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Deutsche Interessen weltweit

Stellungnahme zum Weißbuchentwurf 2006

Von Lühr Henken *

Verteidigungsminister Jung hat am 28. April seinen Ressortkollegen den Entwurf eines neuen Weißbuchs vorgelegt. Es gilt der Regierung als sicherheitspolitisches Programm für etwa zehn Jahre. Offiziell veröffentlicht ist der Text nicht. Allerdings sind die 109 Seiten seit Ende Mai im Internet zu finden. Jungs Ziel war es, den mit dem Koalitionspartner nicht abgestimmten Entwurf am 12. Juli im Kabinett verabschieden zu lassen. Daraus ist nichts geworden, weil der Inhalt selbst für die SPD zu starker Tobak ist. Nun ist vom Herbst die Rede. Zeit genug für die Friedensbewegung zum Vorhaben kritisch Stellung zu nehmen.

Im Entwurf heißt es, die terroristischen Anschläge vom 11.9. „unterstreichen, dass derzeit die größte Gefahr für unsere Sicherheit von asymmetrischen Methoden der Gewaltanwendung durch Terroristen ausgeht“ (S.6). Dabei könne selbst ein Einsatz nuklearer, chemischer und biologischer Mittel nicht ausgeschlossen werden. Der Grad der Bedrohung wird allerdings nicht hinterfragt, sondern an anderer Stelle – übertrieben – sogar als „wachsend“ bezeichnet.

Ressourcensicherung

Stark herausgestellt wird im Weißbuchentwurf zudem, dass „Deutschland aufgrund seines großen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen hohen Abhängigkeit von sicheren Transportwegen und –mitteln in globalem Maßstab verwundbar“ sei. Wörtlich heißt es weiter: „Verwerfungen im internationalen Beziehungsgefüge, Störungen der Rohstoff- und Warenströme, beispielsweise durch zunehmende Piraterie, und Unterbrechungen der weltweiten Kommunikation bleiben in einer interdependenten Welt nicht ohne Auswirkungen auf nationale Wirtschaftsstrukturen, Wohlstand und sozialen Frieden im Lande und damit auf unsere Sicherheit“ (S. 8). Jung zählt den internationalen Terrorismus und Piraterie zu den größten Gefährdungen.

Das Weißbuch zielt auf die „Verteidigung und Entwicklung guter Beziehungen zu strategischen Schlüsselstaaten.“ Diese werden zwar nicht benannt, aber umschrieben: „Hierbei gilt es wegen der Export- und Rohstoffabhängigkeit Deutschlands, sich besonderen Regionen, in denen kritische Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden“ (S. 12). Diesem Handlungsfeld misst die Regierung zentrale Bedeutung zu. Der „freie und ungehinderte Welthandel“ sei ein „vorrangiges Interesse deutscher Sicherheitspolitik“ (S. 9). Um dieses Interesse durchsetzen zu können, wird durchaus an das Militär gedacht. „Traditionell ist Deutschland eine kontinentale Landmacht, die allerdings mehr als 80 Prozent ihres Außenhandels über See abwickelt, und deswegen in besonderem Maße auf freie und sichere Seewege angewiesen ist. Auch aus diesem Grunde ist für Deutschland die Mitgliedschaft in einer Allianz mit bedeutenden maritimen Fähigkeiten und die Wahrung von Interoperabilität mit den Vereinigten Staaten als weltweit führender See-, Luft-, Raum- und Landmacht unverzichtbar“ (S. 17).

