Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Europäische Verfassung und Neutralität

Von Alfred Missong*

Das Interesse der breiten Öffentlichkeit Österreichs an außenpolitischen Fragen ist im allgemeinen nicht besonders stark. Wenn es nicht um Themen geht, die den einzelnen Bürger unmittelbar betreffen, wie z. B. die Transitproblematik oder die Gefährdung durch grenznahe Atomkraftwerke oder gar die "Marmelade", beschäftigt die Außenpolitik in Österreich nur einen relativ kleinen Kreis von "professionellen" Außenpolitikern, wie Abgeordnete, Diplomaten, Beamte bestimmter Ressorts, Journalisten und Personen, die mit der Außenwirtschaft verbunden sind. Dies ist an sich erstaunlich, weil ein Land, dessen Geschichte und jüngste Vergangenheit sosehr von Kräften aus dem Ausland bestimmt worden waren, wie Österreich, schon auf Grund seiner historischen Erfahrung ein besonderes Sensorium für Fragen der Außenpolitik besitzen sollte.

Die Veranstalter dieses Symposions wollen eine längst fällige Diskussion über Grundfragen der Österreichischen Außenpolitik in eine an der Zukunft unseres Landes engagierte Öffentlichkeit tragen. Sie sind der Meinung, dass gerade die jüngste Entwicklung auf der Welt im allgemeinen und in Europa im besonderen große Auswirkungen auch auf Österreich hat und es wichtig ist, sich mit ihnen zu beschäftigen. Nur wer sich über die Bedeutung der weltpolitischen Entwicklungen im klaren ist, wird die richtigen Schlussfolgerungen für sein eigenes Land zu ziehen in der Lage sein. Wir sind der Auffassung, dass wichtige Ereignisse der jüngsten Zeit, wie der Terroranschlag vom 11.September 2001, der Irakkrieg und der vom Europäischen Konvent ausgearbeitete Entwurf einer Verfassung für die Europäische Union von größter Bedeutung für Österreich sind und deshalb in einer umfassenden öffentlichen Diskussion in Österreich zur Sprache gebracht werden sollen. Eine derartige Diskussion soll hier auf diesem Symposion in einer sehr offenen und auch kritischen Weise eingeleitet werden.

Das mir gestellt Thema befasst sich mit der Neutralität unseres Landes im Lichte der Ergebnisse der Arbeiten des Europäischen Konvents und des von ihm vorgelegten Entwurfs einer Verfassung für die Europäische Union, die ja nach Aufnahme der zehn Kandidatenländer ab Mai des kommenden Jahres bereits 25 Mitgliedstaaten haben wird. Es wäre verlockend, einfach die relevanten Passagen des Verfassungsentwurfes mit den in verschiedenen anderen früheren Verträgen wie z.B. von Maastricht, Amsterdam oder Nizza enthaltenen Bestimmungen zu vergleichen und daraus den Schluss zu ziehen, dass sich in Hinsicht auf unsere Neutralität sowieso nicht allzu viel geändert hat und Wien seine bisherige Linie einfach fortsetzen könne. In der Tat muss man feststellen, dass der europäische Verfassungsentwurf nichts enthält, was die Aufrechterhaltung der österreichischen Neutralität und einer entsprechenden Politik - zumindest in der seit unserem Beitritt zur EU praktizierten Weise - verunmöglichen würde. Neben einer juristischen Analyse erscheint uns aber vor allem eine politische Interpretation der Lage, wie wir sie heute vorfinden, unerlässlich.

Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet die Erkenntnis, dass große Teile der politischen Elite unseres Landes, vor allem die gegenwärtige Bundesregierung, die in der Verfassung verankerte immerwährende Neutralität als ein überflüssiges Relikt aus längst vergangenen Zeiten betrachtet, das kein geeignetes Instrument für die Lösung unserer heutigen Probleme darstellt und daher schleunigst - im Tabernakel der Geschichte - entsorgt werden müsse. Ohne Glauben an die Möglichkeit und den Sinn einer Neutralitätspolitik ist ihre Durchführung ja auch praktisch schwer vorstellbar. Da die überwiegende Mehrheit der österreichischen Bevölkerung aber gefühlsmäßig an dieser Neutralität festhält und sie auch bei Abstimmungen oder Wahlen verteidigen würde, ist die Regierung gezwungen, sozusagen widerwillig und wider "besseres Wissen" elementare Grundsätze der Neutralitätspolitik mehr oder weniger einzuhalten. Nicht nur hinter vorgehaltener Hand sprechen österreichische Politiker und Diplomaten von den "Fesseln der Neutralität", die nicht mehr zeitgemäß sei und es Österreich unmöglich mache, voll und solidarisch am Bau des neuen Europa mitzutun. Psychologisch befinden sich jene Vertreter der Interessen Österreichs in Brüssel, die dieser Denkschule angehören, wirklich in einer schwierigen Lage: sie empfinden sich geradezu fremdbestimmt, ja, fast wie unter der Herrschaft einer fremden Macht, einer Art "Besatzungsmacht", die ihren Aktionen gewisse auf der Neutralität basierende Grenzen setzt, die sie lieber überschreiten würden. Der Souverän, das Volk, fordert von ihnen ein politisches Verhalten, mit dem sie innerlich aus Überzeugung nicht einverstanden sind. Einerseits verlangt man von ihnen von Seiten der Regierung, die "Vorreiter" einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik zu spielen, andererseits wissen sie, dass das Volk, das sie vertreten, ihnen hier die Gefolgschaft versagt, weil es an den Werten der Neutralität festhalten will. Eigentlich müssten sie bedauern, dass sie sich nicht ein anderes Volk aussuchen können!

Das Problem kann nicht einfach geleugnet oder schöngeredet werden. Die Kunst der Diplomatie findet dort ihre Grenzen, wo ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wird. Die von Österreich verfolgte Linie dürfte auf Dauer nicht haltbar sein. Man kann nicht zwei Herren gleichzeitig dienen. Man sollte sich eindeutig entscheiden: entweder für eine echte Teilnahme an einem militärischen Sicherheitssystem der EU unter Preisgabe unserer sogenannten "Restneutralität" oder für eine Beibehaltung unseres neutralen internationalen Status! Jene, die für die Abschaffung der Neutralität sind, führen Argumente ins Treffen, mit denen man sich ernsthaft befassen soll, wie etwa:
  • Als Mitglied der EU habe Österreich die Herausforderungen der Gegenwart zu akzeptieren, welche eine wirklich geeintes und auch militärisch handlungsfähiges Europa verlangen, in welchem kein Platz für neutrale Sonderlinge sei.
  • Durch den Wegfall der Sowjetunion habe die Neutralität ihre Funktion verloren.
  • Zwischen welchen Mächten soll Österreich noch neutral sein?
  • Wo sind die Gegner, zwischen welchen ein neutrales Österreich eine Vermittlerrolle übernehmen könnte?
  • Wer in dieser Situation noch auf der Neutralität bestehe, verweigere sich der Realität oder, schlimmer noch, er wäre ein Trittbrettfahrer, dem es an Solidarität mangle etc. etc.
Die Liste der Argumente ist lang, der Haken ist nur, dass sie auf Wunschvorstellungen beruhen, die weder die in Brüssel noch die in Österreich selbst herrschende Wirklichkeit gebührend in Rechnung stellen. Die Vision eines bloß virtuell existierenden europäischen Bundesstaates, die vielleicht einmal Wirklichkeit werden kann, wird schon jetzt als diplomatische Arbeitshypothese für eine reale Welt verwendet, die völlig anders aussieht. Dieser Vorgriff auf die Zukunft erreicht natürlich nicht das erträumte Ziel, er bewirkt aber, dass die bestehenden realen Chancen, die Österreich besitzt, nicht genutzt werden können.

