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Klein wollte Taliban "vernichten"

Bomben galten nicht den Tanklastzügen, sondern Aufständischen *

Die Affäre um den Luftangriff in Afghanistan mit vielen Toten und Verletzten nimmt eine neue Dimension an. Das Bundeskanzleramt soll vor dem Luftschlag ein schärferes Vorgehen der Bundeswehr gegen die Taliban gebilligt haben.

Offenbar macht die Bundeswehr in Afghanistan gezielt Jagd auf vermeintliche und tatsächliche Talibankämpfer. Nach Informationen der »Leipziger Volkszeitung« seien das Kanzleramt, die Spitze des Verteidigungsministeriums sowie mit der Koordination der Geheimdienste beauftragte Regierungsvertreter vor und nach dem Luftangriff bei Kundus am 4. September in eine damals vereinbarte neue Eskalationsstufe in Afghanistan einbezogen worden. Dabei sei es auch um die gezielte Liquidierung der Taliban-Führungsstruktur gegangen.

Beachten Sie auch die Meldungen vom 11. bis 15. Dezember in unserer tagesaktuellen Afghanistan-Chronik



Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages soll die Kundus-Affäre durchleuchten. Er konstituiert sich am kommenden Mittwoch (16. Dez.). Nach Medienberichten vom Samstag (12. Dez.) habe der Luftschlag von Kundus nicht auf die beiden Tanklastzüge, sondern auf eine Gruppe von Taliban und deren Anführer gezielt. Die Zeitung zitiert aus dem Untersuchungsbericht der Internationalen Schutztruppe für Afghanistan (ISAF). »Er wollte die Menschen angreifen, nicht die Fahrzeuge«, heiße es in dem geheimen Bericht über den für den Angriff verantwortlichen Oberst Georg Klein. Oberst Klein habe demnach selbst in einem von ihm verfassten Bericht erklärt, die Taliban »vernichten« zu wollen, schreibt die Zeitung.

Die Bundesregierung hatte in der Vergangenheit stets erklärt, die Tanklastzüge seien angegriffen worden, weil eine Gefahr für die deutschen Truppen drohte. Laut »Leipziger Volkszeitung«, seien Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) sowie das Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Abstimmung mit dem US-Geheimdienst CIA in die Entscheidungsstrukturen zur Tötung von Taliban einbezogen worden. Die Zeitung will aus dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam erfahren haben, dass sich der für den Angriff verantwortliche Oberst Klein »nach diesen Regierungsvorgaben regelrecht ermutigt gefühlt haben« dürfte, »einmal kräftig durchzugreifen«.

Verteidigungsminister zu Guttenberg hat nach Angaben des entlassenen Bundeswehr- Generalinspekteurs Wolfgang Schneiderhan alle wesentlichen Informationen zum Angriff von Kundus gekannt, als er diesen als »angemessen« einstufte. Der NATO-Untersuchungsbericht, der Guttenberg bei Amtsantritt vorgelegen habe, enthalte diese Informationen, sagte Schneiderhan dem ARD-»Bericht aus Berlin«. Zudem hätten er und der ebenfalls vom Dienst entbundene Staatssekretär Peter Wichert Guttenberg am 25. November auf Nachfrage insgesamt vier weitere Berichte zu dem Bombardement genannt. Kommentar Seite 4

* Aus: Neues Deutschland, 14. Dezember 2009


Blutige Lektion

Berichte zu Kundus veröffentlichen

Von Knut Mellenthin **

Am 4. September um 1.51 Uhr nachts entschloß sich Georg Klein, möglichst viele afghanische INS »durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten«. So steht es im Bericht, den der Bundeswehroberst am 5. September an Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan schickte. Man nennt sie entmenschlichend »INS«, weil dann das Töten leichter fällt. Das Kürzel steht im Sprachgebrauch der NATO für »Insurgents«, Aufständische. Wer damit genau gemeint ist, wird von Fall zu Fall entschieden. In Kleins Bericht steht auch, er habe nach den vorliegenden Informationen davon ausgehen können, bei dem Luftangriff »mit höchster Wahrscheinlichkeit nur Feinde des Wiederaufbaus zu treffen«. Bei diesem sehr weitläufigen Begriff sollten sämtliche Alarmanlagen angehen.

