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"Kulturelle Freiheit in unserer Welt der Viefalt"

UNDP-Bericht 2004 zur menschlichen Entwicklung vorgelegt - Zusammenfassung und Auszüge

Zusammenfassung

"Kulturelle Freiheit ist für die menschliche Entwicklung eine ebenso wichtige Voraussetzung wie Demokratie und wirtschaftliche Möglichkeiten", fasst der am 15. Juni 2004 veröffentlichte UNDP-Bericht über die menschliche Entwicklung zusammen. Die Autoren vertreten die Auffassung, dass alle Menschen das Recht haben, ihre ethnische, sprachliche und religiöse Identität zu wahren. Die Anerkennung dieser Identitäten sei der einzig mögliche Ansatz für eine nachhaltige Entwicklung der von Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaften. Dem stellt die UN-Organisation die ernüchternde Bilanz gegenüber, dass in vielen Teilen der Welt der Lebensstandard heute niedriger ist als im Jahr 1990. Nach dem "Human Development Index" (HDI), der sich vorwiegend über das Pro-Kopf-Einkommen (ausgedrückt in Kaufkraftparitäten), die Lebenserwartung und den Bildungsstand der Bevölkerung errechnet, haben seit 1990 weltweit 20 Länder einen Entwicklungsrückschritt zu beklagen. Dadurch stehen auch die so genannten Millenniumsziele zur Bekämpfung von Armut, Krankheit und Analphabetismus in Frage, die die Staats- und Regierungschefs beim UN-Gipfel 2000 beschlossen hatten und die eine Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 vorsehen. Beim derzeitigen Entwicklungstempo würde das Ziel, allen Kindern grundlegende Schulbildung zu gewähren, statt 2015 erst im Jahr 2129 erreicht, heißt es im UN-Bericht. Die Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel würde erst 2106 verwirklicht.




UNDP-Bericht
Der UN-Bericht über die menschliche Entwicklung erscheint seit 1990 jährlich. Jeder Bericht behandelt ein Schwerpunktthema. So geht es diesmal um die Notwendigkeit kultureller Freiheit. Der Bericht wird in mehr als 120 Ländern und zwölf Sprachen veröffentlicht.
Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme - UNDP) ist das globale Entwicklungsnetzwerk der UN. Es ist in 166 Ländern tätig und arbeitet gemeinsam mit den Staaten an ihren eigenen Lösungen für globale und nationale Entwicklungsprobleme.

Seit 1990 gibt das UNDP jährlich den "Bericht über die menschliche Entwicklung" (Human Development Report) in Auftrag. Ein unabhängiges Expertenteam untersucht darin wichtige Fragen von globaler Bedeutung. Ein weltweites Netzwerk aus Beratern aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft steuert Daten, Ideen und Praxisbeispiele bei und unterstützt die Analyse und die Vorschläge, die in den Berichten gemacht werden. Das UNDP-Konzept menschlicher Entwicklung geht über das Pro-Kopf-Einkommen, die Entwicklung von Humanressourcen und die Grundbedürfnisse als Maßstäbe menschlichen Fortschritts hinaus. Es bewertet auch Faktoren wie Freizeit und Menschenwürde.



Der Bericht 2004 macht mehrere Ursachen dafür aus. Für das südliche Afrika nennt er die Immunschwächekrankheit Aids als zentrale Entwicklungsbremse. Generell stellt er fest, dass noch immer ein Siebtel der Weltbevölkerung - etwa 900 Millionen Menschen - aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit Benachteiligung ausgesetzt sind. Politische Ausgrenzung treffe weltweit 832 Millionen Menschen, wirtschaftliche Ausgrenzung 750 Millionen. Die Opfer gehören vorwiegend ethnischen oder religiösen Minderheiten an oder sind Migranten. Viele werden bei der Suche nach Arbeit oder einer Wohnung diskriminiert. Wenn Volksgruppen, religiöse Minderheiten oder Einwanderer derart ausgegrenzt würden, reagierten sie darauf mit politischem Aktivismus. Dies könne die Gemeinschaften polarisieren und zu einer Bedrohung für Frieden und Entwicklung werden.

