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Das Kabinett verkürzt den Wehr- und Zivildienst auf sechs Monate. Ein guter Kompromiss?

Es debattieren: Dr. Ulrich Schneider, Paritätischer Gesamtverband, Dr. Werner Glenewinkel, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Bielefeld, und Miriam Gruß, MdB-FDP

Politisches Lehrstück

Von Ulrich Schneider *

Man ist schon froh, dass sich die Koalition überhaupt geeinigt hat nach dem entnervenden Hin und Her der letzten Monate. Ursprünglich sollte die Verkürzung zum Januar 2011 greifen. Dann sah es eine Weile so aus, als würde es nie was. Nun wird sie sogar vorgezogen: Ab dem 1. Juli wird der Zivildienst -- holterdiepolter -- nur noch sechs statt neun Monate dauern. Die Entscheidung zur Verkürzung selbst ist dabei ein Lehrstück für politische Kompromisse, die keine Schule machen sollten: Die FDP will den Wehrdienst abschaffen, die Union will, dass alles bleibt, wie es ist. Damit beide Seiten ihr Gesicht wahren können, einigt man sich schließlich auf etwas, das keiner will, das niemandem nützt und das in der Praxis erhebliche Probleme verursacht.

Fakt ist: Der Zivildienst ist eine gesellschaftliche Größe geworden. Heute erbringen ihn ca. 90 000 junge Männer im Jahr, meist im sogenannten Dienst am Menschen. Sie leisten zusätzliche Hilfen in der Pflege älterer Menschen, begleiten und unterstützen Menschen mit Behinderungen oder engagieren sich in der Kinder- und Jugendhilfe. Für die Einrichtungen sind sie eine wertvolle Bereicherung. Sie bauen zu Menschen, die Hilfen benötigen, Beziehungen auf und gewinnen Vertrauen. Hierzu bedarf es Zeit, die heute bereits eng bemessen ist.

Bei fast drei Monaten, die für Einweisungsdienst, Lehrgänge, Urlaub oder auch einmal eine Krankheit, einkalkuliert werden müssen, bleibt bei einem sechsmonatigen Zivildienst nicht mehr viel aktive Zeit. Damit wird nicht nur die bisherige Praxis eines sinnvollen Lerndienstes für junge Männer in Frage gestellt. Es wird auch fraglich, wie sinnvoll der Dienst für den pflegebedürftigen oder behinderten Menschen noch ist. Die Einsatzstellen werden bei so kurzer Dienstzeit ohnehin vor Organisationsprobleme gestellt. Hohe Fluktuationen sind vielen Menschen, wie etwa demenziell Erkrankten oder kleinen Kindern, kaum zuzumuten. Alle Bemühungen, den Zivildienst durch individuelle Lernpläne, selbstverantwortliche Projekte, Begleitung und Reflexion für die jungen Männer als attraktiven Lerndienst zu gestalten, drohen ad absurdum geführt zu werden. Verschiedene Träger haben daher bereits angekündigt, künftig auf Zivildienstleistende zu verzichten. Das bedeutet nicht den Zusammenbruch des Sozialstaates. Aber es werden Lücken gerissen. Wer hat denn in einem Altenheim mal Zeit für einen Spaziergang oder ein Gespräch? Das sind oft die Zivis.

Um die Lücken zu füllen, braucht es kluge Konzepte. Mit der Möglichkeit der freiwilligen Verlängerung hat die Koalition eine solche Lösungsoption geschaffen, so dass dem Koalitionskompromiss schließlich doch noch etwas Positives abzugewinnen ist. Die optionale Anschlusslösung ermöglicht jungen Männern nicht nur das Schließen biografischer Lücken, sondern auch eine längere Zeit des Erlernens sozialer und kommunikativer Kompetenzen. Hilfebedürftige Menschen würden mit einer größeren Kontinuität und weniger Fluktuation unterstützt werden können, was auch den Einsatzstellen zugute käme. Die Vorgabe, erst nach zwei Monaten über die Verlängerung zu entscheiden und zu reden, ist allerdings fern jeder Alltagsrealität. Wenn man vertrauensvoll mitein-ander arbeiten will, interessiert es alle Beteiligten natürlich von Anfang an, wie lange man miteinander zu tun haben wird. Soll der Zivi die Nachfragen der Kinder oder behinderten Menschen, mit denen er tagtäglich zu tun hat, ignorieren? Oder soll er ihnen erklären, dass er das erst in zwei Monaten verrät? Ein absurder Gedanke. Es ist davon auszugehen, dass Einsatzstellen und Zivildienstleistende sich in der Praxis eher früher als später darüber austauschen, wie sie die gemeinsame Zeit gestalten wollen.

