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"Analyse statt EU-Jubel"

Zwei Bundestagsabgeordnete der Linken haben einen eigenen Programmentwurf für den Europawahlkampf vorgelegt. Ein Gespräch mit Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke *


Diether Dehm ist Schatzmeister der Europäischen Linkspartei und Europa­politischer Sprecher der ­Bundestagsfraktion von Die Linke; Wolfgang Gehrcke ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender.


Benjamin Hoff, bis vor kurzem Sprecher des »Forums Demokratischer Sozialismus«, FDS, in der Partei Die Linke, wird mit dem Satz zitiert: »Wir Linksreformerinnen und -reformer sind gemeinhin der Kopf und Verstand der Partei, während die selbsternannten Parteilinken eher den Bauch repräsentieren.« Sie haben zu zweit einen eigenen Programmentwurf für den Europawahlkampf 2014 vorgelegt. Wurde der aus dem Bauch heraus geschrieben?

Wolfgang Gehrcke: Ich bin immer froh, wenn Leute sich selbst für ihre Intelligenz loben. Oft ein Anzeichen dafür, daß andre das zu wenig tun. Im übrigen hätte ich gern einmal Texte des FDS zu Europa, in denen mehr Analyse steht, nicht nur wie schick die EU ist. Nebenbei: Wir haben für unseren Programmentwurf auch Lob aus dem FDS bekommen, und die elf Stimmen dafür im Parteivorstand kamen aus verschiedenen Strömungen.

Um was geht es im Programmstreit?

Diether Dehm: Ist die EU ein eigentlich vernünftiges Regime, wo nur falsche Leute falsche Einzelpolitik machen? Oder sind die Rechtsgrundlagen der EU, die Verträge von Maastricht und Lissabon, so militaristisch, antidemokratisch und asozial konstruiert, daß nur Neoliberalismus und Urteile des Europäischen Gerichtshofes gegen Tariflöhne und Streikrecht rauskommen können? Und sind nicht nationale Verfassungen sozialer und friedlicher, wenn sie einem antifaschistischen Kompromiß entstammen, wie Wolfgang Abendroth unser Grundgesetz nannte, weil damals die Deutsche Bank und Krupp, die sich ihren Hitler, ihren Weltkrieg und ihr Auschwitz finanziert hatten, öffentlich in Verschiß geraten waren.

Das klingt für den neuen FDS-Sprecher Stefan Liebich aber gar nicht europafreundlich …

Diether Dehm: Seit der Globalisierung tricksen die Parteimäßiger und die sie stützenden Medien mit Begriffen. So, als seien sie die modernen Internationalisten und alles, wo die drei Silben »na-tio-nal« drin stecken, sei altmodisch. Aber »Nacionalización« heißt in Venezuela Gemeineigentum an Gas und Öl. »Nationaliser« war die Forderung französischer Kommunisten, und wir verteidigen nationale Tarif- und Arbeitsschutzrechte, die sozialstaatlichen Grundgesetz-Artikel 14, 15, 20 und 28…

Wolfgang Gehrcke: …und als wir letzte Woche im Plenum die einseitige Kündigung der nach dem 11.9.2001 von den USA beantragten Bündnisfall-Erklärung der NATO gefordert hatten, warfen uns Grüne und SPD »Rückfall in nationales Recht« vor. Aber die Friedensbewegung ginge unter, wenn wir nicht nationales Verfassungsrecht, wie den Parlamentsvorbehalt gegen Auslandseinsätze, verteidigen würden!

Ist Europa also ökologisch, demokratisch und sozial unreformierbar? Wolfgang Gehrcke: Unser Entwurf benennt viel emphatischer den europäischen Traum, aber die EU ist das komplette Gegenteil dazu. Und die Deutsche-Bank-geführte EU macht die Rechten in Griechenland, Frankreich und anderen Ländern stark. Sie ist ein imperialer Block, der mit anderen konkurriert – um Märkte und Energiereserven. Sie setzt dazu längst nicht mehr nur ökonomische Mittel ein, sondern auch militärische. Dieses internationale Feld für Klassenkämpfe braucht besonders Rückhalt – auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU. Nur so ist eine europäische Integration neu zu starten.

Also liegt die Chance zur Veränderung auf nationalstaatlicher Ebene, auch in den Währungen?

Diether Dehm: Nein. Die PDS kommt zwar aus der Tradition: »Euro – So nicht!«. Wer aber heute aus EU oder Euro austritt, macht dadurch noch kein Land gut. Eine neue Drachme oder Lira wären hoffnungslose Objekte für die Großspekulanten. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) ist das etwas anderes: Die wollen zurück zur D-Mark, weil sie glauben, damit die europäischen Arbeitskräfte noch besser auspressen zu können als Frau Merkel mit dem Euro. Der neue IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel klammert sich an den Euro und übersieht, daß das deutsche Dumping auch mittelfristig die Krise brutalisiert und dem Export wie dem Euro die Nachfragebasis zerstören wird. Die Entmachtung der Finanzmärkte ist aber das Wesentliche. Die Lösung liegt in einer demokratischen Wirtschaftspolitik, höherer Binnenkaufkraft und sozialstaatlichem europäischen Verfassungsrecht, nicht in der Währungstechnik.

