"Grenzenlose Militärmacht Deutschland und Nebenkriegsschauplätze"
Eine Kritik von Claudia Haydt und Tobias Pflüger (IMI Tübingen)
Mit den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien liegt nun eine
verbindliche Grundlage für den grenzenlosen Einsatz der Bundeswehr gegen
alle erdenklichen Ziele in jeder erdenklichen Dauer und in jeder
möglichen Intensität vor. Einzige Einschränkung: außer
"Rettungsoperationen", sollen alle anderen Einsätze zusammen mit
Verbündeten durchgeführt werden.
1. Kein offenes Präventivkriegskonzept mehr - ein Erfolg der
Friedensbewegung?!
"Die Friedensbewegung hat gesiegt", so die militärnahe Zeitung "Die
Welt" am 20.05.2003, einen Tag vor der Vorlage der neuen
"Verteidigungspolitischen Richtlinien" (VPR). Weiter hieß es: "denn auch
das Militär hört jetzt auf ihr Kommando". Der Artikel bezog sich aber
nicht auf die neuen VPR, sondern auf die neue Form von Kriegen, bei
denen genau darauf geachtet werde, so wenig wie möglich Tote zu
verursachen. Trotzdem wäre auch diese Überschrift - zwar vermessen -
aber irgendwie passend gewesen für die Vorstellungen der neuen
"Verteidigungspolitischen Richtlinien" (VPR) von Peter Struck, zumindest
was den zentralen Punkt des Präventivkriegskonzeptes betrifft. Dieser
Punkt wurde nämlich aus der Schlussfassung der neuen
"Verteidigungspolitischen Richtlinien" (VPR) wieder gestrichen. "Die
Welt" schreibt dazu: "Anders als in einem früheren Entwurf wird in den
Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) (...) die Möglichkeit
präventiver Militäraktionen nicht mehr betont. In dem 22-seitigen Papier
(...) fehlt ein Satz aus dem Entwurf, in dem es hieß, "vor allem"
gegenüber nichtstaatlichen Akteuren und Terroristen "können zur
politischen Krisenvorsorge komplementäre militärische Maßnahmen zur
Abwehr der Bedrohung frühzeitig notwendig werden". Jetzt wird deutlich
zurückhaltender formuliert: "Zur Abwehr von Bedrohungen sind zudem vor
allem gegenüber nicht-staatlichen Akteuren entsprechende zivile und
militärische Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln." Diese Formulierung
in den neuen VPR lässt nun allen Interpretationen Tür und Tor offen.
Eine explizite Festschreibung des Präventivkriegskonzeptes ist dies
allerdings nicht. Soweit so gut. Insofern handelt es sich tatsächlich um
einen Sieg der Friedensbewegung, denn insbesondere aus ihren Reihen war
das mögliche Präventivkriegskonzept explizit benannt und klar kritisiert
worden.
2. Präventivkriegskonzept durch eine der Hintertüren?
Nun kann das Präventivkriegskonzept in den Text hineininterpretiert
werden. Die Gefahr ist also nicht vollständig gebannt. Als Kernbereiche
von Bundeswehreinsätzen werden in den VPR folgende zwei Punkte
definiert: "Konfliktverhütung und Krisenbewältigung"(10) sowie
"Unterstützung von Bündnispartnern" (10). Wobei diese beiden Optionen
alternativ genannt sind und es durchaus nahe liegt, zu vermuten, dass
"multinationale Sicherheitsvorsorge"(vgl. 11) im Rahmen von NATO und EU
nicht in jedem Fall das Ziel haben muss, schon bestehende Krisen zu
bekämpfen (wie auch immer dies militärisch funktionieren soll), sondern
bereits einzugreifen, bevor ein konkrete Bedrohung entsteht. Außerdem
wird das Konzept der "präventiven Kriegsführung" sowohl im Rahmen der
NATO als auch der EU intensiv diskutiert (vgl. hierzu z.B. Pflüger,
Tobias, IMI-Analyse 2002/86b: "Präventivkriege jetzt auch deutsche
Politik?" http://www.imi-online.de/2002.php3?id=290)
3. Grenzenloser Auftrag
Deutschland ist durch konventionelle Streitkräfte nicht mehr gefährdet
und auch "ein existenzbedrohender Angriff auf das Bündnis als ganzes
(...) ist unwahrscheinlich." (81).
