Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Neuausrichtung" der Bundeswehr

Von der Verteidigungsarmee zur internationalen Einsatztruppe

Von Peter Strutynski *

Als der neue Verteidigungsminister Thomas de Maizière im vergangenen Herbst sein Reformmodell für die Bundeswehr der Zukunft vorstellte, blieben Überraschungen aus. Das Konzept führte im Wesentlichen fort, was unter seinen Amtsvorgehern zu Guttenberg, Jung und Struck in verschiedenen Anläufen bereits auf den Weg gebracht worden war. Das Konzept hieß und heißt noch heute: Transformation. Die Medien und die Kommunalpolitiker/innen interessierte an dem Konzept vor allem die Frage, welche Bundeswehrstandorte verkleinert oder gar ganz geschlossen werden. Hier und da ging die Angst um, Gemeinden oder Regionen könnten bei einem Abzug der Soldaten wirtschaftliche Nachteile erleiden (Arbeitsplätze für Zivilbeschäftigte, Konsumnachfrage, Steuereinnahmen). Dabei haben – nicht zuletzt in Hessen – zahlreiche Studien gezeigt, dass bei einer vernünftigen Standortkonversion (Umwandlung von militärischen Einrichtungen und Liegenschaften in zivil nutzbare Flächen und Gebäude) die Kommunen durchaus zu den Gewinnern zählen können.

Was in der Öffentlichkeit demgegenüber noch viel zu wenig Beachtung findet, ist die Frage: Wohin und zu welchem Ende soll die Bundeswehr transformiert werden? In quantitativer Hinsicht ist die Geschichte der "Transformation" schnell erzählt: Zunächst war – noch unter zu Guttenberg - die Wehrpflicht ausgesetzt worden – nach außen ein überraschender Schritt, der aber an Brisanz verliert, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass auch schon vorher die Bundeswehr faktisch eine Freiwilligenarmee war; die allgemeine Wehrpflicht diente lediglich der Rekrutierung von länger Dienenden und Berufssoldaten. Der Umfang der Bundeswehr wurde auf höchstens 185.000 Soldaten festgelegt. Die Zahl der freiwillig Wehrdienst Leistenden soll zwischen 5.000 und 15.000 betragen. Die bisherige Entwicklung ist aus Sicht des Militärs ernüchternd, sodass fieberhaft an Konzepten zur "Attraktivitätssteigerung" der Bundeswehr und an Werbestrategien gearbeitet wird. In der "Grobstruktur" der Bundeswehr ist zudem eine spürbare Verkleinerung des Ministeriums vorgesehen.

Zur "quantitativen" Betrachtung gehört auch die Ankündigung, die Zahl der in längeren Auslandseinsätzen verwendbaren Soldaten von derzeit 7.000 auf 10.000 zu erhöhen. Eine auf den ersten Blick wenig spektakuläre Erhöhung. Bedenkt man indessen das Ziel dieser Maßnahme, so gewinnt sie an politischer Bedeutung: Deutschland will damit mehr Auslandseinsätze in aller Welt gleichzeitig realisieren können.

Auf dem Weg zur Einsatzarmee

Damit verlassen wir die rein quantitative Beschreibung der Umstrukturierung und wenden uns der wichtigeren Frage nach dem politischen Ziel der "Neuausrichtung" der Bundeswehr zu. Verteidigungsminister Thomas de Maizière hatte im Vorfeld seiner Standortentscheidung vier Kriterien genannt, die er anzulegen gedenke:
  • die "Funktionalität" der Standorte,
  • eine "Abwägung der Kosten",
  • die "Attraktivität" eines Standorts und
  • das Bestreben, "in der Fläche" präsent zu bleiben.
Sieht man das vorgelegte Konzept an, so spielt nur noch das erste Kriterium eine Rolle: Es geht ausschließlich um die "Funktionalität" der Standorte, d.h. inwieweit tragen sie zur Steigerung der Schlagkraft der Bundeswehr bei.

