OSZE – Sicherheitsarchitektur im Schatten der NATO
Was wird aus der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa?
Von Hans Voß *
Die OSZE und die NATO müssten in vielen Bereichen enger zusammenarbeiten, erklärte NATOGeneralsekretär
Anders Fogh Rasmussen am Donnerstag in Wien auf der jährlichen
Sicherheitskonferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Beide seien
wesentliche Bestandteile einer europäischen Sicherheitsarchitektur und teilten das Ziel, »eine freie,
demokratische und unteilbare Sicherheitsgemeinschaft zwischen Vancouver und Wladiwostok zu
schaffen«. Eine Bestandsaufnahme.
Noch vor kurzer Zeit war die europäische Sicherheitslandschaft von heftigen Auseinandersetzungen
geprägt. Die USA – angetrieben von einer aggressiven Politik der Administration Georg W. Bushs –
forcierten die Einkreisung Russlands. Die NATO wurde schrittweise nach Osten ausgedehnt, sie
setzte sich in Staaten rings um Russland fest, etwa im Kaukasus. Zugleich wurde der Bau eines
Raketenabwehrsystems geplant, ebenfalls in russischen Nachbarstaaten. Man intensivierte eine
feindselige Polemik gegen die Kreml-Führung. Teil dieser Bemühungen war es, die einzige
gesamteuropäische Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in ein antirussisches Element
umzufunktionieren.
Erst mit dem Amtsantritt von USA-Präsident Barack Obama änderte sich das Bild. Die Ausdehnung
der NATO wurde verlangsamt, die antirussische Polemik vermindert. Auf dem Gebiet der Abrüstung
wurden wichtige Vereinbarungen mit Moskau getroffen. Man sagte zu, die Raketenabwehrpläne
einer generellen Prüfung zu unterziehen und Russland am Klärungsprozess zu beteiligen. Innerhalb
der OSZE wurde in Gestalt des sogenannten Korfu-Prozesses ein neuer Dialogstrang geschaffen, in
dem alle relevanten Sicherheitsfragen auf die Tagesordnung kommen sollen. Zu dieser Entwicklung
trug maßgeblich bei, dass Russlands Präsident Dmitri Medwedjew mit seinem Vorschlag für einen
neuen Sicherheitsvertrag für Europa wichtige Denkanstöße lieferte.
Kooperation statt Konfrontation
Die NATO verabschiedete auf der Gipfelkonferenz in Lissabon 2010 ein neues strategisches
Konzept, das für die nächsten zehn Jahre gelten soll. Die OSZE organisierte nach einer
Unterbrechung von elf Jahren erstmals wieder eine Gipfelkonferenz, auf der gleichfalls die Zukunft
der Organisation auf der Tagesordnung stand. Die Weichen der Sicherheitspolitik in Europa könnten
von Konfrontation auf Kooperation gestellt werden. Wird die NATO ihre Ansprüche tatsächlich
zurückschrauben und der OSZE ein größeres Gewicht zuordnen? Wird wirklich Kurs genommen auf
die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Sicherheitssystems, in dem alle Staaten über den
Zustand gleicher Sicherheit verfügen? Noch fehlt es in der Praxis am allgemeinen
Harmoniebedürfnis. Zwar sind atmosphärische Verbesserungen zu registrieren, fundamentale
Veränderungen vorhandener Strukturen aber nicht in Sicht.
Vor allem, weil sich an der Grundausrichtung der NATO nichts ändern soll. Die Allianz bleibt auch
nach der Verabschiedung des neuen strategischen Konzepts ein Militärbündnis mit globalen Ansprüchen. Eine Übergabe sicherheitspolitisch relevanter Verantwortlichkeiten an die OSZE erfolgt
nicht. Wie bisher will man über das Paktgebiet hinaus agieren. Dazu gehört auch die enge
Zusammenarbeit mit Nichtmitgliedstaaten, ähnlich wie in Afghanistan, wobei aber an der
Führungsrolle der NATO nicht gerüttelt wird. Ausdrücklich wird im neuen Konzept der Grundsatz
betont, dass jeder Staat unter festgeschriebenen Bedingungen Mitglied der NATO werden kann. Die
Ukraine und Georgien werden als Kandidaten genannt, eine rasche Entscheidung über ihren Beitritt
stehe jedoch nicht an.