Wenn es in Deutschland nichts zu verteidigen gibt, dann gilt zukünftig
das Motto: "Verteidigung geographisch nicht mehr eingrenzen."(5.) Somit
wird zum Programm erhoben, was Struck bereits früher erklärte: die
Verteidigung Deutschlands müsse auch am Hindukusch erfolgen. "Out of
Area" ist selbstverständlich geworden, immer wieder wird betont, dass
der Einsatzradius "über das Bündnisgebiet hinaus" (9; 72 u.ö.) geht. Der
Rahmen für die "VN, NATO und EU" (42) sein, "Grundgesetz und Völkerrecht
bilden die Grundlage"(37). Die Interpretation von Angriffskriegen als
Verteidigung um sie mit dem Grundgesetz konform zu machen ist schon
heute mehr als gewagt, und das Führen von Angriffskriegen im Rahmen von
NATO- oder bald auch EU-Strukturen ohne Zustimmung der VN ist sicher
nicht völkerrechtskonform. Aber zu viele Skrupel ob hier wenigstens die
selbstfestgelegten "Rahmen" und "Grundlagen" zueinander passen, stören
nur die "Handlungsfähigkeit".
4. Selbstbewusste Interessenspolitik oder Wirtschaftsinteressen
Deutschland ist politisch und militärisch zum globalen Akteur geworden
und tritt als solches sehr selbstbewusst auf. Auch die VPL sprechen hier
ein deutliche Sprache. Deutschland "fällt eine herausragende Rolle und
Verantwortung für den künftigen Kurs der NATO zu"(48). Auch "bei den
Beschlüssen der EU zur Ausgestaltung der ESVP" hat Deutschland "eine
Schlüsselrolle gespielt"(50). Interessant ist, dass im Gegensatz zu den
letzten VPR diese deutschen Wirtschaftsinteressen nur an einer Stelle
explizit und ausführlicher benannt werden. "Aufgrund ihres hohen
Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen besonderen Abhängigkeit
von empfindlichen Transportwegen" ist die deutsche Wirtschaft sehr
"verwundbar"(27.) Dass es auch weitere sehr konkrete Ziele gibt, die mit
Militär geschützt werden sollen, wie der freie Zugang zu Ressourcen, das
findet sich in diesen Richtlinien nur implizit. Rühe hatte damit bei der
letzten VPR keine Probleme die Dinge beim Namen zu nennen, aber das
klingt natürlich nicht so schön, wie der Kampf, für die
"Errungenschaften moderner Zivilisation wie Freiheit und Menschenrechte,
Offenheit, Toleranz und Vielfalt." Dennoch, die Richtung ist klar: "Um
seine Interessen und seinen internationalen Einfluss zu wahren (...)
stellt Deutschland im angemessenen Umfang Streitkräfte bereit"(72).
5. Öffentliche Diskussion um Nebenkriegsschauplätze
Die öffentlich Diskussion dreht sich einmal mehr nur um zwei
Nebenkriegsschauplätze, um die Schließung von Standorten und um die
Beibehaltung der Wehrpflicht. Damit verändern sich wesentliche Parameter
der deutschen Außenpolitik zwar ganz offen aber trotzdem ohne öffentlich
Diskussion. Genauso wenig öffentliche Beachtung findet die
Weichenstellung in Richtung Einsatz der Bundeswehr im Inneren wenig
Beachtung. Obwohl "zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der
Aufgabenwahrnehmung im Inland" und ihr "Zusammenwirken mit den
Innenbehörden des Bundes und der Länder(75; vgl. 80) Formulierungen
sind, die sehr nachdenklich machen sollten. Hinter dem Wehklagen über
die Auflösung von sieben kleineren Standorten verschwindet auch die viel
grundsätzlichere Problematik, dass so der Sozialabbau und die
Budgetkürzungen in zivilen Bereichen noch weiter vorangetrieben werden.
Denn die "Verbesserung militärischer Kernfähigkeiten"(89), der
Bereitstellung von Rüstungsgütern für "strategischen Verlegung" und
"weltweite Aufklärung"(92) und all die Investitionen für "rasche
Verfügbarkeit" und "Durchhaltefähigkeit"(90) sind nicht umsonst zu haben.
6. Handlungsfähigkeit = militärische Handlungsfähigkeit?
Ausdrücklich begrüßt wird in den Richtlinien, die "Anpassung der NATO an
das veränderte sicherheitspolitische Umfeld"(32), was im Klartext die
Umwandlung der NATO in ein Interventionsbündnis meint. Nur so bliebe dem
Bündnis seine politisch wichtige Rolle erhalten.