So gesehen ist de Maizières Stationierungskonzept tatsächlich nur eine Fortführung des seit langem betriebenen Umbauplans der Bundeswehr von einer Verteidigungs- in eine Einsatzarmee. Künftig wird "vom Einsatz her gedacht". De Maizière will die Bundeswehr für mehr Auslandseinsätze rüsten. Räumlich konzentriert und gestärkt werden infanteristische Kräfte für den Kampfeinsatz im Ausland. Es wird eine "Division Schnelle Kräfte" gebildet. Ausbildungsziel ist deren "Befähigung zum Kampf".

Eingesetzt wird die Bundeswehr, wenn "nationale Interessen" das gebieten. Dabei spielt der "Katastrophenschutz", den etwa die Ministerpräsidenten Brandenburgs und Sachsen-Anhalts ins Feld führten, um bestimmte Standorte zu erhalten, ebenso wenig eine Rolle wie die Überlegung, strukturschwache Regionen zu "schonen", wie es vom baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann gefordert wurde. Bestimmt werden die "nationalen Interessen" vor allem von der Wirtschaft. Laut den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) vom Mai 2011 gehört zu den deutschen Sicherheitsinteressen, "einen freien und ungehinderten Welthandel sowie den freien Zugang zur Hohen See und zu natürlichen Ressourcen zu ermöglichen." Entsprechend ausgebaut und verbessert werden die Transportkapazitäten und die "Verlegefähigkeit" der Truppen sowie die Bewaffnung und das Training zur effektiveren Niederschlagung von Aufständen oder zu deren Unterstützung.

Wem dies zu dick aufgetragen oder zu weitgehend interpretiert erscheint, sollte selbst einen Blick in die VPR 2011 tun. Dort heißt es an zentraler Stelle:
"In jedem Einzelfall ist eine klare Antwort auf die Frage notwendig, inwieweit die Interessen Deutschlands und die damit verbundene Wahrnehmung internationaler Verantwortung den Einsatz erfordern und rechtfertigen und welche Folgen ein Nicht-Einsatz hat." Und weiter: "Deutschland ist bereit, als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität zur Wahrung seiner Sicherheit das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente einzusetzen. Dies beinhaltet auch den Einsatz von Streitkräften."

Wenn wir, wie das Zitat weiter oben nahe legt, die nationalen Interessen mit den Interessen der Wirtschaft am freien Zugang zu "natürlichen Ressourcen" gleichsetzen, dann dient die Bundeswehr nicht mehr der Verteidigung und der Sicherheit des Landes, sondern den Interessen rohstoffabhängiger und –hungriger Konzerne.

Doch auch das ist nichts wirklich Neues. Die deutsche Außenpolitik betreibt seit zwei Jahrzehnten, also seit der historischen Zäsur 1989/90, eine Relegitimierung militärischen Denkens in der Politik. Die Kräfte, die nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts 1991 sich eine Friedensdividende erhofft hatten, wurden recht bald auf den Boden der NATO-Realität zurückgebracht. Die dachte nicht daran, es dem Osten gleichzutun und sich ebenfalls aus der Geschichte zu verabschieden, sondern bemühte sich, unter Verwendung eines "erweiterten Sicherheitsbegriffs" neue Bedrohungsszenarien an die Wand zu malen und damit die Fortexistenz des westlichen Militärbündnisses zu rechtfertigen. Grundlage hierfür war die Erklärung des NATO-Gipfels von Rom 1991, worin als neue Risiken und "Herausforderungen" der internationale Terrorismus (zehn Jahre vor 9/11!), die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Unterbrechung des freien Welthandels und des Zugangs zu wichtigen Rohstoffen sowie regionale Instabilitäten ausgemacht wurden. Die Bundesregierung beeilte sich, diese Gedanken in eine Neuauflage ihrer „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ vom November 1992 aufzunehmen. Die Gefahr eines großangelegten Angriffs mit Panzerarmeen aus dem Osten war danach endgültig gebannt, Bonn (später Berlin) nur noch von "Freunden umzingelt" (Helmut Kohl) und die klassische Verteidigung, zu dessen Zweck die Bundeswehr gegründet worden war, stand nicht mehr auf der Tagesordnung. Das neue "Verteidigungsdispositiv" lehnte sich eng an die Vorgaben der NATO an und legte die Umwandlung der Bundeswehr in eine Eingriffsarmee nahe.