Zu den grundlegenden Elementen zukünftiger Paktpolitik gehören:
-
Beendigung des militärischen Engagements in Afghanistan;
- Festhalten am Besitz von Kernwaffen, solange andere Staaten über solche Waffen verfügen,
- Verhinderung der Weiterverbreitung von Kernwaffen, u.a. durch eigene Abrüstungsanstrengungen;
- Verhinderung eines Cyberkrieges;
- Kampf gegen den Terrorismus und die internationale Piraterie.
Besonderes Gewicht wird die NATO auch in Zukunft auf die Errichtung eines
Raketenabwehrsystems legen. Es soll sich um eine Einrichtung des Nordatlantik-Paktes handeln,
Russland aber in die Planungen einbeziehen. Seine Teilnahme ist jedoch keine Bedingung.
Russlands Schlüsselrolle
Wenn von Neuerungen im europäischen Sicherheitsgefüge gesprochen wird, dann ergeben sie sich
also nicht dadurch, dass sich die NATO ändert. Anstöße ergeben sich aus der Art und Weise, wie
die NATO, insbesondere die USA, mit Russland umgehen. Es wird zwar nicht die Tür für eine neue
europäische Sicherheitsarchitektur geöffnet. Auch wird Russland nicht etwa eine NATOMitgliedschaft
in Aussicht gestellt. Aber das verständnisvollere Eingehen auf russische
Sicherheitsinteressen macht in Moskau Eindruck. Zu den Gesten gehört nicht zuletzt die
Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates, der inzwischen mehrmals getagt hat und sich auf das
Raketenabwehrsystem konzentriert.
Natürlich ist zu fragen, wie dauerhaft und verlässlich die Avancen des Westens sind. Zweifel sind vor
allem angesichts der unklaren Zukunft von USA-Präsident Barack Obama angebracht. Seine
Schwäche in finanziellen Fragen ist unübersehbar. Man muss sich zugleich fragen, wie lange die
Führung in Moskau der Eskalation der NATO-Gewalt in Libyen tatenlos zusieht. Es fällt auf, wie
zurückhaltend die russische Führung das Vorgehen der Allianz verfolgt. Geht das Interesse an einer
Unterstützung Obamas und seiner Wiederwahl so weit, dass man nicht nur ein Auge, sondern gleich
zwei zudrückt?
Und die OSZE? Immerhin waren im Dezember vergangenen Jahres 38 Staats- und
Regierungschefs der Einladung zur Gipfelkonferenz nach Astana, der Hauptstadt Kasachstans,
gefolgt. Obama ließ sich durch Hillary Clinton vertreten, ein Umstand, der mancherorts als
Desinteresse an europäischen Fragen gedeutet wurde. Zur Bedeutung dieses Gipfels gibt es
unterschiedliche Wertungen. Einerseits wird betont, dass es keine greifbaren Ergebnisse gegeben
habe. Im Wirken der OSZE sei keine Wende eingetreten. Die Signale für die Zukunft seien folglich
zu schwach. Andererseits wird allein die Tatsache der Gipfelkonferenz als bedeutsam hingestellt. Es
sei gelungen, die Stagnation in Sachen Gipfeltreffen zu überwinden.
Hinzu kommt, dass eine politische Deklaration verabschiedet worden ist, die die wesentlichen
Grundregeln der OSZE bestätigt. Das sei deshalb wichtig, weil zum ersten Mal nach der
Verabschiedung der Charta von Paris im Jahre 1990 ein solches Grundsatzdokument auf höchster
Ebene beschlossen worden ist. Die Kritiker wenden ein, dass es jedoch nicht gelungen sei, den
vorbereiteten 16-seitigen Aktionsplan zu verabschieden. Er ist am Veto Georgiens gescheitert,
während Russland und die USA bereit gewesen wären, dem Vorhaben zuzustimmen.
Doch mit dieser Blockade sind die einzelnen Punkte des Plans nicht vom Tisch. Der diesjährige
OSZE-Vorsitzende Litauen erklärte bereits, dass er sie in seine Jahresagenda aufgenommen habe.