Eine große Herausforderung stellt laut UNDP in diesem Kontext die Migration der letzten Jahrzehnte dar. In Nordamerika stieg die Gesamtzahl der Einwohner ausländischer Herkunft zwischen 1980 und 2000 um 145 Prozent von 14 auf 36 Millionen, in der EU um etwa 75 Prozent. Der UNDP-Bericht fordert, dass die Einwanderer in ihren neuen Heimatländern mit vollen Rechten und Pflichten ausgestattet werden und Bindungen an ihre Herkunftsländer aufrecht erhalten dürfen. Letzteres müsse ihre Loyalität gegenüber der neuen Heimat keineswegs gefährden. Länder mit hohem Immigranten-Anteil sollten sich der Vielfalt öffnen, statt sich auf ihre Assimilation zu verlassen. Im einzelnen hält das UNDP eine gezielte Anti-Diskriminierungs-Politik für erforderlich, etwa durch Quoten im Arbeitsmarkt. Die Autoren plädieren außerdem für die doppelte Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht für Ausländer auf kommunaler Ebene. Wichtig sei auch die Förderung der Muttersprache.

Nach Frankfurter Rundschau, 16.07.2004

Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus dem zusammenfassenden Kapitel des UNDP-Berichts. Die Autoren setzen sich darin mit fünf gängigen "Mythen" auseinander.

Mythos Nr. 1:

Die ethnischen Identitäten der Menschen stehen in Konkurrenz zu deren Verbundenheit mit dem Staat. Deshalb muss im Falle der Anerkennung von Vielfalt auf die staatliche Einheit verzichtet werden.

Dem ist nicht so. Einzelne können mehrere sich ergänzende Identitäten haben und haben dies auch tatsächlich: ihre Volkszugehörigkeit, Sprache, Religion und Rasse wie auch ihre Staatsangehörigkeit. Genauso wenig ist Identität ein Nullsummenspiel. Es ist nicht unbedingt erforderlich, eine Wahl zwischen staatlicher Einheit einerseits und der Anerkennung kultureller Unterschiede andererseits zu treffen.

Ein Gefühl der Identität und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die über gemeinsame Werte und andere kulturelle Bindungen verfügt, ist für den Einzelnen sehr wichtig. Jedes Individuum kann sich jedoch mit vielen unterschiedlichen Gruppierungen gleichzeitig identifizieren. Zur Identität des Menschen gehören Staatsangehörigkeit (z.B. Franzose oder Französin zu sein), Geschlecht (z.B. Frau zu sein), Rasse (z.B. westafrikanischer Herkunft zu sein), Sprache (z.B. fließend Thai, Chinesisch und Englisch zu sprechen), politische Einstellung (z.B. linksorientiert zu sein) und Religionszugehörigkeit (z.B. Buddhist zu sein).

Identität beinhaltet außerdem ein Element der Wahlmöglichkeit: Innerhalb der Zugehörigkeit zu diesen Gruppierungen kann sich der Einzelne dafür entscheiden, in unterschiedlichen Zusammenhängen die eine Gruppenzugehörigkeit einer anderen vorzuziehen. Mexikanischstämmige Amerikaner können beispielsweise in der US-Armee dienen und gleichzeitig Fans der Fußballnationalmannschaft von Mexiko sein. Viele weiße Südafrikaner haben sich dafür entschieden, die Apartheid als Südafrikaner zu bekämpfen. Soziologen weisen zwar darauf hin, dass es bei den Menschen Grenzziehungen der Identität gibt, die "uns" von "den Anderen" abtrennen, doch verschieben sich und verschwimmen diese Grenzen, so dass sie immer größere Gruppen von Menschen umfassen.

Das "Nation-Building" war eine beherrschende Zielsetzung des 20. Jahrhunderts, und die meisten Staaten haben sich darum bemüht, kulturell homogene Staatsgefüge mit einer gemeinsamen Identität aufzubauen. Manchmal hatten sie damit Erfolg, doch nur um den Preis von Unterdrückung und Verfolgung. Wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts etwas gezeigt hat, dann ist es, dass der Versuch, kulturelle Gruppierungen entweder zu beseitigen oder sie wegzuwünschen, hartnäckigen Widerstand hervorruft. Im Gegensatz dazu hat die Anerkennung kultureller Identitäten dazu geführt, dass nie enden wollende Spannungen aufgelöst werden konnten. Aus praktischen wie auch aus moralischen Gründen ist es daher viel besser, wenn man kulturellen Gruppierungen entgegenkommt als wenn man versucht, sie auszuschalten oder so tut, als gäbe es sie gar nicht.

