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"Insgesamt zweifelhaft"

Die EU will ihre Asylpolitik »modernisieren«. Doch Flüchtlingen drohen weiter Inhaftierung und Überwachung

Von André Scheer, Brüssel *

Es wird still in dem Konferenzsaal des Europäischen Parlaments in Brüssel, als Ana López Fontal den Brief einer jungen Frau aus Eritrea vorliest, die in Europa auf Schutz vor Krieg und Verfolgung hoffte. Statt willkommen geheißen zu werden, wurde die heute 27jährige in Malta acht Monate lang inhaftiert und mußte mit 19 anderen Menschen in einem einzigen Raum ausharren, 23 Stunden am Tag weggesperrt, liest die Vertreterin des Europäischen Rats für Flüchtlinge und Exilierte (ECRE) vor.

Nun soll die Asylpolitik »modernisiert« werden, wie es aus Brüssel heißt. Im neuen »Gemeinsamen Europäischen Asylsystem« (CEAS), über das die EU-Abgeordneten im März oder April abstimmen sollen, werde es ein ausdrückliches Verbot geben, Asylsuchende in EU-Mitgliedsstaaten abzuschieben, in denen ihnen unmenschliche Behandlung droht, hob Cecilia Wikström von den schwedischen Liberalen in der vergangenen Woche in Brüssel vor Journalisten aus 17 EU-Staaten hervor. Auf ihre Fahnen geschrieben hat sich die Politikerin, die als Berichterstatterin des zuständigen Innenausschusses das Paket mit dem EU-Rat und der EU-Kommission verhandelt hatte, auch ein Verbot der anlaßlosen Inhaftierung von Asylsuchenden. »Flüchtlinge einzusperren, nur weil sie Asyl beantragt haben, wie es in Griechenland und in Italien passiert, ist nicht tolerierbar«, unterstrich Wikström. Es sei auch nicht hinnehmbar, daß solche Menschen dann Monate oder gar Jahre inhaftiert blieben.

»Aufnahmerichtlinie«

Tatsächlich gäbe es in der den Parlamentariern zur Abstimmung vorgelegten neuen »Aufnahmerichtlinie«, die Teil des neuen CEAS werden soll, nun einige Schutzbestimmungen für Asylsuchende, räumt Ana Fontal gegenüber junge Welt ein. So dürfe ein Flüchtling nur inhaftiert werden, wenn dies im Einzelfall notwendig für die Überprüfung des Ersuchens ist und Alternativen nicht praktikabel sind. Allerdings müsse die Inhaftierung nicht automatisch durch einen Richter bestätigt werden. Die vereinbarten Gründe für eine Festnahme erlaubten zudem »eine sehr weite Interpretation durch die Mitgliedsstaaten«. So gelte als legitimer Haftgrund, die Identität oder Nationalität eines Betroffenen festzustellen. »Bedeutet das, daß Mitgliedsstaaten jeden festnehmen dürfen, der ihr Gebiet ohne einen Personalausweis oder einen Reisepaß erreicht?«, fragt Fontal. Dann drohe den meisten Asylsuchenden das Gefängnis. Die UN-Flüchtlingskonvention, der alle EU-Staaten beigetreten sind, erkennt Flüchtlingen jedoch das Recht zu, auch ohne gültige Dokumente in ein Land einzureisen, um dort Asyl zu suchen. Nach Ansicht der ECRE habe es bei den Verhandlungen die Gelegenheit gegeben, das Einsperren von Minderjährigen generell zu verbieten sowie die Festnahme von erwachsenen Asylsuchenden wirklich zu einer Ausnahme zu machen. »Diese Gelegenheit ist verpaßt worden«, bedauert Fontal. Bleibe es bei dem derzeitigen Kompromiß, könnten sogar unbegleitete Kinder inhaftiert werden.

Zudem kritisierte sie bei der Veranstaltung in Brüssel die vorgesehene Ausweitung des Polizeizugriffs auf die europäische Datenbank Eurodac, in der seit 2000 Asylsuchende und »illegale Ausländer« mit ihren Fingerabdrücken und persönlichen Daten gespeichert werden. Bislang dürfen die Behörden diese Daten nur abrufen, um im Rahmen des »Dublin«-Verfahrens den Status einer Person festzustellen. »Dublin II« legt fest, in welchem EU-Mitgliedsstaat ein Asylverfahren durchgeführt wird. In der Regel ist dies das Land, in dem ein Schutzsuchender erstmals den Boden der EU erreicht. Nun jedoch soll die Polizei auch bei anderen Ermittlungen auf die Datenbank zurückgreifen dürfen. Vor den Risiken, die das bedeuten würde, warnte in Brüssel die Sprecherin des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR), Melita H. Sunjic. So sei es normale Praxis der Polizei, bei Untersuchungen Daten mit den Herkunftsländern der Verdächtigen auszutauschen. Das aber könne im Fall politischer Verfolgung den Betroffenen unmittelbar gefährden.

»Advokat des Teufels«

Von den anwesenden Parlamentariern bejahte nur Rechtsaußen Mario Borghezi von der italienischen Lega Nord diese Frage. Auf dem Podium in Brüssel hatte er sich gleich zu Beginn der Veranstaltung als »Advokat des Teufels« vorgestellt und das zur Schau gestellte Mitgefühl der anderen Politiker gegenüber den Flüchtlingen als »verlogen« kritisiert. Die Spezialisten, die sein Land immer wieder wegen des Umgangs mit Asylsuchenden anprangern, seien inkompetent und würden nur in »Fünf-Sterne-Hotels« sitzen, statt mit den »armen Fischern von Lampedusa« zu sprechen, die unter der »Masseneinwanderung« leiden müßten. Man müsse Immigranten einsperren und europaweit polizeilich erfassen, um Kriminalität und Drogenschmuggel zu bekämpfen, wetterte er, worauf ein französischer Journalist sich bemüßigt fühlte, ihn darauf hinzuweisen, daß in Italien wohl eher Mafiaorganisationen wie die ’Ndrangheta hauptverantwortlich für solche Verbrechen seien.

Die Abstimmung über das neue EU-Asylsystem im Parlament droht trotzdem zu einer Formsache zu werden. Bei der normalerweise vorentscheidenden Abstimmung über den mit dem EU-Rat ausgehandelten Kompromiß zur Asylpolitik stimmten im vergangenen November 18 Abgeordnete dafür, fünf dagegen – bei nicht weniger als 25 Enthaltungen. Als einzige Fraktion lehnte die Linke (GUE/NGL) das Papier geschlossen ab. Man sei zwar froh, einige Verbesserungen durchgesetzt zu haben, erklärte der Abgeordnete Dennis de Jong anschließend, das System als solches bleibe jedoch »insgesamt zweifelhaft«.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 7. Februar 2013


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