Natürlich werden einige Träger bestimmte Stellen eher nicht mehr besetzen als dort jemanden für nur sechs Monate einzuarbeiten. Natürlich werden Träger versuchen, Zivis für einen längeren Einsatz zu gewinnen, wenn sie der Überzeugung sind, dass nur dann ein sinnvoller und für alle Seiten lohnender Einsatz möglich ist. Das hat jedoch nichts mit Druck zu tun, sondern mit Verantwortung gegenüber den eigenen Mitarbeitern, den zu betreuenden Kindern, Alten, Kranken und auch gegenüber den jungen Männern selbst.

* Dr. Ulrich Schneider, 1958 in Oberhausen geboren, ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Der Paritätische ist Dachverband von über 10 000 Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, unter ihnen medico international, Pro Familia und die Volkssolidarität.


Zivis als billige Arbeitskräfte

Von Werner Glenewinkel **

In Sachen Wehrpflicht gibt es keine guten Kompromisse. Die Wehrpflicht ist ein Zwangssystem, mit dem Menschen zum Kriegführen gezwungen werden. Die einzige richtige Lösung ist, diesen Zwang zu überwinden. Wenn die aktuellen Haushaltsprobleme dieses Ergebnis bringen, soll uns das recht sein.

Der Kompromiss, der von der Regierung vor Kurzem in einen Gesetzentwurf, in das »Wehrrechtsänderungsgesetz 2010« gegossen wurde, geht noch in die entgegengesetzte Richtung. Er reduziert zwar die Grundwehrdienstdauer auf sechs Monate, verlängert die Zivildienstdauer im Regelfall aber auf zwölf Monate. Kriegsdienstverweigerer müssen wieder -- wie zu Zeiten des Kalten Krieges -- Strafmonate leisten.

Im Anschluss an den Zivildienst soll es einen »freiwilligen zusätzlichen Zivildienst« geben. Da der Zivildienst selbst nicht verlängert werden kann -- Artikel 12a Grundgesetz schreibt vor: »Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen.« -- will die Regierung ein neues öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis einführen. Die Dienstleistenden werden nach sechs Monaten Zivildienst dann für weitere sechs Monate zu »Bundesbeamten auf Zeit«, deren »Beamtenverhältnis« sich wiederum nach den rechtlichen Vorschriften und der Bezahlung des Zivildienstes richtet.

95 Prozent der Zivildienststellen können bestimmen, wen sie sich als Dienstleistenden zuweisen lassen. Damit können sie auch festlegen, ob sie lieber Zivildienstpflichtige nehmen, die das Beamtenverhältnis an ihren Zivildienst anhängen und ein ganzes Jahr bleiben, oder ob sie solche einstellen, die nur den sechsmonatigen Pflichtdienst leisten wollen.

Alle Kriegsdienstverweigerer werden vom Bundesamt für den Zivildienst aufgefordert, sich innerhalb von zwei Monaten einen Zivildienstplatz zu suchen, andernfalls werden sie von Amts wegen einberufen, möglicherweise auch heimatfern zu Einrichtungen, bei denen sich niemand freiwillig melden würde. Bei der Platzsuche werden die Dienstpflichtigen praktisch nur noch auf Einrichtungen treffen, die Zwölfmonatsplätze anbieten. Wer beim Einstellungsgespräch signalisiert, nur sechs Monate bleiben zu wollen, hat keine Chance. Notgedrungen werden sich viele »freiwillig« für einen Platz mit doppelter Dienstdauer entscheiden, um das Risiko zu vermeiden, dass allein die Behörde festlegt, wann und in welcher heimatfernen Einrichtung der Zivildienst zu leisten ist.

De facto wird der Zivildienst ab 2011 doppelt so lange dauern wie der Wehrdienst. Von einer Verkürzung des Zivildienstes zu sprechen, ist Augenwischerei.

