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"Helm ab zum Gebet!"

Großer Zapfenstreich: Preußischer Militarismus mit religiösen Weihen. Zu den geschichtlichen Wurzeln des antiquiertesten Rituals der Bundeswehr

Von Frank Brendle*

Mit einem Großen Zapfenstreich zelebriert die Bundeswehr heute [26. Oktober 2005] vor dem Reichstagsgebäude den 50. Jahrestag ihrer Aufstellung. Bei dem Zeremoniell handelt es sich nicht nur um das aufwendigste, sondern auch um das antiquierteste Ritual der Bundeswehr.

Laut Zentraler Dienstvorschrift (ZDV) 10/8 darf der Große Zapfenstreich »nur zu protokollarischen und besonderen militärischen Anlässen« aufgeführt werden. Die ZDV schreibt in 37 Punkten jeden Stiefelschritt und jeden Befehl der Zeremonie einzeln vor. Soldaten mit Musikgeräten, Soldaten mit musealen Waffen und Soldaten mit Fackeln vor der Brust führen eine ausgeklügelte Choreographie aus. Zu Beginn gibt ein Tambourmajor das Kommando, den »Lockmarsch« zu spielen, dem sich Marschmusik anschließt. Wenn alle Einheiten ihre Plätze eingenommen haben, erschallt das Kommando: »Fackelträger vortreten!« Nachdem die Augen in die richtige Richtung befohlen und die Gewehre präsentiert sind, wird die »Serenade« gespielt. Mit dazu gehört der Yorksche Marsch und sinnigerweise der Choral »Ich bete an die Macht der Liebe«. Schließlich heißt es: »Helm ab zum Gebet!« Dieses wird nicht laut gesprochen, damit die Angehörigen verschiedener Religionen die Möglichkeit haben, ihren jeweils eigenen Herrgott anzurufen. Danach setzt wieder Musik ein, zum Abschluß ertönt die Nationalhymne. Der Große Zapfenstreich vereinigt damit einen militärischen Massenaufmarsch (beteiligt sind rund 350 Soldaten plus einige hundert Feldjäger) mit musikalischer Feierlichkeit und Religionsbezug, wie Markus Euskirchen in seiner Untersuchung über Militärrituale zusammenfaßt.[1]

Preußische Traditionen

Ursprünglich war der Zapfenstreich eine Methode, mit der die Soldaten abends aus den Schänken gelockt wurden. Ein Vorgesetzter klapperte, unterstützt von Pfeifern und Trommlern, die Lokale ab, strich mit einem Stock über die Zapfen der Bier- und Weinfässer und beendete damit das Gelage der Landsknechte, um ihren militärischen Gebrauchswert für den kommenden Tag zu erhalten. Anfang des 19. Jahrhunderts setzte in den preußischen Heeren allmählich die Ritualisierung des Zapfenstreichs ein, bis am 12. Mai 1838 in Berlin schließlich die erste Aufführung des »Großen Zapfenstreichs« in der Form stattfand, wie sie grundsätzlich bis heute beibehalten wurde.

Die Übernahme dieses fast 170 Jahre alten Zeremoniells durch die Bundeswehr verdeutlicht ihre preußische Traditionssäule. Nach eigener Darstellung beruht das Traditionsverständnis der Truppe zum einen auf den eigenen Traditionen, die in den vergangenen 50 Jahren entwickelt wurden, auf dem »Vermächtnis« des Widerstands vom 20. Juli 1944 und auf den preußischen Militärreformern, insbesondere Clausewitz, Gneisenau und Scharnhorst, dessen 200. Geburtstag am 12. November 1955 als Gründungstag der Bundeswehr ausgewählt wurde. Das Verdienst der preußischen Reformer besteht in den Augen von Militärs vor allem darin, die richtigen Lehren aus verheerenden Niederlagen gezogen zu haben. Im Kampf der napoleonischen Truppen gegen die preußischen Armeen stand die moderne Tirailleurtaktik (Schützenschwärme) gegen die überholte Linientaktik, stand Auftrags- gegen Befehlstaktik. Die französischen Soldaten waren enthusiastische Kämpfer für Freiheit und Nation, während die preußischen Mannschaften aus einer Mischung von Zwangsgepreßten und schlechtbezahlten Söldnern bestanden.