"Handlungsfähigkeit"(33; vgl. 50) ist auch das Schlagwort unter dem die
Herausbildung der Militärmacht EU. Diese Herausbildung einer
Militärmacht EU hat zentralen Charakter in den neuen
Verteidigungspolitischen Richtlinien. Die Bereitschaft zum Einsatz
militärischer Mittel ist für Struck offensichtlich "Voraussetzung für
die Glaubwürdigkeit"(37) von Politik.
7. "Koalition gegen den Terror" oder die Bedrohungsanalyse
Die Strucksche Bedrohungsanalyse stellt fest, Deutschland wird nicht
mehr von Panzerarmeen aus dem Osten bedroht, sondern von internationalem
Terrorismus religiöser Fanatiker und von einer gefährlichen
Proliferation an Massenvernichtungsmitteln. Eine solche "Analyse" geht
offensichtlich davon aus Terrorismus ließe sich militärisch bekämpfen wo
doch gerade die Anschläge des 11. September 2001 gezeigt haben, dass
Skrupellosigkeit und einfachste Hilfsmittel völlig ausreichen um
fürchterlichen Schaden anzurichten. Glaubt Struck an die Bekämpfbarkeit
von Terrorismus mit militärischen Mitteln, der "jederzeit, an jedem Ort
der Welt erfolgen und sich gegen jeden richten" kann? Es charakterisiert
doch gerade das Wesen asymmetrischer Bedrohungen, dass es für die
schwächere Seite eine rationale Abwägung ihrer Möglichkeiten darstellt
sich direkter Konfrontation weitgehend zu entziehen und die
ungeschützten Bereiche des "Gegners" anzugreifen.
Verhinderung von Proliferation ist ebenfalls kaum militärisch zu
erreichen, im Gegenteil, die Art der Kriegsführung westlicher Staaten
(auch wer keine Atomwaffen hat, kann künftig mit "Mini-Nukes"
angegriffen werden) und deren Zielauswahl (Irak, Afghanistan,
Jugoslawien die alle über keine Massenvernichtungswaffen verfügten)
lässt es für jeden Staat, der nicht "befreit" werden will, als sehr
rationale Vorgehensweise erscheinen, sich entweder mit atomaren Waffen
oder wenigsten mit biologischen oder chemischen Waffen auszurüsten. Die
westliche offensive Militärtaktik birgt so die Gefahr einer weiteren
Aufrüstungsspirale in sich und schafft mehr Probleme, als sie je wird
"lösen" können. Vielleicht steckt doch ein gewisses Maß an Einsicht in
die Eskalationsgefahr, der eigenen militärischen Strategien hinter der
Formulierung, dass die "Grenzen zwischen den unterschiedlichen
Einsatzarten ...fließend (sind)"(58). Dies gilt offensichtlich auch
trotz oder gerade wegen der eigenen militärischen "Intervention", denn
"eine rasche Eskalation von Konflikten, wodurch ein friedenserhaltender
Einsatz in eine höhere Intensität umfassen."(58).
Struck lobt in seinem Papier "die breite internationale Koalition gegen
den Terror" und sieht sie als "Grundlage für eine effektive Bekämpfung
dieser Bedrohung"(28). Nichts könnte entlarvender sein, sowohl für die
Definition dessen, was als Terror zu verstehen ist, als auch dafür wie
wenig "Terrorbekämpfung" mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, als ein
Blick auf die Verbündeten in diesem Kampf. Offensichtlich gibt es hier
keinerlei Problembewusstsein. Im Bezug auf Russland heißt es explizit:
"die gemeinsamen Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen
Terrorismus bilden die Grundlage (!) für eine noch engere langfristige
Kooperation..."(34).
Die Sicherheitspolitische Gefährdung ist auch die Folge deutscher und
europäischer (Wirtschafts)-Politik. Doch das Papier geht durchgängig
davon aus, dass Deutschland und seine Verbündeten lediglich Opfer von
Bedrohungen sind, die völlig ohne eigenes Zutun entstanden sind. Sätze
wie "Auch die Globalisierung macht ein voll (militärisch)
handlungsfähiges Europa erforderlich." sind entlarvend, sie suggerieren
die EU und die EU-Staaten (das was in hiesigem Sprachgebrauch allgemein
unter "Europa" verstanden wird) wären im Rahmen der Globalisierung
lediglich ein Objekt der Entwicklungen.