Präventive Kriegsführung

Dem Entwurf geht es darum, „Krisen und Konflikte, die Deutschlands Sicherheit beeinträchtigen, vorbeugend einzudämmen und zu bewältigen.“ Auch dies ist wieder militärisch gemeint: „Die gewandelten Sicherheitsherausforderungen erfordern (...) ein neues, gemeinsames Verständnis des Systems der Charta der Vereinten Nationen als grundlegenden Rahmen der internationalen Beziehungen. Instrumente der Konfliktprävention und Krisenbewältigung (...) müssen weiter entwickelt werden, das Recht auf Selbstverteidigung präzisiert und präventives Eingreifen auf völkerrechtlich gesicherten Grundlagen geregelt werden“ (S. 12). Also will man das Recht auf Selbstverteidigung um präventive Eingriffe völkerrechtlich erweitern und legitimieren. Zwar ist das nicht per Regierungsbeschluss möglich, aber als ständiges Sicherheitsratsmitglied käme man der Sache schon näher. Mit diesem Ansinnen nähert sich die Bundesregierung der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA vom September 2002 („Bush-Doktrin“) und der Europäischen Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003 an. Wenn vorbeugendes militärisches Eingreifen bis hin zum Präventivkrieg völkerrechtlich abgesichert würde, führt dies – unter welchen Begründungen auch immer – zu einer hoch gefährlichen Dynamisierung von Rüstung und Kriegsgeschehen. Das auf die Friedenspflicht gegründete moderne Völkerrecht würde durch die Einführung einer präventiven Kriegsführungserlaubnis ad absurdum geführt.

Verhältnis zu den USA

Der Entwurf hebt die „überragende Bedeutung“ eines „engen und vertrauensvollen Verhältnisses zu den USA für die Sicherheit Deutschlands im 21. Jahrhundert“ hervor (S. 17). Den USA wird damit eine klare Präferenz gegeben. „Europa, und das heißt vor allem die EU, muss künftig in noch stärkerem Maß als bisher einen eigenen Beitrag zu seiner Sicherheit leisten. Denn nur ein einiges, starkes und sicherheitspolitisch handlungsfähiges Europa kann insbesondere als Partner der Vereinigten Staaten Mitverantwortung bei der Bewältigung der Herausforderungen für die gemeinsame Sicherheit übernehmen“ (S. 28). Die Regierung orientiert die sich militarisierende EU nicht auf Konkurrenz zu den USA, sondern macht ihr das Angebot einer globalen Partnerschaft. Die Förderung „einer eigenständigen europäischen Handlungsfähigkeit“ ist nur ein nebenbei erwähntes politisches Ziel (S. 54). Die Bundesregierung bestätigt ihre Festlegung, sich mit 18.000 Soldaten an der schnellen Eingreiftruppe der EU und damit auch an ihrer Speerspitze, den Battlegroups, zu beteiligen. Dabei unterliegen die Battlegroups „grundsätzlich keinen geografischen Einschränkungen“ (S. 31). Also Battlegroups weltweit.

Abrüstung Fehlanzeige

An konventionelle Abrüstung verschwendet der Entwurf keinen Gedanken. Nukleare Abrüstung soll stattfinden, jedoch woanders, nicht bei uns. Die US-Atomwaffen auf deutschem Boden sollen bleiben. Der Entwurf plädiert für die deutsche nukleare Teilhabe und die Bereitstellung von deutschen Bomberflugzeugen. Diese Festlegung stößt in der SPD-Fraktion auf massiven Widerstand.

Der Weißbuchentwurf beschreibt die im Aufbau befindliche NATO Response Force (NRF) recht detailliert. Deutschland beteiligt sich an der 25.000 Soldaten starken weltweit einsetzbaren Truppe mit 6.600 Soldaten. Jung brachte kürzlich (Berliner Zeitung 15.6.06) die NRF in Zusammenhang mit einem Einsatz im - erdölreichen - Sudan, für den Fall, dass die Afrikanische Union der UNO den Einsatz in Darfur überträgt.

V-Fall frei definierbar?

Verteidigungsminister Jung schlägt vor, den Verteidigungsbegriff weiter zu fassen als bisher. Zwar ist dieses Ziel nicht ausdrücklich im Entwurf ausgedrückt, aber es ist dort von einem Grundgesetz die Rede, „das einen weiten Rahmen bereit“ stellt, der „unter veränderten Bedingungen sicherheitspolitischen Gestaltungsspielraum eröffnet“ (S. 43). Jung befürwortete in einem FAZ-Interview (2.5.06), dass sämtliche Auslandseinsätze unter dem Rubrum Verteidigung im Grundgesetz gefasst werden. Gelänge dies, wären alle Militärinterventionen legitimiert und als Instrument zur Verteidigung und Durchsetzung deutscher Wirtschaftsinteressen unbedenklich.

