Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Von Risikoanalyse und Wirtschaftsflucht

"Grenzregime" – eine Bestandsaufnahme ohne Schubladendenken zur Migration in Europa

Von Anna Striethorst, Brüssel *

Der Sammelband »Grenzregime« zeigt, wie in Europa über Migration gedacht und gesprochen wird.

Die europaweite Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen aus Tunesien ist in vollem Gange. Wo die einen an die alleinige Verantwortung Italiens appellieren, fordern andere europäische Unterstützung für die Flüchtlinge. Sie sei notwendige Konsequenz der Solidarität mit der nordafrikanischen Demokratiebewegung. In der tagespolitischen Auseinandersetzung kommen darüber hinaus Positionen zum Vorschein, die schon seit Jahren den Migrationsdiskurs prägen. Dazu gehören Rufe nach einer »europäischen Lösung« ebenso wie das Paradigma »Entwicklung statt Migration«.

Das Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung hat diesen Diskurs, die Praktiken und die Akteure der europäischen und internationalen Migrationspolitik untersucht. Die 17 Beiträge des daraus entstandenen Sammelbands »Grenzregime« könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Bandbreite reicht von Feldstudien in Mali und Libyen über Politiken der »freiwilligen Rückführung« bis hin zur kritischen Auseinandersetzung mit der Politik des UN-Flüchtlingshilfswerks. Sie behandeln jedoch ähnliche Phänomene. Das bekannteste von ihnen ist sicher die Externalisierung der europäischen Grenzen hin in die nordafrikanischen Länder. Was bedeutet es für Migrantinnen und Migranten, wenn die europäischen Regierungen die Verantwortung für sie an Libyen und Tunesien delegieren? Wie hoch ist der moralische Preis eines nordafrikanischen »Cordon Sanitaire«?

Problematisiert wird in »Grenzregime« auch die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen, internationalen Organisationen und Zivilgesellschaft. Denn zivilgesellschaftliche Akteure machen sich nicht selten zum Feigenblatt einer staatlichen Migrationsabwehr. So dienen z.B. die Programme für Wiedereingliederung, mit denen deutsche Wohlfahrtsorganisationen abgeschobene Roma in Kosovo unterstützen, auch als Legitimation für deren Abschiebung.

Der offensichtliche Wert des Sammelbandes liegt jedoch in der Analyse des dominierenden Diskurses. Die Beiträge zeigen, wie Migration zunehmend als Sicherheitsrisiko verstanden und in die Nähe krimineller Machenschaften gerückt wird. Sicherheitspolitische Akteure beherrschen dieses Politikfeld; regelmäßig wird Migration auch in einem Atemzug mit Menschenhandel und Drogenschmuggel genannt. Und nicht umsonst hat jede Aktivität der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX ihren Ausgangspunkt in »Bedrohungs- und Risikoanalysen«.

Die Beiträge rücken auch die Dichotomien ins Licht, mit denen staatliche und nichtstaatliche Akteure wie selbstverständlich umgehen. Da gibt es die in Stein gehauene Unterscheidung zwischen anerkannten Flüchtlingen und jenen, die aus sozialer Not heraus kommen. Die ebenso begründete Migration Letzterer wird entlegitimiert und illegalisiert. Eine andere Dichotomie unterscheidet zwischen Schleppern und Opfern – mit dem Verhindern von Migration soll das vermeintliche Opfer vor Ausbeutung geschützt werden. In dieser Logik sind es auch die Schlepper, die für den Tod von Menschen im Mittelmeer verantwortlich sind, und nicht jene, die ihnen legale Migrationswege verweigern.

Gleichzeitig mit der Rhetorik der Herrschenden wird auch ein lieb gewonnenes Schlagwort der No-border-Bewegung, das der »Festung Europa«, hinterfragt. Denn längst ist die völlige Abschottung der EU-Staaten dem Versuch gewichen, Migration zu steuern und sie in einem europäischen »Migrationsmanagement« ökonomisch »verwertbar« zu machen.

Der soziologische Charakter des Sammelbandes mag enttäuschend sein für jene, die die europäische Migrationspolitik an den Pranger stellen wollen und einfache Lösungen fordern. Unaufgeregt und sachlich ist die Darstellung; Plädoyers für Alternativen sucht man vergebens. Damit sind Sabine Hess und Bernd Kasparek ihrem Anspruch gerecht geworden, »kritische Grenzregimeforschung« zu betreiben. Wer einen fundierten Überblick über europäische Migrationspolitik sucht, liegt mit »Grenzregime« genau richtig.

Sabine Hess, Bernd Kasparek (Hrsg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Assoziation A: Berlin 2010, 296 Seiten, 18,- EUR; ISBN 978-3-935936-82-8

* Aus: Neues Deutschland, 6. Mai 2011


Zurück zur EU-Europa-Seite

Zur Migrations-Seite

Zurück zur Homepage