnung der Strukturen der internationalen Beziehungen im Sinne der Durchsetzung der UN-Millenniumsziele erfolgen. Ein Wirtschaftssystem, welches Armut und Ungerechtigkeit fortschreibt ist nicht friedens- und zukunftsfähig. Der Ökonomie-Nobelpreisträger Stiglitz meint: „Die Strukturanpassungspolitik (...) führt in vielen Ländern zu Hunger und Ausschreitungen“. Das bescheidene Wachstum kam „überproportional den Begüterten in den Entwicklungsländern zugute, während es den Bedürftigen manchmal noch schlechter ging.“

Während die mittlerweile am Widerstand der Bevölkerung gescheiterte EU-Verfassung keine Aussagen über die Legitimität von Krieg oder die Zukunft der britischen und französischen Atomwaffen trifft, wäre ein funktionierender Multilateralismus nicht nur im Interesse der EU, sondern auch im Interesse Österreichs. Gerade die im UN-Standort Wien befindliche und mit dem Friedensnobelpreis 2005 ausgezeichnete Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) würde durch ein Ankurbeln der seit Jahren im Stillstand befindlichen UN-Abrüstungskonferenzen in Genf mehr Gewicht bekommen. Eine Koalitionsbildung zur Abrüstung ist kein Beitrag zur Destabilisierung, sondern zur Stärkung der multilateralen Ordnung. Daher scheint es auch nicht weiter verwunderlich, wenn im Iran die zur vollständigen Abrüstung verpflichteten EU-Atomwaffenstaaten oftmals nicht als ehrliche Makler für Abrüstung betrachtet werden.

„Kluge Macht“
Die Stärke der EU sollte in der diplomatischen und ökonomischen Kraft liegen. Nicht militärisch zu intervenieren bedeutet nicht, im Abseits zu stehen. Im Sinne von Ernst-Otto Czempiels „Kluger Macht“ wären vielmehr soziale, wirtschaftliche oder politische gewaltfreie Einmischungen durch staatliche, nichtstaatliche und internationale Akteure zum Aufbau einer „möglichen anderen Welt“ von Nöten. Die zivil-militärische Kooperation stellt im diesem Zusammenhang gegenwärtig ein Einfallstor dar, um Militärs für Aufgaben zu legitimieren, die sie in stabilen Demokratien aus guten Gründen nicht wahrnehmen sollen. Dies reicht vom Einsatz bei Demonstrationen, bei der Terrorbekämpfung statt der Stärkung von Polizei und Justiz oder der Aushöhlung des Neutralitätsprinzips von Hilfsorganisationen wie z.B. der Caritas in Afghanistan.

Sicherheitspolitischer Pluralismus
Die Stabilität der internationalen Beziehungen ist durch ein Geflecht von Institutionen geprägt. Die UNO oder die OSZE sind dabei von zentraler Bedeutung. Auch die fünf EU-Neutralen haben in Fragen der Entwicklungspolitik, der Abrüstung, der Beziehungen zu Nordafrika, der Tradition des politischen Brückenbaus in aktuelle und einstige Konfliktregionen oder die Erfahrungen im UN-peace-keeping alternative Sichtweisen in die Außenpolitik der EU einzubringen. Die EU-Tendenzen zur Selbstmandatierung und zur Marginalisierung der UNO, der OSZE, der Neutralen und vor allem zivilgesellschaftlicher Bewegungen gefährden den sicherheitspolitischen Pluralismus und sind für die EU ein Elchtest zwischen einer zivilen Friedensordnung und militärischem Muskelspiel.

* Dr. Thomas Roithner ist Wissenschafter am Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK Burg Schlaining), Außenstelle Wien

Der Beitrag erschien am 3. November 2005 (Nr. 44, 61. Jahrgang) im Dossier „50 Jahre Neutralität“ der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ auf Seite 23. Siehe auch www.furche.at


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