Um terroristischen Angriffen zuvor zukommen, strebt Minister Jung an, diese zum Verteidigungsfall zu erklären und das Grundgesetz entsprechend zu ändern. Der Verteidigungsfall ist mit den umstrittenen Notstandsgesetzen 1968 in den Grundgesetzartikel 115 eingefügt worden. Über den Verteidigungsfall befindet der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit und der Bundesrat. Da es sich bei dieser Art Angriffen um solche mit kurzer Vorwarnzeit handeln kann, wäre das Prozedere einer Parlamentsentscheidung zu langwierig, so dass hier das neue Parlamentsbeteiligungsgesetz fassen würde, das unmittelbares Regierungshandeln „bei Gefahr in Verzug“ erlaubt. Dies würde große Grauzonen eröffnen. Erst nachdem der Bundeswehreinsatz erfolgt wäre, würde sich das Parlament mit dem Vorgang befassen. Der Bundeswehreinsatz im Innern ohne parlamentarische Erlaubnis würde die Axt an die Fundamente der demokratischen Verfasstheit unseres Landes legen. Auch hier gibt es erheblichen Widerstand in der SPD-Fraktion.

Umfang der Bundeswehr

Ferner sieht der Entwurf vor, dass die Wehrpflicht erhalten bleibt und der zahlenmäßige Umfang ab 2010 bei 252.500 aktiven Soldatinnen und Soldaten liegen soll. Dazu kommen 75.000 Stellen ziviler Mitarbeiter. Es fällt auf, dass für die Größe des Umfangs der Bundeswehr keine Begründung angegeben wird. Die in diesem Jahr begonnene radikale Umstrukturierung in drei neue Kategorien wird bestätigt. Ab 2010 soll es 35.000 Mann Eingreifkräfte für die NRF der NATO und die schnelle Eingreiftruppe der EU geben. Den Stabilisierungskräften werden 70.000 Mann zugeordnet. Maximal 14.000 von ihnen können gleichzeitig, „aufgeteilt auf bis zu fünf verschiedene Einsatzgebiete“, eingesetzt werden (S. 57). Die zahlenmäßig größte Kategorie sind 147.500 Unterstützungskräfte.

Neue Waffensysteme

Im Weißbuchentwurf werden auch zu beschaffende Waffensysteme genannt, allerdings ohne ihre Umfänge. Sie dienen dazu, der Bundeswehr eine globale Angriffsfähigkeit zu verschaffen, worüber bereits im Friedensjournal berichtet wurde (Ausgabe 5 und 6 in 2005). Die Ausrichtung der Bundeswehr auf einen globalen Militärinterventionismus manifestiert sich exemplarisch in der Marine. Sie soll zu einer “Expeditionary Navy“ ausgebaut werden, um „vor fremden Küsten operieren zu können. (...) Neben ihrer Befähigung zum bewaffneten Einsatz auf See können sie wirkungsvoll zu Operationen an Land beitragen“ (S. 84 f). Zentrales Waffensystem dieses Vorhabens bilden neuartige Korvetten, von denen fünf von Mai 2007 bis November 2008 in Dienst gestellt werden. „Mit den Korvetten K 130 verbessert die Marine künftig ihre Durchsetzungs- und Durchhaltefähigkeit. Diese Eingreifkräfte der Marine werden zur präzisen Bekämpfung von Landzielen befähigt sein und damit streitkräftegemeinsame Operationen von See unterstützen“ (S. 86). Dafür erhalten sie Marschflugkörper mit 200 km Reichweite. Korvetten sind die Speerspitze des aggressiven Marinekonzepts, das als Kanonenbootpolitik bezeichnet werden kann.

* Lühr Henken ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und des Hamburger Forums für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit.

Weitere Infos unter:
Für uneingeschränkte Angriffsfähigkeit der Bundeswehr. Entwurf aus dem Verteidigungsministerium für ein "Weißbuch 2006". Von Lühr Henken

Der erste Entwurf zum "Weißbuch" ist hier zu haben:
www.geopowers.com


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal Nr. 4, Juli/August 2006

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