Länder sind nicht gezwungen, sich zwischen nationaler Einheit und kultureller Vielfalt zu entscheiden. Umfragen haben ergeben, dass beide nebeneinander existieren können und dies auch häufig tun. In Belgien antwortete die überwältigende Mehrzahl der befragten Bürger, dass sie sich sowohl als Belgier als auch als Flamen oder Wallonen fühlen; in Spanien, dass sie sich zwar als Katalanen oder Basken, aber auch als Spanier fühlen.

Diese und andere Länder haben sich sehr angestrengt, Raum für vielfältige Kulturen zu schaffen. Sie haben sich außerdem sehr darum bemüht, Einheit zu schaffen, indem sie den Respekt für Identitäten und das Vertrauen in staatliche Institutionen gefördert haben. Diese Staaten haben zusammengehalten. Einwanderer müssen sich nicht von der Verbundenheit mit ihren Familien in ihrem Heimatland lossagen, um eine Loyalität zu ihrer neuer Heimat aufbauen zu können. Befürchtungen, dass Einwanderer das Land fragmentieren könnten, wenn sie sich nicht "anpassen", sind unbegründet. Anpassung ohne Wahlmöglichkeit ist kein mögliches - oder nötiges - Integrationsmodell mehr.

Bei Vielfalt und staatlicher Einheit gibt es kein Entweder-oder. Durch eine Politik der Multikulturalität lassen sich Staaten aufbauen, in denen es Vielfalt in der Einheit gibt.

Mythos Nr. 2:

Ethnische Gruppierungen sind anfällig gegenüber gewaltsamen Auseinandersetzungen, weil ihre Werte miteinander kollidieren. Deshalb muss im Falle der Anerkennung von Vielfalt auf den inneren Frieden verzichtet werden.

Das stimmt nicht. Es gibt kaum empirische Belege dafür, dass kulturelle Unterschiede und Wertekollisionen per se Ursachen gewaltsamer Auseinandersetzungen darstellen. Es stimmt allerdings, insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges, dass es nicht so sehr zwischen Staaten, als vielmehr zwischen ethnischen Gruppierungen innerhalb dieser Staaten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen ist. Was jedoch deren Ursachen anbelangt, so sind sich die jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen weitgehend darin einig, dass kulturelle Unterschiede für sich allein noch nicht der ausschlaggebende Faktor sind. Manche Forscher vertreten sogar den Standpunkt, dass kulturelle Vielfalt die Konfliktgefahr vermindere, da sie die Mobilmachung von Gruppen erschwert.

Entsprechende Studien liefern unterschiedliche Erklärungen für diese Kriege: wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den einzelnen Gruppierungen wie auch Kämpfe um die politische Macht, Grund und Boden und andere Wirtschaftsgüter. Auf den Fidschi-Inseln haben fidschianische Ureinwohner aus Angst, dass man ihnen ihr Land wegnehmen will, einen Putsch gegen die von indischstämmigen Fidschianern beherrschte Regierung organisiert. In Sri Lanka wurde ein bereits seit Jahrzehnten anhaltender bürgerkriegsähnlicher Zustand dadurch ausgelöst, dass zwar die singhalesische Bevölkerungsmehrheit an die politische Macht gelangte, die tamilische Minderheit aber weiterhin mehr Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen hatte. In Burundi und Ruanda waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten sowohl Tutsi als auch Hutu von wirtschaftlichen Chancen und politischer Mitbestimmung ausgeschlossen.

Kulturelle Identität spielt bei Konflikten dieser Art sicherlich eine Rolle, wenn auch nicht als Ursache, sondern als Triebkraft für politische Mobilmachung. Um ihre Anhänger "aufzuwiegeln", beschwören Führer eine gemeinsame Identität, deren Symbole und historische Missstände. Fehlende kulturelle Anerkennung kann auch ein Auslöser für die Mobilisierung von Gewalt werden. Zwar war die tief greifende Ungleichheit eigentliche Ursache der Soweto-Unruhen im Jahr 1976 in Südafrika, konkret ausgelöst wurden sie jedoch durch Bestrebungen, den von Schwarzen besuchten Schulen Afrikaans als Unterrichtssprache aufzuzwingen.

Während das Nebeneinander kulturell voneinander abgegrenzter Gruppierungen nicht schon an sich eine Ursache für gewaltsame Auseinandersetzungen darstellt, ist es gefährlich, wenn zugelassen wird, dass sich die wirtschaftliche und politische Ungleichheit zwischen diesen Gruppierungen verschärft, oder wenn kulturelle Unterschiede vertuscht werden. Denn kulturelle Gruppierungen lassen sich leicht dafür mobilisieren, sich gegen solche Disparitäten zu wehren, da sie diese als Ungerechtigkeit empfinden.