In der Zusatzzeit sollen die »Bundesbeamten auf Zeit« bezahlt werden wie Zivildienstleistende, also einen Stundenlohn von 3,75 Euro erhalten. Das ist weit unterhalb des gerade vereinbarten Mindestlohns von 7,50 Euro Ost und 8,50 Euro West für Pflegehilfstätigkeiten, der so mit staatlicher Hilfe unterlaufen wird. Rund 90 000 Männer werden zum Zivildienst einberufen. Da fast alle die Zusatzzeit werden vereinbaren müssen, geht es um deutlich mehr als um nur einzelne Arbeitsplätze.

Zivildienstleistende arbeiten nicht nur in gemeinnützigen Einrichtungen. Jeder Dritte -- also rund 30 000 -- ist bei gewinnorientierten Betrieben eingesetzt. Nicht nur kleine private Pflegedienste profitieren davon, sondern auch Krankenhauskonzerne, die Gewinne von über 100 Millionen Euro an ihre Aktionäre ausschütten können. Bei diesen Einrichtungen, aber auch bei den Wohlfahrtsverbänden, geht es um nichts anderes als um billige Arbeitskräfte. Wegen der staatlichen Subventionen liegen die Kosten pro Stunde bei einem Drittel dessen, was Arbeitgeber für eine Mindestlohnarbeitsstunde aufwenden müssen.

Mit dem »freiwilligen zusätzlichen Zivildienst« führt die Union nun im zweiten Anlauf -- in der letzten Legislaturperiode war die Einführung noch an der SPD gescheitert -- einen nach Pflichtdienststrukturen organisierten Billiglohnsektor im Sozialbereich ein. Sollte die Wehrpflicht -- wie jetzt in der Diskussion -- in absehbarer Zeit abgeschafft werden und damit auch der Zivildienst wegfallen, bliebe das »öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis« erhalten. Der Schritt zu einer allgemeinen Sozialdienstpflicht ist dann nicht mehr weit.

** Dr. Werner Glenewinkel, Jahrgang 1945, ist Jurist und tätig als Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Bielefeld. Er ist seit 2007 ehrenamtlich Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e. V. (Zentralstelle KDV).


Schlusslicht eines teuren Systems

Von Miriam Gruß ***

Seit dem Jahr 2000 tritt die FDP für die Aussetzung der Wehrpflicht und damit auch für ein Ende des Zivildienstes ein. In den Koalitionsverhandlungen standen somit zwei äußerst gegensätzliche Standpunkte zur Disposition: einerseits die FDP mit der Forderung nach Aussetzung der Wehrpflicht und andererseits die Union, die keinerlei Veränderungen am Status quo wünschte. Da weniger als die Hälfte der jungen Männer überhaupt noch Wehr- oder Zivildienst leistet, haben wir einen Kompromiss durchsetzten können, der mit einer Verkürzung der Dienstzeit auf sechs Monate diese Dienstungerechtigkeit abmildert. Die Verkürzung gelang nur mit dem Zugeständnis der FDP, dass der sogenannte freiwillig verlängerte Zivildienst eingeführt wird. Auf Druck der FDP darf der Träger dem Zivildienstleistenden aber frühestens zwei Monate nach Antritt der Stelle eine Verlängerung anbieten. Damit konnte erreicht werden, dass die Verlängerung auch weiterhin freiwillig bleibt und nicht im Vornherein nur noch Stellen, die zwölf Monate umfassen, angeboten werden.

Uns als FDP war bei der gesamten Debatte die Diskussion über die Folgen für den Zivildienst ein besonderes Anliegen. Unterstellungen wie, die FDP wolle den Zivildienst aushöhlen, um den Wehrdienst zu beseitigen, sind nicht nur angesichts des Grundgesetzes absolut abenteuerlich, sondern auch inhaltlich falsch.

Das Gegenteil ist der Fall. Die Zukunft der sozialen Dienste ist uns besonders in Bezug auf den demografischen Wandel unserer Gesellschaft viel zu wichtig, als dass diese an die Wehrpflicht gekoppelt werden sollten. Die Alterung unserer Gesellschaft bedeutet in den kommenden Jahren nicht nur ein Mehr an Pflege, sondern extrem schrumpfende Zahlen an Zivildienstleistenden aufgrund der geringeren Jahrgangsstärken. Der gesamte Sozialsektor steht daher absehbar vor einem grundlegenden Umbruch: Die Bevölkerung wird immer älter, die Nachfrage nach Pflege, Betreuung und anderen sozialen Dienstleistungen wird wachsen und die jungen Menschen werden gleichzeitig immer weniger. Wer meint, in dieser Situation wäre es möglich, den Zivildienst auszubauen, hat die Dimension des Problems nicht erkannt. Um es salopp auszudrücken: Es wird nicht funktionieren, 20-Jährige verstärkt als Pfleger einzusetzen und 70-Jährige als Dachdecker.