36 internationale "Missionen"

Über alle folgenden Bundesregierungen und Verteidigungsminister hinweg wurde an der Transformation der Bundeswehr von einer Verteidigungs- in eine Interventionsstreitkraft gebastelt. Die programmatischen Grundlagen hierfür lieferten die beiden Weißbücher 1994 und 2006 sowie die Neuauflage der VPR 2003 (noch unter Verteidigungsminister Struck). Juristische Schützenhilfe erhielt die Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht, das in einem denkwürdigen Urteil vom Juli 1994 Auslandseinsätze der Bundeswehr für unbedenklich erklärte, sofern die Bundesrepublik nicht allein, sondern im Rahmen eines Bündnisses „kollektiver Sicherheit“ handle. Da das BVerfG unter solch einem Bündnis nicht nur Organisationen wie die UNO oder die OSZE begriff, sondern auch die NATO oder die EU dazu zählte, war – juristisch jedenfalls – deutschen Einsätzen in aller Welt kein Hindernis mehr in den Weg gelegt. Vom Parlamentsvorbehalt, den das BVerfG in seinem Urteil der Politik verordnete, wollen wir hier nicht weiter sprechen, da er in der bisherigen Praxis keinerlei Schranke für Bundeswehreinsätze darstellte.

Die Empirie zeigt, dass die Bundeswehr in den vergangenen 20 Jahren in 36 internationalen „Missionen“ aktiv war und zum Teil noch ist, wobei die Einsätze von veritablen Kriegseinsätzen wie dem Kosovo-Krieg 1999 und dem Afghanistan-Krieg seit 2001 bis zu mehr oder weniger „robusten“ Blauhelmeinsätzen à la Libanon (UNIFIL) oder militärisch bewehrten Protektoratsaufgaben wie in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo reichen. Nun mag sich jede/r selbst ein Urteil darüber bilden,
  • ob sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Neuausrichtung der Bundeswehr ein Instrument zur globalen Friedenssicherung geschaffen hat, oder ob sie mit ihrer Hilfe an den kommenden imperialen Konflikten um Energie- und andere Ressourcen aktiv teilnehmen will und
  • ob Deutschlands Außenpolitik mit dem Friedensgebot des Grundgesetzes (das nie geändert, vielmehr mit dem 2+4-Vertrag 1990 ausdrücklich bestätigt und noch verstärkt wurde) und der Beschränkung der Bundeswehr auf reine Landes- und Bündnisverteidigung (Art. 87a GG) vereinbar ist.
In diesem Licht gerät die Transformation der Bundeswehr in eine „Armee im Einsatz“ auf eine schiefe Bahn, die sich immer weiter vom Grundgesetz und den der Verfassung vorgehenden Prinzipien des Völkerrechts (Art. 25 GG) entfernt. Muss man dem nicht Einhalt gebieten?

Literaturauswahl und Dokumente (Links):
  • Römische Erklärung der NATO 1991
  • VPR 1992
  • Weißbuch 1994: www.bmvg.de
  • Weißbuch 2006: www.bmvg.de
  • VPR 2003
  • VPR 2011
  • Werner Ruf, Lena Jöst, Peter Strutynski, Nadine Zollet: Militärinterventionen: verheerend und völkerrechtswidrig. Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung. Mit einem Kommentar von Paul Schäfer. Karl Dietz Verlag: Berlin 2009
  • Maybritt Brehm, Christian Koch, Werner Ruf, Peter Strutynski: 20 Jahre Auslandseinsätze der Bundeswehr. Bilanz, Kritik, Perspektiven. Karl Dietz Verlag: Berlin 2012 (im Erscheinen)

Peter Strutynski, Dr. phil, Politikwissenschaftler, AG Friedensforschung Kassel; www.ag-friedensforschung.de

* Dieser Beitrag erschien in der HLZ (Zeitschrift der GEW Hessen), 3/2012; S. 26-27


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