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"Wir verstehen dies als ausdrückliche rechtliche Würdigung von situativer (=partieller) Kriegsdienstverweigerung"

Stellungnahme der Ev. Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) zum Pfaff-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Mitteilung für die Presse

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 (BVerwG 2 WD 12.04) wurde am 1. September 2005 veröffentlicht. Die EAK - Mitgliederversammlung hat sich am 27. September 2005 in Mainz in Anwesenheit des freigesprochenen Soldaten mit Anlass und Inhalt des Urteils befasst. In eingehender Beratung hat der EAK-Bundesvorstand den Wortlaut ausgewertet. Er stellt fest, dass dessen Inhalt auch für die kirchliche lnformation und Beratung von Wehrpflichtigen wie von Soldatinnen und Soldaten wichtig ist. Der EAK - Bundesvorstand begrüßt dieses Urteil als einen lange überfälligen rechtlichen Fortschritt und nimmt dazu wie folgt Stellung:

Gewissensfreiheit hat Vorrang vor soldatischer Pflicht zum Gehorsam -
Mitdenken und Abwägen von Handlungsfolgen v o r jeder Ausführung von Befehlen!


Mit dem o.a. Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) am 2l. Juni 2005 einen Soldaten der Bundeswehr freigesprochen, der im März 2003 aus Gewissensgründen seine mögliche Unterstützung und Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak verweigerte. Er war dafür zunächst vom Truppendienstgericht bestraft worden.

Das höchstrichterliche, unanfechtbare Urteil stellt nun klar, dass eine Soldatin oder ein Soldat (nach § 1 I Abs. I S. 1 und 2 Soldatengesetz) einerseits zwar zur "gewissenhaften" Ausführung von Befehlen verpflichtet ist, andererseits aber zugleich ein "mitdenkender Gehorsam" gefordert wird, der die Folgen der Befehlsausführung bedenkt. Gehorsam muss insbesondere die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen "Grenzmarken" des eigenen Gewissens reflektieren. Ein bedingungsloser Gehorsam wird - unter Hinweis auf den "Massenschlaf des Gewissens" in der Wehrmacht - vom BVerwG strikt abgelehnt.

Bezogen auf die Situation, in der der Soldat seinen Befehl rechtmäßig verweigert hat, stellt das BVerwG fest, dass der am 20. März 2003 von den USA und Großbritannien begonnene Krieg gegen den Irak das Gewalverbot der UN-Charta und das sonstige geltende Völkerrecht verletzt. Zudem stellt die Zulassung der Entsendung von Truppen, des Transports von Waffen und militärischen Versorgungsgütern von deutschem Boden aus nicht nur eine Unterlassung deutscher Kontrollbefugnis nach dem NATO-Truppenstatut und dessen Zusatzabkommen dar, sondern diese Unterlassung kollidiert auch mit den grundgesetzlichen Bestimmungen nach Art.25, 26 GG und dem sog. Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990: Danach dürfen vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland keine völkerrechtswidrigen Kriegshandlungen erfolgen oder unterstützt werden und die Bundesrepublik hat sich völkerrechtlich verpflichtet, dafür zu sorgen, "dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird".