Die Gegner der Neutralität, die die soeben skizzierte Argumentationslinie verfolgen, tun sich natürlich sehr schwer, für Österreich eine echte, außenpolitische Perspektive zu entwickeln. Da sie nicht können wie sie wollen, müssen sie sich in eine Position des sowohl als auch begeben, die von Kritikern als doppelbödig bezeichnet wird. Diese Politik mag kurzfristig erfolgreich sein, auf längere Sicht schadet sie aber unserem Ansehen. Es erschiene vernünftiger und den Interessen unseres Landes entsprechend, die Realitäten sowohl auf europäischer als auch auf österreichischer Ebene zur Kenntnis zu nehmen und daraus die nötigen Schlüsse zu ziehen. Im Bewusstsein unserer demokratischen Verantwortung sollten wir die Grenzen unseres außenpolitischen Handlungsspielraums nicht als unbequeme Einschränkung, sondern vielmehr als Auftrag begreifen, eine realistische Politik zu führen, die den gegebenen Umständen Rechnung trägt und in erster Linie die Interessen Österreichs im Auge hat.

In Wirklichkeit riskiert Österreich nämlich, in ein Dilemma zu geraten, das zwar vielen bewusst ist, das man aber aus Rücksichtnahme auf die österreichische Öffentlichkeit und auf die Partnerstaaten in der EU lieber nicht beim Namen nennt. Dieses Dilemma besteht in der Unmöglichkeit, den Balanceakt zwischen den sich einander ausschließenden Zielpunkten einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU einerseits und einer Neutralitätspolitik andererseits ad infinitum fortzusetzen. Auf eine sehr einfache Formel gebracht besteht dieser diplomatische Balanceakt im Grunde in dem Versuch zwei unvereinbare Positionen dialektisch unter einen Hut zu bringen: Wien geriert sich in Brüssel als Vorkämpfer für eine möglichst enge gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit Mehrheitsentscheidungen, ja, es tritt sogar für eine militärische Beistandspflicht ein, die im Widerspruch zur klassischen Neutralität steht. Gleichzeitig vertraut es darauf, dass die eigenen Vorschläge nicht angenommen werden können und unser neutraler Status durch sie nicht gefährdet wird.

Nach wie vor gilt auch in dem Verfassungsentwurf der Grundsatz, dass Beschlüsse in außenpolitischen Angelegenheiten im Europäischen Rat grundsätzlich nur einstimmig gefasst werden können. Theoretisch besteht also kein Grund zur Sorge, dass vitale Interessen Österreichs -wie z.B. die Aufrechterhaltung der Neutralität - verletzt werden könnten. Auch die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen soll, unterliegt einstimmigen Beschlüssen des Rates. Niemand kann somit Österreich auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einem Handeln zwingen, das im Widerspruch zu seiner Neutralität stehen würde. Die Tatsache, dass Österreich nicht gegen seinen Willen in außenpolitische oder gar militärische Abenteuer gedrängt werden kann, wird genau so als Beweis für die Vereinbarkeit von Neutralität und GASP gewertet wie die unleugbare Erfahrung, dass weiterreichende gemeinsame verteidigungspolitische Beschlüsse wegen der bestehenden Interessensgegensätze überhaupt nicht gefasst werden können.

Unter diesen Bedingungen kann Österreich in Brüssel durchaus und gefahrlos in die Rolle eines Vorkämpfers für eine gemeinsame Verteidigungspolitik schlüpfen, da ja kaum Aussicht auf Unterstützung dieser Vorschläge besteht! In der Tat ist Österreich in Brüssel mit dem Vorschlag einer militärischen Beistandsgarantie hervorgetreten, der allerdings nur auf geringes Echo stieß. Die anderen neutralen oder paktfreien Staaten Skandinaviens oder Irland distanzieren sich bezeichnender Weise eindeutig und ausdrücklich von derartigen Plänen. Auch die größeren Mächte zeigten sich nicht ernsthaft an dieser Initiative interessiert, ganz zu schweigen von den Kandidatenländern Mittel- und Osteuropas, deren Sicherheitsbedürfnis durch die NATO offensichtlich besser befriedigt wird. In diesem Zusammenhang überrascht es, dass Bundeskanzler Schüssel anlässlich der Regierungserklärung 2003 sogar von einer Vorreiterrolle Österreichs bei der Entwicklung einer europäischen Verteidigungspolitik mit einer Beistandsgarantie sprach. Diese Aussage des Regierungschefs eines neutralen Landes ließ aufhorchen. Man fragt sich unwillkürlich, wie dieses Selbstverständnis eines Neutralen auf die anderen Mitgliedstaaten der EU wirken muss, die bisher wahrscheinlich der Meinung waren, dass Neutrale keinem Militärpakt angehören dürfen. Diese vom österreichischen Regierungschef verkündete militärische Vorreiterrolle ist wohl nur im Sinne des Grundsatzbeschlusses der ÖVP betreffend einen NATO Beitritt, der die Preisgabe der Neutralität Österreichs voraussetzt, zu verstehen.