Auch wenn die Alternative nicht "entweder Frieden oder Respekt für Vielfalt" lauten kann, muss Identitätspolitik so gesteuert werden, dass sie nicht in Gewalttätigkeiten umschlägt.

Mythos Nr. 3:

Kulturelle Freiheit erfordert das Eintreten für traditionelle Gebräuche. Deshalb muss im Falle der Anerkennung kultureller Vielfalt möglicherweise auf andere Prioritäten menschlicher Entwicklung, wie beispielsweise Fortschritte bei Entwicklung, Demokratie und Menschenrechten, verzichtet werden.

Auch das stimmt nicht. Bei kultureller Freiheit geht es um die Ausweitung der Wahlmöglichkeiten des Einzelnen, nicht um die Bewahrung von Werten und Bräuchen als Selbstzweck in blinder Ergebenheit gegenüber der Tradition.

Kultur ist keine tote Anhäufung von Werten und Bräuchen. Sie wird vielmehr ständig neu mit Leben erfüllt, wenn Menschen ihre Werte und Bräuche hinterfragen, an veränderte Gegebenheiten anpassen und im Gedankenaustausch mit Anderen neu definieren.

Manche Leute sind der Auffassung, dass das Eintreten für Multikulturalität einen Handlungsansatz darstellt, der kulturelle Gebräuche auch dann bewahren will, wenn sie gegen Menschenrechte verstoßen, und dass die Bewegungen die kulturelle Anerkennung fordern, nicht demokratisch geführt werden. Man darf jedoch weder kulturelle Freiheit noch den Respekt für Vielfalt mit dem bedingungslosen Eintreten für die Tradition verwechseln. Kulturelle Freiheit bedeutet, dass Menschen in der Lage sind, zu leben wie sie wollen und diejenigen zu sein, die sie sein wollen, wobei ihnen ausreichende Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

"Kultur", "Tradition", und "Authentizität" sind nicht mit "kultureller Freiheit" gleichzusetzen. Sie stellen keine akzeptablen Gründe dar, warum man Praktiken zulassen sollte, die Einzelnen Chancengleichheit versagen und ihre Menschenrechte verletzen - zum Beispiel, wenn Frauen nicht das gleiche Recht auf Schulbildung zugesprochen wird wie Männern.

Interessengruppen, die von selbsternannten Führern angeführt werden, spiegeln möglicherweise nicht die Ansichten ihrer Mitglieder insgesamt wider. Es kommt nicht selten vor, dass Gruppierungen von Leuten dominiert werden, die daran interessiert sind, unter dem Vorwand von "Tradition" den Status Quo aufrechtzuerhalten und die dann als Hüter des Traditionalismus wirken, um deren Kulturen auf dem gegenwärtigen Stand einzufrieren. Wer kulturelles Entgegenkommen fordert, sollte sich selbst an demokratische Grundsätze und an die Zielsetzung von menschlicher Freiheit und Menschenrechten halten. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Volk der Samen in Finnland, die Autonomie genießen und diese in einem demokratisch strukturierten Parlament praktizieren, das seinen eigenen demokratischen Spielregeln folgt, aber Teil des finnischen Staatswesens ist.

Die Berücksichtigung kultureller Unterschiede einerseits und Menschenrechten und Entwicklung andererseits müssen nicht im Widerspruch zueinander stehen. Der Entwicklungsprozess erfordert jedoch die aktive Mitwirkung der Menschen beim Kampf für Menschenrechte sowie einen Wertewandel.

Mythos Nr. 4:

Ethnisch vielgestaltige Länder sind weniger dazu in der Lage, sich weiterzuentwickeln. Deshalb muss im Falle der Anerkennung von Vielfalt auf die Förderung der Entwicklung verzichtet werden.

Dies ist nicht richtig. Es ist kein eindeutiger Zusammenhang, ob positiv oder negativ, zwischen kultureller Vielfalt und Entwicklung nachgewiesen.

