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Opfer zur Kenntnis nehmen!

Von Elias Bierdel *

Auch wenn das normalerweise so nicht in der Zeitung steht: Das große Sterben an den Außengrenzen der Europäischen Union geht weiter. Die gefährlichen Routen über das Mittelmeer fordern die meisten Todesopfer. Von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert, ertrinken afghanische Familien in der Ägäis, versinken überladene Flüchtlingsboote bei der Überfahrt von Nordafrika in Richtung Malta oder Sizilien. Niemand kennt die genaue Zahl der Verschwundenen. Das Mittelmeer sei das »mit Abstand tödlichste Gewässer weltweit«, befand der UNO-Flüchtlingskommissar António Guterres im Jahr 2011. Die Zahl der Opfer lag nach Schätzungen seiner Behörde bei über 1800. Es muss befürchtet werden, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist.

Denn die tödlichen Dramen, die Menschenrechtsorganisationen entlang der Küsten und Landgrenzen rund um die »Festung Europa« dokumentieren, reißen nicht ab. Beispiel Griechenland: Während die einzige Landgrenze zum Nachbarland Türkei (und damit zum Nachbarkontinent Asien) am Fluss Evros mit tatkräftiger Unterstützung durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex für Flüchtlinge und Migranten unpassierbar wurde, beginnen nun wieder die Überfahrten auf wackeligen Booten zu den griechischen Ägäis-Inseln. In letzter Zeit sind die Passagiere verstärkt Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien. Wenn sie Glück haben, stranden sie in einem von der Wirtschaftskrise zerrütteten EULand, dessen Strukturen – gerade hinsichtlich der Aufnahme von »nicht dokumentierten « Migranten – längst hoffnungslos überfordert sind. Und immer mehr Menschen erreichen das rettende Ufer überhaupt nicht mehr.

Am 5. Januar wurden auf der Insel Lesbos 23 afghanische Opfer eines Bootsunglücks vom Dezember 2012 beerdigt. Nur wenige Trauergäste hatten sich zum letzten Geleit eingefunden, vorwiegend selbst Flüchtlinge und Überlebende. Vergebens hatten lokale UnterstützerInnen von den Behörden die Herausgabe der SIM-Karten aus den Handys der Toten erbeten, um etwaige Angehörige informieren zu können. In dem gesunkenen Wrack werden noch weitere Leichen vermutet, die griechische Küstenwache erklärte jedoch, dass eine Bergung nicht geplant sei.

Vorfälle wie dieser machen deutlich, dass die EU-Politik der Grenzabschottung als Antwort auf die sensiblen Fragen nach Flüchtlings- und Menschenrechten gescheitert ist. Menschen, die sich dem Territorium der EU nähern, werden pauschal vor allem als »Sicherheitsproblem « wahrgenommen und behandelt. Bedenklich besonders, dass die Frontex-koordinierten Aktivitäten der diversen Einheiten von Küstenwache, Militär, Zoll und Polizei keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen.

Zwar untersagte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof im Februar 2012 ausdrücklich die bis dahin offiziell geübte, oft tödliche Praxis der »Zurückweisung « von Flüchtlingsbooten auf offener See. Doch es sieht derzeit kaum so aus, als hätte sich am Verhalten der Einsatzkräfte etwas geändert. Aber: Interessiert das eigentlich irgendjemanden? Nur die wenigsten Touristen auf den Urlaubsinseln nehmen zur Kenntnis, was sich vor ihren Badestränden abspielt.

Es ist schwer nachvollziehbar, warum der Skandal des tausendfachen Sterbens an unseren Grenzen nicht zu einem allgemeinen Aufschrei der Empörung führt. Schon aus grundsätzlichen, demokratiepolitischen Erwägungen ist eine offene und ehrliche Debatte über die »Festung Europa« und ihre tausenden anonymen Opfer unerlässlich. Nur wenn wir die zahllosen Toten wenigstens zur Kenntnis nehmen, kann die längst überfällige, breite Diskussion über Fluchtursachen, Menschenrechte und Asyl in der Europäischen Union geführt werden.

* Der Autor ist Experte für EU-Bordermanagement der Friedensburg Schlaining und Mitbegründer von borderline-europe. de. 2012 erhielt er den Aachener Friedenspreis.

Aus: neues deutschland, Samstag, 02. März 2013 ("Brüsseler Spitzen")



Vorschlag für "intelligente" Grenzen

EU-Kommission stellte Ein-/Ausreisesystem vor **

Die USA wird Pate gestanden haben bei der Ausarbeitung der Vorschläge, die EU-Kommissarin Cecilia Malmström zur Neugestaltung von Abfertigungsprozeduren an den Schengen-Raum-Grenzen der EU gestern in Brüssel vorgestellt hat. Zwei Zwecke solle ein neues Datenbanksystem erfüllen: Zum einen sollen Nicht-EU-Bürger, die häufig in die EU reisen, schneller als heute die Zollkontrollen passieren können. Zum anderen soll der Aufenthalt von Personen, die sich nur eine bestimmte Zeit in der EU aufhalten dürfen, besser überprüfbar werden. Bleibt eine Person länger als erlaubt, sendet das System eine Warnmeldung an die zuständigen Behörden der Mitgliedsländer. Die Datenbank solle für Migrations-, Visaund Grenzkontrollbehörden zugänglich sein, erläuterte die für innere Angelegenheiten zuständige Schwedin.

»Entry/Exit System« (Ein- /Ausreise-System) nennt es Malmström. 13 EU-Staaten, darunter Spanien, Polen, Finnland, aber nicht Deutschland, haben bereits solche Systeme. »Sie sind untereinander aber nicht vernetzt«, heißt es in der Begründung, warum die EU-Kommission die Einführung von Entry/Exit jetzt EU-weit verordnen will. Von den Personen, die das neue System überwachen soll, werden die Angaben aus dem Reisepass gespeichert. In drei Jahren soll der digitalisierte Fingerabdruck dazukommen.

»Durch den Einsatz neuer Technologien wird Bürgerinnen und Bürgern aus Drittländern, die in die EU einreisen wollen, ein reibungsloserer und rascherer Grenzübertritt ermöglicht«, lobte Malmström die Vorzüge des Systems. Gerade Geschäftsreisenden soll der Besuch in der EU angenehmer gemacht werden. Sie sollen künftig mit Hilfe einer Chipkarte an automatisierten Kontrollposten in die EU einreisen. Ausländische Reisende hätten allein 2011 mit »schätzungsweise 271 Milliarden Euro zur EU-Wirtschaftsleistung beigetragen«, sagt Malmström. Die Kosten für die Einführung der neuen Systeme sollen seitens der EU gut eine Milliarde Euro betragen. Zusätzlich müssten die Mitgliedsstaaten in die Ausrüstung investieren.

Das Vorhaben muss noch vom Europäischen Parlament und vom EU-Rat gebilligt werden. Das Register soll 2017 oder 2018 in Betrieb gehen. Kritik äußerte die EUAbgeordnete Ska Keller (Grüne). Die Kosten des Projekts stünden in keinem Verhältnis zum Nutzen. Der Vorschlag »ist der Einstieg in Big Brother an Europas Grenzen und die Kompletterfassung von Reisenden in die EU«.

Kay Wagner, Brüssel

** Aus: neues deutschland, Samstag, 02. März 2013


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