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Kein Frieden für die Bundeswehr

Anmerkungen zu den Verteidungspolitischen Richtlinien

Von Lothar Liebsch*

Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) von Mai 2003 stehen in einer verhängnisvollen Kontinuität der deutschen Sicherheitspolitik nach Ende des Ost-West-Konflikts. Wenn es denn jemals einen Unterschied zwischen den Verteidigungsministern Rühe und Struck in der konzeptionellen Um-strukturierung der Bundeswehr weg von einer Verteidigungsarmee hin zu einer weltweit einsetzbaren Interventionsarmee gegeben haben sollte, in den neuen VPR ist davon nichts zu erkennen. Die Richtlinien machen schmerzlich deutlich, dass der Anfang der neunziger Jahre von konservativen Politikern eingeleitete Funktionswandel der Streitkräfte unter rotgrüner Regierungsverantwortung konsequent fortgeführt wird.

Folgerichtig heißt es in dem Dokument: Eine Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit und auf absehbare Zeit nicht. Das Einsatzspektrum der Bundeswehr hat sich grundlegend gewandelt. Was der interessierten Öffentlichkeit längst bekannt ist, wird endlich auch von den Sicherheitsexperten im Verteidigungsministerium eingeräumt: Die Bundeswehr hat keinen Verteidigungsauftrag mehr! Man könnte diese Feststellung als Binsenweisheit abtun und zur Tagesordnung übergehen, wenn, ja wenn nicht die grundgesetzliche Legitimation der Streitkräfte dadurch in Frage gestellt würde. Heißt es doch in Artikel 87a GG: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf... Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt".

Aus diesem Grund berufen sich die neuen VPR auch nicht mehr auf das Grundgesetz sondern auf die Entscheidungen des Bundes Verfassungsgerichts und des Deutschen Bundestages. Nur so lassen sich die neuen Aufgaben für die Bundeswehr rechtfertigen, die da lauten: Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung - einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus - sind für deutsche Streitkräfte auf absehbare Zeit die wahrscheinlicheren Aufgaben und beanspruchen die Bundeswehr in besonderem Maße.

Leider steht in den neuen VPR nicht, wie man sich die Durchführung dieser Aufgaben vorstellt. Dann hätte der Verteidigungsminister nämlich sagen müssen, dass internationale Konfliktverhütung mit militärischen Mitteln nichts anderes bedeutet als Präventiveinsätze gegen den Willen der Betroffenen, dann hätte er sagen müssen, dass Krisenbewältigung nichts anderes ist als Kampfeinsatz der Bundeswehr "out-of-area".

Auch das Einsatzszenario im Kampf gegen den internationalen Terrorismus bleibt aus guten Gründen ungeklärt. Wenn es richtig ist, dass Terrorismus eine bestimmte Geisteshaltung in den Köpfen der Menschen ist, wird man dieser Gefahr wohl kaum mit militärischen Mitteln begegnen können. Gerade das Beispiel Israel lehrt uns, dass militärische Gewalt sich immer wieder selbst neue Terroristen schafft, bis schließlich der Einsatz von Militär selbst zum Staatsterrorismus verkommt.

Insgesamt betrachtet bieten die neuen VPR substanziell wenig Neues. Sie schreiben statt dessen ohnehin schon bekannte oder von den Kritikern vermutete Positionen fest und ebnen damit der Bundeswehr den Weg zu ihren neuen Aufgaben. Das ließt sich dann so: "Künftige Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihrer Erfordernisse weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geografisch eingrenzen. Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art eines Einsatzes. Die Notwendigkeit für eine Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen Operationen kann sich weltweit und mit geringem zeitlichen Vorlauf ergeben und das gesamte Einsatzspektrum bis hin zu Operationen mit hoher Intensität umfassen".

Hier steht, was wir in der Friedensbewegung schon seit Jahren gewusst haben: Die Bundeswehr wird zu einem Instrument deutscher Außenpolitik mit der Fähigkeit, jederzeit weltweit intervenieren zu können. Die Bedenken der Kritiker, die von der politischen und militärischen Führung jahrelang bestritten worden sind, werden durch die neuen VPR in allen Punkten bestätigt. Nur Narren hätten anderes erwarten können.

Das eigentlich Interessante an den neuen VPR besteht aber in dem, was nichtbeschrieben wird. So fehlen wichtige Begriffe wie "Präventivkriegskonzept" oder "Kampfeinsatz", wie sie an anderer Stelle durchaus Verwendung finden. Nach wie vor fällt es der politischen und militärischen Führung schwer, der Öffentlichkeit einzugestehen, dass sich die Bundeswehr an Kampfeinsätzen beteiligt und dass zukünftig vermehrt Kriegseinsätze zur Wahrung deutscher Interessen der Regelfall für die Soldaten sein werden. Die dabei zwangsweise auftretenden Rechts- und Statusfragen bleiben unerwähnt. Gerade für deutsche Soldaten, denen nach dem Grundgesetz bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges (Artikel 26 GG) ausdrücklich untersagt ist, bleibt unklar, unter welchen Umständen sie sich an Präventivmaßnahmen beteiligen dürfen. Manches ließe sich durch die Festlegung auf eine eindeutige Mandatierung der Einsätze klären, aber auch hier herrscht Schweigen.

Statt dessen wird abschließend gefordert, Maßnahmen zum Schutz vor Auswirkungen eines Informationskriegs zu entwickeln. Es ist kaum anzunehmen, dass Minister Struck diese Forderung in Verbindung mit dem angloamerikanischen Medienkrieg gegen den Irak erhoben hat. Welche Aufgaben die Bundeswehr in einem zukünftigen Informationskrieg übernehmen soll bleibt derweil der Phantasie des Einzelnen überlassen.

So sind denn die neuen VPR ein Papier, das nichts konkret regelt, aber alle Optionen ausdrücklich offen lässt. Jede Struktur- und jede Rüstungsmaßnahme kann unter Berufung auf die VPR begründet werden. Ein wahres Geschenk für die sicherheitspolitischen Vordenker und für die strategischen Planer. Für die kritische Öffentlichkeit und für die Friedensbewegung ist höchste Wachsamkeit geboten!

* Lothar Liebsch, Oberstleutnant a.D., Vorstandsmitglied des Arbeitskreises kritischer Soldaten "Darmstädter Signal".


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 6, September 2003

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