Man wolle sich vor allem auf Vorhaben der militärischen Entspannung konzentrieren. Dazu gehört
die Vorbereitung auf eine Vereinbarung über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen
(VSBM), nachdem die geltenden Verträge einer Ergänzung bedürfen. Der diesjährige OSZEVorsitzende
will zudem prüfen lassen, wie die Stagnation auf dem Gebiet der konventionellen
Abrüstung überwunden werden kann.
Bekanntlich ist die vorliegende überarbeitete Fassung des sogenannten KSE-Vertrages von den
NATO-Staaten aus politischen Gründen bisher nicht ratifiziert worden. Um den dadurch
eingetretenen Stillstand bei der konventionellen Abrüstung zu überwinden, gibt es Überlegungen,
einen völlig neuen Ansatz zu suchen, das heißt, einen neuen Vertrag zu verhandeln, der zudem den
Vorteil bieten würde, die aktuelle militärpolitische Lage auf dem europäischen Kontinent zu
berücksichtigen. Natürlich wären das langfristige Vorhaben. Aber für die Stellung der OSZE ist
wichtig, dass dabei die eigene Identität unterstrichen werden würde.
Kein neuer Sicherheitsvertrag
Kurzzeitig konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Vorschlag Medwedjews für einen neuen
europäischen Sicherheitsvertrag ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Er half dabei, mit dem Korfu-
Prozess innerhalb der OSZE einen neuen Dialogstrang zu eröffnen. Doch auf dem Gipfel in Astana
dann äußerte sich die russische Seite zum eigenen Vorschlag mehr als zurückhaltend. Es entstand
der Eindruck, dass man keine völlige Klarheit über die Richtung des Vorgehens habe. Es bleibt also
abzuwarten, wie Russland in Zukunft vorgehen wird.
Jedenfalls scheint festzustehen, dass die Voraussetzungen für den Abschluss eines neuen
europäischen Sicherheitsvertrages nicht gegeben sind. Eine Voraussetzung wäre, dass die NATO
ihr Wesen ändern würde. Darauf deutet nichts hin. Und es wäre eine Illusion, unter den gegebenen
Bedingungen auf eine Auflösung der NATO zu hoffen. Die NATO-Staaten – allen voran ihre neuen
Mitglieder aus Osteuropa – zeigen nicht das geringste Interesse, auf den Pakt zu verzichten.
Voraussetzung für den Erfolg der russischen Initiative wäre zudem, dass die russische Seite in der
OSZE potente Unterstützer findet. Doch auch das zeichnet sich nicht ab. Selbst gut meinende
Partner versichern ihre Unterstützung nur halbherzig, häufig nur aus taktischen Gründen. Die
auffallende russische Zurückhaltung in der Diskussion über die Gestaltung der europäischen
Sicherheitsarchitektur lässt überdies vermuten, dass man sich in Moskau der Begrenztheit der
eigenen Möglichkeiten bewusst geworden ist.
Drei Schwerpunkte für die Zukunft
Nach Einschätzung der Experten werden der OSZE für die Zukunft folgende drei Tätigkeitsbereiche zugeordnet werden:
-
Erweiterung des politischen Dialogs mit dem Ziel, Konflikte zu verhindern bzw. Spannungsfelder zu
beseitigen. Dazu werden auch inoffizielle Treffen im Rahmen des so genannten Korfu-Prozesses
benutzt.
-
Fortsetzung der Bemühungen zur militärischen Entspannung durch Verhandlungen über eine
Begrenzung der konventionellen Abrüstung und über vertrauens- und sicherheitsbildende
Maßnahmen.
-
Verfolgung der Demokratieanstrengungen in den Teilnehmerstaaten, insbesondere durch die
Entsendung von Wahlbeobachtern.
Die OSZE wird also durchaus wichtige Aufgaben wahrnehmen. Sie wird aber nicht in Bereiche
eindringen, die sich die NATO vorbehält. Eigene militärische Aktionen wie der Einsatz von
Streitkräften wird auch in Zukunft nicht zu den Aufgaben der OSZE gehören. Um es anders
auszudrücken: Die OSZE bleibt im Schatten der NATO. Aber sie besteht weiter und kann ihre
Existenzberechtigung auch beweisen.
* Dr. Hans Voß war u.a. Leiter der DDR-Delegation bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und ist heute Vorstandsmitglied des Verbands für Internationale Politik und Völkerrecht (VIP). Internet: www.vip-ev.de
Aus: Neues Deutschland, 2. Juli 2011
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