Dennoch wird immer wieder behauptet, dass Vielfalt ein Hindernis für Entwicklung dargestellt hat. Auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass viele Gesellschaften, in denen verschiedene Volksgruppen zusammenleben, ein geringes Niveau von Einkommen und menschlicher Entwicklung aufweisen, gibt es keine Beweise dafür, dass dies mit der kulturellen Vielfalt zusammenhängt. In einer Studie wird die Auffassung vertreten, dass Vielfalt eine Ursache für die schwache Wirtschaftsleistung in Afrika war und ist; dies lässt sich jedoch darauf zurückführen, dass die politischen Entscheidungsträger eher nach ethnischen als nach nationalen Interessen vorgehen, nicht auf die Vielfalt an sich. Genauso wie es Vielvölkerstaaten gibt, die wirtschaftlich auf der Stelle treten, so gibt es auch andere, die bemerkenswerte Erfolge zu verzeichnen haben. Malaysia, dessen Bevölkerung zu 62 Prozent aus Malaien und anderen indigenen Gruppierungen sowie 30 Prozent Chinesen und acht Prozent Indern besteht, hatte im Zeitraum 1970-90, den Jahren, als es eine gezielte Antidiskriminierungspolitik betrieb, das zehnthöchste Wirtschaftswachstum der Welt. Mit Rang 64 steht Mauritius von allen Staaten Afrikas südlich der Sahara am weitesten oben im Index für menschliche Entwicklung. Das Land hat eine vielfältige Bevölkerung afrikanischer, indischer, chinesischer und europäischer Abstammung, davon 50 Prozent Hindus, 30 Prozent Christen und 17 Prozent Moslems.

Mythos Nr. 5:

Manche Kulturen sind eher als andere dazu in der Lage, Entwicklungsfortschritte zu machen, und manche Kulturen verfügen im Gegensatz zu anderen über inhärente demokratische Werte. Deshalb muss im Falle des Entgegenkommens gegenüber bestimmten Kulturen auf die Förderung von Entwicklung und Demokratie verzichtet werden.

Auch dies ist nicht richtig. Weder statistische Analysen noch historische Untersuchungen ergeben Anhaltspunkte für einen kausalen Zusammenhang zwischen Kultur und wirtschaftlichem Fortschritt oder Demokratie.

Kultureller Determinismus, also die Vorstellung, dass die Kultur einer Gruppierung die Erklärung für deren Wirtschaftsleistung und demokratische Fortschritte bietet, für die sie entweder hinderlich oder förderlich ist, scheint auf den ersten Blick äußerst einleuchtend. Diese Theorien lassen sich jedoch nicht durch ökonometrische Analysen oder geschichtliche Erfahrung untermauern.

Es sind viele Theorien des kulturellen Determinismus vorgebracht worden, angefangen mit der These von Max Weber, wonach die protestantische Ethik den entscheidenden Faktor für erfolgreiches Wachstum in kapitalistischen Volkswirtschaften darstellt. Auch wenn diese Theorien eine schlüssige Erklärung der Vergangenheit liefern, so sind sie doch immer wieder in Bezug auf Zukunftsprognosen widerlegt worden. Denn als Webers Theorie der protestantischen Ethik in Umlauf gelangte, hatten die katholischen Länder (Frankreich und Italien) bereits ein höheres Bevölkerungswachstum als das protestantische Großbritannien oder Deutschland. Daraufhin wurde die Theorie erweitert und sollte sich nun auf die christliche oder westliche Kultur allgemein beziehen. Als Japan, Südkorea, Thailand und andere ostasiatische Länder plötzlich nie da gewesene Wachstumsraten erzielten, musste die Ansicht, dass konfuzianische Werte wachstumshemmend seien, über Bord geworfen werden.

Das Verstehen kultureller Traditionen kann Verständnis für menschliche Verhaltensweisen und gesellschaftliche Triebkräfte schaffen, die die Ergebnisse des Entwicklungsprozesses beeinflussen. Dieses Verständnis liefert jedoch keine großartige Theorie für den Zusammenhang von Kultur und Entwicklung. Wenn man beispielsweise die Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum untersucht, dann stellen sich die Wirtschaftspolitik, die geographischen Gegebenheiten und die Belastung durch Krankheiten als in höchstem Maße relevante Faktoren heraus. Die Kultur hingegen ist in diesem Zusammenhang nicht signifikant. Es spielt also keine erhebliche Rolle, ob eine Gesellschaft vom Hinduismus oder vom Islam geprägt ist.