8. Ausblick oder Johannes Rau und die verteidigungspolitischen Richtlinien
Alle unsere bisherigen Warnungen waren sehr berechtigt (vgl.
IMI-Sonderseite zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien:
http://www.imi-online.de/2003.php3?id=577) Offensichtlich war das
geplante Präventivkriegskonzept für die Bundeswehr noch nicht in der
Gesellschaft durchsetzbar. Die Betonung liegt auf "noch". Die
Bundesregierung betreibt weiter ihre Doppelstrategie: Einerseits sich
als "Friedensmacht" zu gerieren und andererseits zeitgleich die
Militärmacht Europäische Union auszubauen und die Bundeswehr zur
weltweiten Interventions- und Einsatzarmee zu machen.
Der zeitliche Zusammenfall zweier Ereignisse mag Zufall gewesen sein, dennoch passen sie sehr gut zusammen: Die außenpolitische Grundsatzrede von
Bundespräsident Johannes Rau und die Vorlage der
verteidigungspolitischen Richtlinien. Vieles, was Johannes Rau gesagt
hat, ist der Versuch, in einer Art aufgesetztem "Konsens" den Inhalt der
expansiven verteidigungspolitischen Richtlinien gesellschaftlich
abzusichern. Jedoch hat Johannes Rau an fünf Punkten Bedenkenswertes
gesagt:
A. "Die neue Sicherheitspolitik und die völlig veränderte Rolle
der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren im Bewusstsein unseres
Volkes nicht annähernd so verarbeitet worden, wie das notwendig wäre."
Nur an wem liegt das? Die jeweiligen Regierungen wollten keine offene
Debatte zur deutschen Militär- und Kriegspolitik.
B. "Ich vermisse eine
breit geführte gesellschaftliche Debatte über die Frage, wie die
Bundeswehr der Zukunft aussehen soll." Richtig. Die Debatte gibt es
nicht, aber die politischen Festlegungen werden von der rot-grünen
Regierung in Windeseile getroffen.
C. "Nirgendwo ist eine Regierung so
sehr auf Unterstützung und Einverständnis der Menschen angewiesen wie
dann, wenn die Bundeswehr als Instrument der Außen- und
Sicherheitspolitik eingesetzt wird." Eben. Darin besteht auch eine
Chance für uns als Antikriegs- und Friedensbewegung.
D. "Wie immer auch
die Antwort lauten mag, zu der wir kommen werden, sie muss am Ende einer
gesellschaftlichen Debatte stehen. Wir brauchen einen breiten Konsens."
Warum dann die Festlegungen z.B. mit den verteidigungspolitischen
Richtlinien? Raus Antwort:
E. "Wir brauchen einen breiten Konsens." Aha, die Sorge ist offensichtlich, dass die neue deutsche Militär- und Kriegspolitik von vielen in der Bevölkerung nicht mitgetragen wird. Hier ist es wieder, das auch empirisch belegbare Phänomen: Die Veränderung der Bundeswehr und deutsche Kriegseinsätze werden von vielen in der Bevölkerung nicht aktiv unterstützt, aber eben hingenommen. "Manchmal werden bahnbrechende Weichenstellungen übersehen: Mit seinem Satz, die Freiheit könne auch am Hindukusch verteidigt werden, hätte
Verteidigungsminister Struck hier zu Lande eigentlich einen
pazifistischen Aufschrei erzeugen müssen. Aber auch als
Bundeswehr-Generalinspekteur Schneiderhan Präventivschläge mit deutscher
Beteiligung ins Spiel brachte, blieb es ruhig," so die militärnahe
Zeitung "Die Welt" am 02.02.2003. Die Zeit ist überfällig, für
politische Aufschreie gegen diese fortgesetzte Militarisierung der Politik!
Die Analyse von Claudia Haydt und Tobias Pflüger befindet sich auf der Homepage der IMI (Informationsstelle Militarisierung): www.imi-online.de
Siehe auch:
Im Wortlaut: Die Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003
Erlassen vom Bundesminister für Verteidigung am 21. Mai 2003 (21. Mai 2003)
Friedensbewegung will öffentliche Diskussion über die Verteidigungspolitischen Richtlinien erzwingen
Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag - und eine Presseerklärung der DFG-VK (21. Mai 2003)
Zur Bundeswehr-Seite
Zur Außenpolitik-Seite
Zurück zur Homepage