Der Begriff Vorreiterrolle wird von Österreichs Politikern gerne gebraucht, obwohl er eigentlich einen ganz anderen Sinn hat. Was ist eigentlich ein Vorreiter? In der Schlacht ist der Vorreiter jener der mutig "vorreitet" und meistens auch als erster eine Kugel in den Kopf bekommt.

Selbstverständlich tut sich vor allem der Koalitionspartner FPÖ mit der Neutralität Österreichs besonders schwer. Diese Partei hatte ja schon 1955 im Nationalrat dagegen gestimmt. Im Kapitel 7 des Parteiprogramms der FPÖ heißt es daher auch, dass die Neutralität - wie übrigens auch der Staatsvertrag - obsolet ist und Österreich Vollmitglied der NATO werden müsse. Vielleicht erinnerte sich Abgeordneter Schiebner als Verteidigungsminister nicht mehr an das Programm seiner Partei, weil er den Ankauf der Abfangjäger mit der Notwendigkeit der Verteidigung der Neutralität begründete, also einen Milliardenaufwand für eine obsolete Institution rechtfertigte.

Korrekter Weise muss aber auch auf die widersprüchliche Haltung der Oppositionsparteien hingewiesen werden. Namhafte Vertreter dieser beiden Parteien - wie z.B. Caspar Einem und Peter Pilz - haben sich öffentlich zur Teilnahme an einem Verteidigungsbündnis zwischen den EU Mitgliedstaaten bekannt und somit den Boden der Neutralität verlassen. Die Bundesregierung ist deshalb wahrscheinlich der Meinung, dass zwischen allen im Parlament vertretenen Parteien ein Grundkonsens hinsichtlich des Beitritts Österreichs zu einem Verteidigungsbündnis besteht, welches, man drehe es wie man will, juristisch ein Militärbündnis ist und somit den Grundsätzen der Neutralität widerspricht. Allerdings ist, wie schon erwähnt, die Gefahr, dass die österreichischen Vorschläge betreffend eine militärische Beistandspflicht im Falle eines Angriffs auf irgendein Mitgliedsland der EU in Brüssel auf Zustimmung stoßen und angenommen werden, gleich null. Die in der EU herrschende Auffassung lautet nämlich, dass die militärischen Aspekte der Verteidigung in erster Linie von der NATO wahrzunehmen sind und keine kostspieligen Parallelstrukturen zu ihr in der EU errichtet werden sollen. Im Klartext heißt das: wenn Österreich ein echtes Bündnis zur militärischen Verteidigung wünscht, dann soll es, bitte schön, gleich der NATO beitreten!

Widmen wir uns nun den neutralitätsrechtlich relevanten Bestimmungen des Verfassungsentwurfes des Europäischen Konvents. Ein eigener Außenminister soll in Hinkunft die EU nach außen vertreten. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union hat auf der Grundlage von einstimmig gefassten Beschlüssen zu erfolgen. Sie soll zu einer gemeinsamen Verteidigung führen, sobald der Europäische Rat einstimmig darüber beschlossen hat (Art. 40 Abs.2) Im gleichen Absatz heißt es aber auch - offenbar in erster Linie in Richtung auf die NATO Mitglieder - dass die "Politik der Union...nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten...berührt". Unter dieser Ausnahmeklausel kann aber wohl auch der Respekt für den besonderen Charakter der Verteidigungspolitik Neutraler subsumiert werden! Diese Bestimmung besagt nach der Interpretation der Europäischen Kommission selbst, dass die EU nicht die Absicht hat, die Neutralität einzelner ihrer Mitgliedstaaten aufzuheben.