Dasselbe gilt für die Demokratie. In die politische Diskussion beginnt eine Neuauflage des kulturellen Determinismus Einzug zu halten, die das Scheitern der Demokratisierung in der nichtwestlichen Welt auf inhärente kulturelle Charakteristika wie Intoleranz und "autoritäre Werte" zurückführt. Auf globaler Ebene vertreten einige Theoretiker die These, dass im 21. Jahrhundert ein "Zusammenprall der Zivilisationen" stattfinden werde und die Zukunft demokratischer und toleranter westlicher Staaten durch nicht-westliche Staaten mit einem autoritäreren Wertesystem bedroht sei. Hier ist Skepsis angebracht, schon allein deshalb, weil diese Theorie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen der "Zivilisation" überzeichnet und die Aspekte, in denen sie sich ähneln, ignoriert.

Außerdem hat ja der Westen nicht Demokratie oder Toleranz für sich gepachtet. Es gibt historisch keine eindeutige Trennlinie zwischen einem toleranten und demokratischen Westen und einem despotischen Osten. Plato und Augustinus waren in ihrem Denken nicht weniger autoritär als Konfuzius und Kautilya. Vorkämpfer der Demokratie hat es nicht nur in Europa, sondern auch anderswo gegeben. Man denke nur an Akbar, der im Indien des 16. Jahrhunderts religiöse Toleranz predigte, oder Prinz Shotoku, der im Japan des siebten Jahrhunderts eine Verfassung (kempo) einführte, in der nachdrücklich betont wurde, dass "Entscheidungen in wichtigen Angelegenheiten nicht durch eine Person allein getroffen, sondern von vielen gemeinsam beraten werden sollten". Die Auffassung, dass bei Entscheidungen über wichtige öffentliche Angelegenheiten Mitbestimmung erfolgen soll, war und ist ein zentraler Bestandteil vieler Traditionen in Afrika und anderen Teilen der Welt. Jüngere Erkenntnisse aus der Welt-Werte-Erhebung zeigen, dass Menschen in islamischen Ländern demokratische Werte genauso sehr unterstützen wie Menschen in nichtislamischen Ländern.

Ein Grundproblem bei diesen Theorien ist die ihnen zugrunde liegende Annahme, dass Kultur etwas im Wesentlichen Festgelegtes und Unveränderliches sei, wodurch sich die Welt fein säuberlich in einzelne "Zivilisationen" oder "Kulturen" einteilen ließe. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass es in Gesellschaften zwar eine große Kontinuität von Werten und Traditionen geben kann, Kulturen aber veränderlich und selten homogen sind. Nahezu alle Gesellschaften waren schon einmal einem Wertewandel unterzogen - beispielsweise im Verlauf des letzten Jahrhunderts einem Wandel der Werte bezüglich der Rolle der Frau und der Gleichberechtigung der Geschlechter. Radikale Veränderungen bei sozialen Verhaltensweisen hat es überall gegeben, bei Katholiken in Chile und Moslems in Bangladesch genauso wie bei Buddhisten in Thailand. Durch solche Veränderungen und Spannungen innerhalb der einzelnen Gesellschaften werden die Politik und der historische Wandel angetrieben - die anthropologische Forschung wird inzwischen von der Fragestellung beherrscht, in welcher Weise Machtverhältnisse sich hierauf auswirken. Paradoxerweise wächst jetzt, nachdem die Anthropologen gerade von der Vorstellung Abschied genommen haben, dass Kultur ein begrenztes und festgelegtes gesellschaftliches Phänomen sei, das allgemeine politische Interesse daran, die grundlegenden Werte und Charakterzüge von "Völkern und deren Kultur" herauszufinden.

Die Theorien des kulturellen Determinismus verdienen eine kritische Beurteilung, da von ihnen gefährliche Konsequenzen für die Politik ausgehen. Sie können die Unterstützung für nationalistische Politikmaßnahmen nähren, die "minderwertige" Kulturen, von denen behauptet wird, dass sie der nationalen Einheit, Demokratie und Entwicklung im Wege stehen, verunglimpfen oder unterdrücken. Derartige Angriffe auf kulturelle Werte schüren dann gewalttätige Reaktionen, die Nahrung für Spannungen innerhalb und zwischen Nationen abgeben können.

Die deutsche Ausgabe des Berichts ist zu beziehen über den UNO-Verlag, Am Hofgarten 10 in 53113 Bonn. Telefon 0228-949020. E-Mail: info@uno-verlag.de. Der Bericht kostet 27,90 Euro. Der Herausgeber der deutschen Ausgabe ist die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (www.dgvn.de).

Der hier dokumentierte Text wurde auf der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau veröffentlicht (Ausgabe vom 16.07.2004)

Informationen über den letztjährigen UNDP-Bericht gibt es hier:
"Wasser auf den Mühlen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung"





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