Scharnhorst machte sich als Vorsitzender der vom preußischen König eingesetzten Reorganisationskommission, der auch Gneisenau und Clausewitz angehörten, daran, das preußische Militär umfassend zu modernisieren. Das Rekrutierungssystem sollte künftig auf der Wehrpflicht beruhen (»Alle Männer im ganzen Staate sind verpflichtet, ihr Vaterland zu verteidigen«). Die Anforderungen an den Bildungsgrad der Offiziere wurden erhöht, die soziale Zusammensetzung des vormals rein adligen Offizierskorps verbreitert. Neben der Weiterentwicklung von Strategie und Taktik, wozu eigens eingerichtete Kriegsschulen beitragen sollten, stand die Gewährleistung der soldatischen Disziplin zur Diskussion. Gneisenau prägte den Begriff von der »Freiheit der Rücken«, womit die Abschaffung besonders diskriminierender Prügelstrafen (Spießrutenlaufen) gemeint war. Ähnlich dem französischen Vorbild sollten die Soldaten nicht nur gut gedrillt werden, sondern auch über die notwendige »Moral« verfügen. Dazu diente unter anderem, wie der VVN-BdA-Bundesvorsitzende und Theologie-Professor Heinrich Fink gegenüber junge Welt ausführt, »die klerikale Instrumentalisierung der vormals säkularen Zeremonie«, die Preußenkönig Friedrich Wilhelm III 1813 angeordnet hatte. Um dem »notwendigen religiösen Sinn mehr Raum« zu geben, sollte im Anschluß an den Zapfenstreich ein Gebet gesprochen werden. Aus diesem Ritual entwickelte sich der »Große« Zapfenstreich. Daß ausgerechnet Militärkapellen »Ich bete an die Macht der Liebe« intonieren, ist auch progressiven Christen ein Ärgernis.

Gehorsam aus Überzeugung

Soldatischer Gehorsam sollte nicht mehr nur auf Zwang, sondern auch auf innerer Überzeugung beruhen. Die Bemühungen der Militärreformer um einen preußischen Patriotismus wurden von weitergehenden Appellen in der politischen Publizistik begleitet. Das zusammengebrochene alte Reich, das nur ein Flickenteppich Hunderter halbsouveräner Territorien mit einem schwachen Kaiser an der Spitze war, sollte durch einen einigen deutschen Nationalstaat abgelöst werden. Die sogenannten Freiheitskriege 1813–1815 gegen die französischen Besatzungstruppen richteten sich objektiv auch gegen die überkommene aristokratische Herrschaft. Die Formel ist relativ simpel: Um gegen die Franzosen siegen zu können, brauchten die deutschen Länder viele, und zwar hochmotivierte, Kämpfer. Denen mußte im Gegenzug etwas geboten werden: Rechte als Staatsbürger, d. h. eine Verfassung, wurden in Aussicht gestellt. Wer dann noch immer nicht begeistert in den Krieg zog, dem drohte Übles: »Lauigkeit ist Hochverrath«, verkündete Gneisenau.

Diesen modernisierenden Aspekt der preußischen Militärreformer betont die Bundeswehr nur allzu gerne (auch die DDR berief sich in ihrer Spätphase auf diesen Teil ihres »nationalen Erbes«). Die Mobilisierung nationaler Leidenschaften war aber in Deutschland kein revolutionäres, sondern ein reaktionäres, auch rassistisches Projekt. Die deutsche Freiheitsbewegung wurde von »Erweckungsdichtern« wie Ernst Moritz Arndt repräsentiert, der »Haß gegen die Fremden, Haß gegen die Franzosen« predigte und forderte, das »Franzosenungeziefer« zu vertilgen.

Scharnhorst und Gneisenau nutzten diesen reaktionären Kontext und verschafften dem preußischen König jene militärische Macht, mit der die französischen Invasionstruppen geschlagen wurden. Zugleich wurde aber auch die Reformbewegung in Deutschland zerschlagen. Macht ohne Recht: Die Monarchen hatten zwar aus taktischen Gründen Verfassungen versprochen, führten sie aber nicht ein bzw. verabschiedeten Scheinverfassungen. Die Karlsbader Beschlüsse von 1819 stellten die alte Ordnung komplett wieder her, im Heer hieß es alsbald: »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!« Es entstand jene preußische Militärherrlichkeit, die über den wilhelminischen Größenwahn schließlich in den faschistischen Vernichtungskrieg mündete.