Der Verfassungsentwurf sieht als Novum die Möglichkeit des Zusammenschlusses einzelner Mitgliedstaaten zu einer "strukturierten" oder einer "engeren" Zusammenarbeit im Bereich der gegenseitigen Verteidigung vor. Im ersteren Fall handelt es sich um Mitgliedstaaten, "die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind" . Im Rahmen der "engeren Zusammenarbeit" leisten "im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines an dieser Zusammenarbeit beteiligten Staates die anderen beteiligten Staaten gemäss Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung".

Die "engere Zusammenarbeit" eröffnet also bestimmten Mitgliedstaaten die Möglichkeit einer Beistandsgarantie, solange der Europäische Rat nicht einen - einstimmigen - Beschluss über eine gemeinsame Verteidigung getroffen hat. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge sind schon wegen des Widerstands Großbritanniens keine Chancen für eine generelle Beistandsgarantie aller Mitgliedstaaten gegeben. Auch Schweden und Finnland haben sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen. Es wäre aber denkbar, dass sich im Sinne des Art. 40 Abs.2 einige Länder - vielleicht auch Österreich - zu dieser "engeren Zusammenarbeit" entschließen. Vorläufig hält sich - wie wir sehen - allerdings die Bereitschaft anderer Mitgliedstaaten dazu in äußerst engen Grenzen. Will Österreich wirklich hier eine Vorreiterrolle spielen? Die Frage ist naheliegend, was Österreich durch eine derartige "engere Zusammenarbeit", die nur einige wenige Länder umfassen würde, gewinnen könnte. Im Rahmen der EU würde es dann zwei Kategorien von Mitgliedstaaten geben, jene, die durch ein Verteidigungsbündnis miteinander verbunden sind und die anderen.

Als großen Fortschritt muss man die sogenannte Solidaritätsklausel des Art. 42 bezeichnen, die alle Mitgliedstaaten zur gemeinsamen Aktion im Fall eines Terroranschlags oder einer Katastrophe natürlichen oder menschlichen Ursprungs verpflichtet. Selbstverständlich soll Österreich hier ohne Einschränkung mittun. Neutralitätsrechtlich bestehen natürlich keinerlei Bedenken gegen diese Klausel.

Die rechtliche Entwicklung des gemeinsamen Europa vollzieht sich weiterhin in kleinen Schritten. Wenn auch der Verfassungsentwurf des Konvents in vieler Hinsicht einen Fortschritt darstellt, der große Sprung zu einer engen außen- und sicherheitspolitischen Union ist nicht geglückt. Freilich, nur Träumer hätten viel mehr, vielleicht sogar einen europäischen Bundesstaat, erwartet. Wir werden es also in den nächsten Jahren mit einer Europäischen Union zu tun haben, die sich im wesentlichen von der schon jetzt bestehenden kaum unterscheiden wird. Da wichtige außenpolitische Entscheidungen weiterhin der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfen, wird die Europäische Union kaum jener "Big Player" auf der Weltbühne sein, den sich viele erhoffen. Realistischer Weise kann man von der bevorstehenden Erweiterung der Union auch kaum einen Schritt hin zu einer stärkeren Kohärenz vor allem in außenpolitischen Belangen erwarten. Eher das Gegenteil, nämlich, dass sie zwar wirtschaftlich potentiell gestärkt, in ihrer politischen und vor allem militärischen Struktur sich aber kaum verändern wird.

Was bedeutet dieser Befund für Österreich und seine außenpolitische Strategie? Was kann Wien unter diesen Umständen tun, um die Interessen Österreichs bestens zu wahren und unserem Land ein international glaubhaftes Profil - wie wir es früher einmal hatten - zu verschaffen? Der unbefangene Beobachter muss ja leider den Eindruck bekommen, dass wir in Brüssel gegenwärtig nicht viel Einfluss haben und unsere wichtigsten Anliegen wie z.B. die Begrenzung des Alpentransits oder auch Fragen der Ökologie, die uns wichtig sind dort "nicht einmal ignoriert" werden, wie es so treffend auf wienerisch heißt.

An erster Stelle wäre festzuhalten, dass die Kunst der Diplomatie nicht darin bestehen kann, es allen recht zu machen, möglichst nirgendwo anzustoßen und mit verschiedenen Zungen zu sprechen. Am wichtigsten ist vielmehr Prinzipientreue und Konsequenz.