Nach dieser zusammenfassenden Wiedergabe kommen wir zu folgender Bewertung:
  1. Das Urteil schützt die Gewissensfreiheit nach Art. 4 Absatz 1 Grundgesetz und setzt damit deutliche freiheitliche und friedensethische Maßstäbe. Es stärkt die individuelle Verantwortlichkeit von Soldatinnen und Soldaten, die im Hören auf ihr Gewissen Bedenken gegen die Ausführung eines Befehls haben und erlaubt es ihnen, einen Einsatzbefehl zu verweigern. Wir verstehen dies als ausdrückliche rechtliche Würdigung von situativer (=partieller) Kriegsdienstverweigerung, die von der herrschenden Rechtsprechung zu Artikel 4 Absatz 3 GG bisher ausgeschlossen worden ist. Die rechtliche Anerkennung situativer Kriegsdienstverweigerung nach Artikel 4 Abs. I GG hat die Evangelische Kirche in Deutschland bereits mit ihrem Ratschlag "Kirche und Kriegsdienstverweigerung" (1955) erbeten und seitdem aus gegebenem Anlass stets angemahnt.
  2. Das Urteil hebt hervor, dass die Bedenken und die Berufung auf das Gewissen den Kriterien "Ernsthaftigkeit", "Tiefe" und "Unabdingbarkeit des ethisch Gebotenen" genügen müssen, sowie im Einklang mit den "Äußerungen" und dem "Verhalten" der Person stehen. Mit diesen Kriterien sind nachvollziehbare Begründungsanforderungen genannt, die jeweils im Einzelfall zu bewerten sind. Im Zweifel ist stets zugunsten des persönlichen Gewaltverzichts zu entscheiden und eine Lösung "praktischer Konkordanz" herbeizuführen, die in einvernehmlicher anderweitiger Verwendung, Versetzung oder anderen Angeboten des Dienstgebers bestehen kann. Nur durch eine solche Regelung kann dem Konzept der Inneren Führung entsprochen werden.
  3. Das Urteil geht von der Position des Gewaltverbots der Charta der Vereinten Nationen (Artikel 2,4) aus und stärkt damit das Humanitäre Völkerrecht. Es dient insoweit der Gewaltprävention und verstärkt die Begründungsanforderungen für den Umgang mit oder gar den Einsatz von militärischer Gewalt. Es wirkt darauf hin, jeden einzelnen militärischen Befehl v o r einem Einsatz auf seine rechtliche und völkerrechtliche Grundlage und auf seine möglichen Auswirkungen hin gewissenhaft zu prüfen. Damit beugt es einem missbräuchlichen Einsatz militärischer Gewalt vor und dient objektiv dem Schutz ziviler Werte insbesondere auch dem Rechtschutz von Soldatinnen und Soldaten.
  4. Das Urteil fordert jede Bundesregierung auf, sich noch mehr für die Einhaltung des Gewaltverbots der UN-Charta und des Humanitären Völkerrechts einzusetzen urd die eingegangen Bündnisverpflichtungen mit allen ihren Konsequenzen sehr genau zu beachten. Für die Zukunft muss ausgeschlossen werden, dass die Bundesrepublik Deutschland Ausgangspunkt oder gar "Drehscheibe" für völkerrechtswidrige Kriege wird. Bestätigt wurde auch: Ein durch Artikel 51 UN-Charta nicht gerechtfertigter Krieg kann keinen NATO-Bündnisfall begründen, auch der NATO-Vertrag steht einem Angriffskrieg entgegen. Die eingegangenen Verpflichtungen des NATO-Vertrages und seines Zusatzabkommens ermöglichen der Bundesregierung einen Handlungsspielraum, die Nichtbeteiligung an einem Krieg zu verdeutlichen und dem Vorwurf der Duldung einer Aggression entgegenzuwirken.
  5. Das Urteil muss weithin bekannt gemacht und in der Ausbildung aller Angehörigen der Bundeswehr berücksichtigt werden. Im Rahmen der Grundausbildung von Wehrpflichtigen sowie in der Aus- und Fortbildung von Zeit- und Berufssoldaten sollte das Urteil behandelt werden: Warum nicht mit geeigneten Beispielen aus der Geschichte des Humanitären Völkerrechts und des Kriegsvölkerrechts? Deren Bedeutung für die militärischen Einsätze heute ist hervorzuheben. In die thematische Planung für den lebenskundlichen Unterricht der Seelsorge in der Bundeswehr, zu deren Aufgabe die Gewissenschärfung gehört, muss das Urteil einbezogen werden.

Es bleibt zu hoffen, dass das Urteil über die Bundesrepublik Deutschland hinaus Beachtung findet und auch für das internationale Recht normierend wirkt. Die im Verhaltenskodex der OSZE von Budapest 1994 vereinbarte internationale Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zu einer Informationsarbeit: ...den Angehörigen der Streitkräfte die Tatsache bewusst zu machen, "dass sie nach dem innerstaatlichen und dem Völkerrecht für ihre Handlungen individuell verantwortlich sind" und "...die Verantwortung der Vorgesetzten die Untergebenen nicht von ihrer individuellen Verantwortung entbindet",* gehört bisher (leider) noch nicht einmal zu den rechtlichen europäischen Standards - geschweige denn dass diese Verpflichtung bzw. staatliche 'Bringschuld' rechtlich 'gesichert' wäre! Die Tatsache, dass das freisprechende Urteil des BVerwGs von einem Soldaten erst in letzter Instanz erstritten werden konnte, lässt erkennen, wie notwendig solche Informations- und Aufklärungsarbeit ist.

Berlin/Bremen. den 3l. Oktober 2005
gez.Dr. Christoph Demke, Bischof i.R.
Bundesvorsitzender

* Verhaltenskodex zu politischen und militärischen Aspekten der Sicherheit, OSZE - Budapest 1994, Abschnitt VII, Ziff. 30 und 31; zitiert nach: EAK (Hrsg.), Gewalt überwinden! Die Kirchen, die OSZE und die zivile Konfliktbearbeitung, Bremen 2001, S. 41-45. Originalquelle: Auswärtiges Amt: Von der KSZE zur OSZE, Bonn 1998, 5.265 f.


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