Nebenbei sei noch darauf hingewiesen, daß das Recht auf »nationale Selbstbestimmung« von den Reformern nur für das eigene Volk gefordert wurde. Gegen die fortwährende Teilung Polens hatten sie keine Einwände. Als 1831 in »Kongreßpolen« der Aufstand gegen die russische Herrschaft losbrach, erhielt Gneisenau den Oberbefehl über die preußischen Observationstruppen, die im preußisch besetzten Teil Polens für »Ruhe und Ordnung« sorgten und den zaristischen Unterdrückern damit zuarbeiteten.

Etikettenschwindel

Die Bundeswehr mogelt sich bis heute an einer Aufarbeitung der deutschen Militärgeschichte vorbei. Der immer noch gültige Traditionserlaß von 1982 proklamiert einerseits als »Maßstab für Traditionsverständnis und Traditionspflege« das Grundgesetz, andererseits bekennt er sich zu preußischen Militärstrategen, die selbstverständlich keine Demokraten waren. Ähnliches gilt für die Offiziere des 20. Juli. Solche unklaren Formulierungen zeugen davon, daß es in der Gründungsphase der Bundeswehr relativ viele Stimmen gab, die aufgrund des »Mißbrauchs« der Armee und ihrer Traditionen durch die Nazis eine völlig neue Traditionspolitik forderten. Welche das sein sollte, wurde indes offengelassen. Dem ersten Generalinspekteur der Bundeswehr, Adolf Heusinger, fiel nichts Passendes ein. Heusinger, bis 1944 im Oberkommando des Heeres einer der Chefplaner der faschistischen Raubzüge, führte 1958 vor Offizieren aus: »Laßt uns festhalten an den alten Prinzipien, die wir noch gebrauchen werden.« Im Sicherheitsausschuß des Bundestages wurde darüber gestritten, ob »Nüchternheit« oder pompöse Zeremonien das Bild der »neuen Wehrmacht« bestimmen solle. Die Diskussionen über »unproduktive Rituale« einerseits und die Pflicht der Republik, in feierlicher Form die »Zusammenarbeit von Volk, Staat und Streitkräften zu symbolisieren« (Carlo Schmid, SPD-Politiker und langjähriger Bundestagsabgeordneter) entschieden schließlich diejenigen, die das militärische Erbe möglichst unverändert bewahren wollten. Seither bestimmt Etikettenschwindel das militärische Auftreten. Wolf Graf von Baudissin, gescheiterter Militärreformer der Bundeswehr, hatte erfolglos gegen jene Traditionselemente protestiert, die »nationalistisch, patriarchalisch-feudal, obrigkeitsstaatlich, vor-technisch oder ethisch wertneutral sind. Hilfreich hingegen erschienen uns Haltungen und Erfahrungen, die durch die Jahrhunderte im Kampf um innere Freiheit, Recht und Menschenwürde gewachsen sind«, erklärte er 1970 im Rückblick.[2] Die Bundeswehr von heute tut so, als seien Baudissins Vorstellungen nicht fromme Wünsche, sondern Realität. General Ulrich de Maizière, Exgeneralinspekteur (und Exgeneralstäbler im OKH der Wehrmacht) behauptet, die »Wurzeln der Bundeswehr sind geprüft worden. Und nur diejenigen wurden genutzt und gehegt, die den Ansprüchen unserer demokratischen Wertordnung entsprechen.« Der Große Zapfenstreich indes negiert all diese Werte. Er vereint das Schlechteste an preußisch-deutscher Geschichte: feudal, obrigkeitsstaatlich, vor-technisch.