Wenn es zutrifft, dass die Verwirklichung einer gemeinsamen europäischen militärischen Identität oder eines alle Mitgliedstaaten umfassendes Verteidigungsbündnisses wenn überhaupt, dann nur in ferner Zukunft erreicht werden kann, dann erscheint es geradezu absurd, dass sich das neutrale Österreich gerade zu diesem Zeitpunkt für diese Ziele einsetzen soll. Naheliegender Weise sollte vielmehr die Alternative ins Auge gefasst und die sich aus der Neutralität ergebenden Möglichkeiten bestens genutzt werden. Eine EU, die auch neutrale Mitglieder besitzt, ist in Wirklichkeit in diplomatischer Hinsicht ja viel stärker und handlungsfähiger, weil sie eben über ein reicheres Instrumentarium verfügt, das in bestimmten Situationen erfolgreich eingesetzt werden könnte. Neutrale Mitgliedstaaten der EU könnten z.B. bei Einsätzen der Vereinten Nationen so manche Aufgaben besser erfüllen als Angehörige von Militärblöcken; man wird ihnen bei Streitvermittlungen vielleicht mehr Vertrauen entgegenbringen als größeren Mächten, denen man egozentrische Ziele unterstellen kann. Auch im Falle der Bekämpfung des internationalen Terrorismus könnten Neutrale eine vernünftige Rolle als Anwalt des Völkerrechts und der Menschenrechte spielen. Bei unzähligen humanitären und friedenserhaltenden Aktionen war das Engagement von Neutralen oft für den Erfolg entscheidend; warum sollte das in der Zukunft nicht auch der Fall sein? Warum sollte es unmöglich sein, unsere Partner in der EU von der Nützlichkeit einer klugen und im Rahmen der GASP abgestimmten Neutralitätspolitik einzelner Mitgliedstaaten auf internationaler Ebene zu überzeugen? Diese würde keineswegs gegen die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft verstoßen , sondern könnte vielmehr durchaus ihren humanitären und friedensfördernden Zielsetzungen entsprechen?

Es ist auch durchaus legitim, auf die Vorteile hinzuweisen, die Österreich aus seiner Neutralität ziehen kann. Schließlich ist es wohl die erste Aufgabe einer verantwortungsvollen Außenpolitik, die Interessen der eigenen Nation bestens zu vertreten. Der von fast allen Staaten der Welt, vor allem aber von den Großmächten anerkannte Status der Neutralität enthebt Österreich der Verpflichtung zu militärischen Hilfeleistungen. Gerade in jüngster Zeit hat sich dieses Privileg als äußerst wertvoll erwiesen, als die Bundesregierung dem Druck erfolgreich widerstehen konnte, den Krieg Amerikas gegen den Irak zu unterstützen. Die von Amerika übernommene Verpflichtung, unsere militärische Neutralität zu respektieren, ersparte uns in einer kritischen Situation ein Zerwürfnis mit Washington mit allen seinen Folgen! Während kriegerischer Auseinandersetzungen - und wer zweifelt daran, dass sie morgen wieder aktuell werden können - besinnt man sich in Österreich gerne der Vorzüge der Neutralität.

Aus dem Gesagten ergeben sich meiner Meinung nach folgende logische Schlussfolgerungen. Österreich soll sich nicht zum Fürsprecher einer vorläufig aussichtslosen, weil in der EU nicht mehrheitsfähigen militärischen Bündnispolitik aufspielen, sondern die Möglichkeiten, die ihm sein neutraler Status gibt, wirklich nützen. Es geht nicht darum, an einem alten Zopf festzuhalten, sondern eine bewährte Position solange es keine bessere gibt beizubehalten.

* Vortrag beim Symposium am 4. Dezember 2003 veranstaltet vom ÖSFK und IIP
Dr. Alfred Missong, Wien, Botschafter i.R.

Der Vortrag erschien in Heft 7-8 (Dezember) 2003 der Zeitschrift der ÖSFK "friedensforum", S. 8-11



Weitere Beiträge zu Europa

Zur Österreich-Seite

Zurück zur Homepage