Wolfgang Gehrcke: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung am Mittwoch für eine grundlegende Veränderung des Lissabon-Vertrages plädiert. Das machen wir auch. Aber Merkel will ein höheres Maß an Zentralismus für Großkonzerne und Banken. Wir wollen das ganze Konstrukt vom Kopf auf die Füße stellen, das heißt: alle militaristischen Einrichtungen der EU abschaffen, dezentrale Volksbeteiligung in der Wirtschaftspolitik. Wer hat denn den neoliberalen europäischen Verfassungsentwurf gestürzt? Die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Es gibt also Kämpfe, die national erfolgreich geführt werden. Leider sind wir hierzulande noch schwach mobilisiert.

Muß, wer EU sagt, nicht sofort auch deutsche Dominanz sagen?

Wolfgang Gehrcke: Die Grundlinie deutscher Außenpolitik hieß nach den beiden deutschen Staaten zunächst: Mittelmacht. Merkel hat das jetzt in ihrer Regierungserklärung auf Großmacht zugespitzt, via EU. Diese Politik wird mal mit, mal ohne Partner durchgesetzt.

Diether Dehm: Im Süden gehen Hunderttausende auf die Straße. Wir brauchen in Deutschland endlich Ansätze, auch hier mehr Bewegung auszulösen. Das wollen wir mit der völlig neuen Sprache unseres Programmentwurfs. Darin steht am Anfang das Tucholsky-Gedicht vom europäischen Friedenstraum. Aber Europa ist nicht gleich EU! Wenn wir dem D-Mark-Populismus der AfD nicht mit einer populären antikapitalistischen Position entgegentreten, wenn wir der EU-Schönmalerei der Agenda-Parteien nicht eine verständliche, europafreundliche EU-Kritik entgegensetzen, werden wir bei der Europawahl unser blaues Wunder erleben.

Stefan Liebich fordert von der Linken eine »verantwortungsbewußte Europapolitik«.

Diether Dehm: Das Schleifen der EU-Politik der Linkspartei betont Sigmar Gabriel als Voraussetzung für ein Bündnis. Es gibt aber EU-kritische Kräfte auch in Gewerkschaften wie Frank Bsirske und in der SPD die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, AfA, und die Jungsozialisten. Die sagen: Wir brauchen eine neue Idee für Europa, bei dem die Olivenbauern, die Schiffbauer, die Touristikbranche, Solarenergie und andere Ökonomien mit Direktkrediten vorangebracht werden. Nicht aber: EU-Billiglohnländer, dirigiert von deutschen Konzernspitzen. Sahra Wagenknecht hat dies am Mittwoch im Plenum klar formuliert. Was aber die rechte SPD-Führung mit den EU-Bankenspendier- und Deindustrialisierungspaketen angerichtet hat, war absolut verantwortungslos. Von denen lernen, heißt siechen lernen.

Die Kanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung dem Inhalt nach verkündet: Europa ist zu klein für uns. Will sie eine neue Führungsrolle in der Welt?

Wolfgang Gehrcke: Das knüpft an die Schlußfolgerung von Schröder/Fischer nach dem Kosovo-Krieg 1999 an, daß alle Beschränkungen und Selbstbeschränkungen Deutschlands hinfällig seien. An diesem Anspruch wurde nun Jahr für Jahr gezimmert. Der politische und wissenschaftliche Begriff dafür ist: Imperialismus. Es gibt in der Linken immer wieder Ängste, diesen Begriff zu benutzen. Ich bin da für eine nüchterne Analyse: Was will der deutsche Imperialismus in seinem EU-Gewand, und was können die Linken dem entgegensetzen?

Diether Dehm: Der Mehrheitsentwurf für den Europawahlkampf ist über 40 Seiten lang und so schwer lesbar wie manches EU-Dokument. Unser Minderheitsentwurf ist zwölf Seiten lang und hat eine mobilisierende Sprache. Und: Wir haben ein heiteres Wörterbuch »EU-Elitensprache – Deutsch« als erklärendes Glossar angehängt. Jean Ziegler gratulierte, unser Entwurf sei »großartig«, er habe so was lange nicht mehr aus einer Partei bekommen. Rudolf Hickel schrieb, er genieße »die Sprache der Zuspitzung«. Wir wollen ja, wie Konstantin Wecker, auch »mit dem Herzen denken«. Und wir werben viel leidenschaftlicher und klarer gegen europapolitische Lethargie: für Wählerstimmen und für mehr soziale Bewegung. Mit elitärer Politik, Fachchinesisch und Bleiwüsten können Leute von beidem abgehalten werden. In der noch vor uns liegenden Krise muß die Kritik aber noch verständlicher werden. Das ist das Einfache, das schwer zu machen ist!

Interview: Arnold Schölzel

* Aus: junge Welt, Dienstag, 24. Dezember 2013


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