Das uneindeutige Geschichtsverständnis der Truppe ermöglicht es bis heute, auch an Elemente der Wehrmacht anzuknüpfen. Zwar hat gerade die SPD/Grünen-Regierung eine erhebliche Menge an Traditionsballast über Bord geworfen. Verbrechen der Wehrmacht werden inzwischen nicht mehr geleugnet, statt dessen marschieren Rekruten in die Ausstellung über den Vernichtungskrieg – wenn auch nur, um scheinbar glaubwürdig als Menschenrechtsverteidiger auftreten zu können und Serben, Taliban oder andere zu bombardieren. Das Andenken an die führertreuen Nazigeneräle wird allmählich durch das Andenken an die Offiziere des 20. Juli überlagert. Diese unterscheiden sich allerdings gar nicht so sehr von den Durchschnittsoffizieren, wie die Öffentlichkeit glauben soll. »Soldatische Pflichterfüllung« und »Tapferkeit« haben auch sie vorzuweisen, und ein Problem damit, Deutschland weit jenseits seiner Grenzen zu »verteidigen«, hatten sie nicht. Sie stehen heute für das Anliegen, den Mythos der »sauberen Wehrmacht (Opposition)« zu retten.

Mobiler Kasernenhof

Militärrituale wirken in zwei Richtungen. Zum einen wenden sie sich an die direkt an der Zeremonie beteiligten Soldaten. Großer Zapfenstreich, Gelöbnisse, Fahnenappelle und andere Rituale gehören zu einer breiten Palette von Disziplinierungstechniken, die aus einem bunten Haufen junger Männer, die mitten aus der Gesellschaft gerissen werden, eine einheitliche Masse von Soldaten formen sollen. Im Ritual zählt das Individuum nichts. Der bis ins einzelne geplante, maschinisierte Ablauf des Großen Zapfenstreichs erniedrigt den einzelnen Soldaten, macht ihn zu einem Rädchen im Getriebe. Ihr Handeln und Denken wird gleichgeschaltet und unter fremde Kontrolle gestellt. Dieser Verlust an Selbstbestimmung, praktisch ein Verlust am Gebrauch des Verstandes, wird kompensiert durch einen Zuwachs an Gefühl. Der Militärhistoriker Wolfram Wette, der früher am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg gearbeitet hat, spricht gegenüber junge Welt von einem »antiquierten militärischen Zeremoniell, das auf eine hochemotionalisierende Weise den Verstand ausschalten soll«. Wie gemeinschaftsstiftend das gemütliche Sitzen am Lagerfeuer, der Besuch eines Konzerts oder das Durchstehen einer größeren Herausforderung sein kann, haben auch die meisten Zivilisten schon erlebt. Beim Militärritual kommt alles zusammen: Durch den wochenlangen Drill, dem insbesondere Rekruten in der Vorbereitung ausgesetzt sind, erleben sie den fehlerfreien Vollzug des Rituals als gemeinsam errungenen Erfolg. Militärmusik erscheint ihnen nicht mehr zum Davonlaufen, sondern als Bestandteil ihres neuen Lebens, das schweigsame Innehalten beim Zapfenstreich »für die gefühlte Dauer eines Vaterunsers« (Euskirchen) sorgt ebenso für eine esoterische Aura wie der Umstand, daß das Ganze in Dämmerlicht stattfindet, das nur von den Fackelträgern spärlich erhellt wird. Kein Wunder, daß derlei Zeremonien in jedem Militär sehr beliebt sind und auch von der Nationalen Volksarmee benutzt wurden.

Neben dieser Binnenfunktion soll der Zapfenstreich aber gleichzeitug in die ganze Gesellschaft hineinwirken: als Reklamesendung, mit der das Ansehen der Truppe gesteigert wird. Wenn die Regierung dazu übergeht, zum Krieg zu rüsten und auch die Heimatfront mobilisieren will, werden zivile Bereiche der Gesellschaft zunehmend vom Militär besetzt. Das war ab Mitte der 1930er Jahre der Fall, als die Nazifaschisten das vorhandene Arsenal an Militärritualen modernisierten, relativ nüchterne Zeremonien durch die Beigabe von Musikkapellen und Ehrenkompanien aufwerteten. Und das wiederholte sich Mitte der 1990er Jahre. Die skandalträchtigen rechtsextremistischen Vorfälle in der Bundeswehr und der in der Öffentlichkeit umstrittene neue Kurs in Richtung Interventionsarmee veranlaßten den damaligen Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) dazu, Militärzeremonien verstärkt aus den Kasernen heraus in die Innenstädte zu verlegen. Die Angehörigen der Soldaten können damit viel besser emotional eingebunden werden; wer Gefallen an martialischen Aufmärschen hat, kommt auf seine Kosten – und vor allem verdeutlicht die Truppe ihren Anspruch, dazuzugehören: Das Zeremoniell »soll den Zusammenhalt der Streitkräfte festigen und die Verbundenheit von Truppe und Bevölkerung stärken«, heißt es in der Zentralen Dienstvorschrift. Die Bevölkerung sei »auf das militärische Zeremoniell aufmerksam zu machen und zur Teilnahme anzuregen«. Der Nachteil dieser Strategie ist freilich, daß zumindest in größeren Städten Bundeswehrgegner diese Einladung wörtlich nehmen und phantasievoll gegen die Rituale protestieren. Rigorose Absperrungen sind die Folge. Das Militärspektakel findet somit in einem »mobilen Kasernenhof« statt.