Die jetzige Lösung ist ein Kompromiss. Dass damit keine grundsätzlichen Probleme gelöst werden, war zumindest der FDP klar. Anscheinend setzt sich diese Erkenntnis nun punktuell auch in der Union durch, die nun ebenfalls bei der Aussetzung der Wehrpflicht zum Nachdenken bereit scheint und die Wehrpflicht zur Disposition stellt.

Dies ist sinnvoll, denn die Bundeswehr hat sich zu einer Armee im Einsatz gewandelt und benötigt sehr gut ausgebildete Spezialisten, keine Wehrdienstleistenden. In 23 der 28 NATO-Mitgliedstaaten und in 21 der 27 EU-Mitgliedstaaten wurde aufgrund solcher Überlegungen längst die Zwangsrekrutierung zur Wehrpflicht abgeschafft. Deutschland bildet leider das Schlusslicht eines veralteten, ungerechten und zudem extrem teuren Systems. Allein für die durchschnittlich 68 000 Zivildienstleistenden werden jährlich von Steuerzahlern und Trägern ca. 1,2 Mrd. Euro aufgewendet. Hierbei sind volkswirtschaftliche Kosten, wie entgangene Steuereinnahmen und Sozialbeiträge, noch nicht eingerechnet. Zu bedenken ist außerdem, dass in Deutschland ein akuter Mangel an ausbildungsfähigen Jugendlichen herrscht und gleichzeitig zehntausende unausgebildete Jugendliche in der Wehrpflicht gebunden sind. Im internationalen Wettbewerb um junge Talente ist die Wehrpflicht nicht nur Ballast, sondern schmälert die Chancen der jungen Männer im internationalen Vergleich erheblich.

Am 1. Juli wird in Schweden die Wehrpflicht abgeschafft, in Deutschland hat die FDP dafür gesorgt, dass sie an diesem Tag auf sechs Monate verkürzt wird. Ein erster Schritt.

*** Miriam Gruß, 1975 geboren, ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag und familienpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Sie ist Generalsekretärin der Liberalen in Bayern und Mitglied des Bundesvorstandes. Seit 2005 ist Miriam Gruß Bundestagsabgeordnete.

Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2010

Reif für die Wahrheit?

Von Uwe Kalbe

Die Koalition hat ein neues Problem. Minister Guttenberg entgeht den immer dichter einschlagenden Sparforderungen an die Bundeswehr durch einen Frontalangriff. Er will, was die Union bisher immer verhindern wollte -- eine Beendigung der Wehrpflicht, wenn auch vorübergehend. Die FDP, zu deren Standardbekenntnissen die Abschaffung -- die endgültige -- gehört, beeilt sich, Guttenberg zuzustimmen. Und begründet das außer mit haushälterischen auch mit sicherheitspolitischen Argumenten. Die ins Feld geführte Wehrgerechtigkeit -- nur jeder Fünfte wird noch einberufen -- ist hier eher untergeordnet. Eine Berufsarmee ist nach Meinung der FDP einfach besser geeignet, den Anforderungen an eine internationale Einsatzfähigkeit gerecht zu werden. Wenn die Bundeswehr immer weniger der Landesverteidigung und immer mehr der Intervention im Ausland dienen soll, ist eine Freiwilligenarmee effektiver. ND-Probeabo

Zum Beispiel zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen, die Horst Köhler in einem für ihn folgenschweren Satz angeführt hat. Wie für Köhlers Satz gilt auch für Guttenbergs Vorstoß: Ist das Land reif für die Wahrheit? Vor dieser Frage steht jetzt die Koalition, und der Einspruch der Bundeskanzlerin klingt nicht wie ein Veto, sondern eher nach Sorge, welchen öffentlichen Schaden ein Bekenntnis zu Guttenbergs Vorschlag wohl anrichten könnte. Eine Richtungsentscheidung.

Der Einberufungsstopp wäre womöglich schwer rückgängig zu machen. Und als nächste Stufe käme dann unausweichlich die Bestallung einer Berufsarmee, flexibel, effektiv und moralisch belastbar. Die würde einem Minister von und zu Guttenberg ohnehin viel besser stehen.

Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2010 (Kommentar)




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