Die rund 4 000 handverlesenen Ehrengäste können die Öffentlichkeit nicht ersetzen, deswegen muß das Fernsehen einspringen. Das ZDF überträgt den heutigen Zapfenstreich live ab 19.30 Uhr in die bundesdeutschen Wohnzimmer. Es hat übrigens auch den Zeitpunkt der Zeremonie bestimmt. Die Bundeswehr wollte eigentlich schon um 19 Uhr loslegen, das ZDF war aber nicht bereit, seine »heute«-Sendung zu verschieben. Fernsehzuschauer sind in gewisser Hinsicht viel praktischere Konsumenten: Sie stören nicht, wenn sie husten, niesen oder auf die Toilette müssen, im Gegenzug kriegen sie auch keinerlei Störungen mit. Ob sich nun andere Zuschauer gelangweilt in der Nase bohren oder ein antimilitaristisches Protestkommando auf den Platz stürmt: Das ZDF bestimmt die Blickrichtung, und was der Fernsehzuschauer nicht sehen soll, wird er nicht sehen.

Zurüstung zum Krieg

Der Rückgriff auf das Preußentum ist aus Sicht der Bundeswehr konsequent. Die Militärreformer des 19. Jahrhunderts haben erheblich dazu beigetragen, die militärische Effizienz zu steigern, und sie haben ihr Wissen letztlich in den Dienst der Reaktion gestellt. Staatsräson und »nationale Interessen« gingen ihnen über individuelle Freiheitsrechte. Zugleich wird auch an Teile der faschistischen Traditionspolitik angeknüpft. Eines ihrer Markenzeichen war, Militärzeremonien verstärkt auf öffentlichen Plätzen durchzuführen. Beim Traditionsgewehr, das die Angehörigen des Wachbataillons auch heute tragen werden, handelt es sich um den Karabiner 98k – eine 1935 in der Wehrmacht eingeführte Waffe. Angeblich wird sie nur deswegen benutzt, weil das »charakteristische Klacken« ihres Verschlusses für die Zeremonie erforderlich ist. Daß hingegen die NVA in keiner Weise traditionsstiftend sein kann, haben die Generäle der »Armee der Einheit« mehr als einmal klargestellt.

Der Große Zapfenstreich dient auch heute dazu, die Moral der Truppe wie der Öffentlichkeit gleichermaßen auf Linie zu bringen – das heißt, die Entwicklung der Bundeswehr zur weltweit interventionsfähigen Angriffsarmee abzusichern.

Wolf-Dieter Narr, Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie, hat gegenüber junge Welt ausgeführt, warum das Ritual »aus drei Gründen eine politische Schweinerei« sei: »Erstens, weil es an eine Tradition anschließt, die auf Kaiserreich und Nationalsozialismus aufbaut, die endlich unterbrochen gehört; zweitens, weil mit dieser Zeremonie versucht wird, Bundeswehr und Militär überhaupt in einem Bereich des Menschen zu verankern, der mit Rationalität und friedlichem Denken nichts zu tun hat; drittens, weil damit vorgetäuscht wird, die Bundeswehr könne weiterhin mit der allgemeinen Wehrpflicht und als Schule der Nation betrieben werden. Die Bundeswehr ist abzuschaffen und nicht zur globalen Angriffswaffe auszubauen.«

Fußnoten
  1. Markus Euskirchen, Militärrituale. Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments, Köln 2005
  2. Wolf Graf von Baudissin, Soldat für den Frieden, München 1970
* Aus: junge Welt, 26. Oktober 2005


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