Seit ein paar Tagen liest man, der Oberst habe den Luftangriff angeordnet, um zwei oder vier »Taliban-Führer« zu töten, die er im »Zielgebiet« vermutete. Schon gibt es eine kritische Diskussion um »gezielte Tötungen«, die aber allen bisher bekannt gewordenen Tatsachen nach an der Wirklichkeit vorbeiläuft und im Endeffekt dem deutschen Vorgehen sogar noch einen Anschein von »militärischer Legitimität« verleihen könnte. Klein wußte von den US-amerikanischen Piloten, daß sich zahlreiche Nicht-Kombattanten im »Zielgebiet« befanden. Eben deshalb schlugen diese vor, die Menschenmenge nicht anzugreifen, sondern sie durch Tiefflugmanöver zu zerstreuen, was der Oberst ablehnte. Klein legte es, dem ISAF-Bericht zufolge, darauf an, möglichst viele Menschen zu töten. Deshalb habe er die Piloten aufgefordert, sechs Bomben in die Menge zu werfen, was diese ablehnten. Sie begnügten sich mit zwei Bomben, was für den gewünschten Zweck jedoch völlig ausreichte.

Ob in Kleins Bericht an Schneiderhan überhaupt etwas von »Taliban-Führern« steht, die angeblich getroffen werden sollten, ist bisher nicht bekannt. Sein Sprachgebrauch nährt vielmehr den Verdacht, daß es ihm hauptsächlich darauf ankam, der mit den Aufständischen sympathisierenden und sie zum Teil wohl auch unterstützenden örtlichen Bevölkerung eine blutige Lektion zu erteilen. Der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammad Omar, formulierte dieses Ziel ganz offen so: »Die Dorfbewohner haben den Preis dafür bezahlt, daß sie den Aufständischen helfen und ihnen Unterschlupf gewähren.« Ausgerechnet diesen Mann führte der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung als Kronzeugen dafür an, daß bei dem Angriff »ausschließlich terroristische Taliban« getötet worden seien.

Klein kann seinen Befehl, der für mehr als 140 Menschen zum Todesurteil wurde, kaum ohne grundsätzliche Übereinstimmung mit den übergeordneten Stellen bis hin zur Bundesregierung gegeben haben. Wesentliche Voraussetzung für eine Aufklärung der Zusammenhänge ist zunächst die Veröffentlichung aller vorliegenden Berichte, deren Inhalt bisher geheimgehalten wird.

** Aus: junge Welt, 14. Dezember 2009


Armee außer Kontrolle

Von Fabian Lambeck ***

Der Bundestag soll die Armee kontrollieren und über deren mögliche Einsätze auch entscheiden. So steht es im Grundgesetz. Doch die Parlamentsarmee entzieht sich langsam ihren Kontrolleuren. Konservative Politiker und führende Militärs wollen die Bundeswehr aus dem Blickfeld der Abgeordneten schaffen. Diese unheimliche Allianz will freie Hand für Bundeswehrsoldaten in Afghanistan. Dabei stören lästige Kontrolleure und Mandate, die den Soldaten das gezielte Töten verbieten. Um diese Beschränkungen zu umgehen, hat man offenbar hinter dem Rücken des Bundestages ganz einfach das Mandat der Truppe erweitert. Das Parlament verlängerte vor Kurzem das ISAF-Mandat, weil es mit deutlichen Einschränkungen versehen ist. Deutsche Soldaten dürfen demnach nur schießen, wenn sie angegriffen werden oder ein Angriff der Aufständischen unmittelbar bevorsteht. Doch insgeheim setzte die Bundeswehr diese Regeln wohl bereits im April dieses Jahres außer Kraft. Die Eskalation im September erfolgte zudem mit Billigung des Kanzleramtes und hoher Regierungsvertreter. So hat man den Bundestag bewusst an der Nase herumgeführt.

Deshalb sollte das so hintergangene Parlament nun alles tun, um die Kontrolle über jene Truppenteile wiederzuerlangen, die im Zwielicht der Hindukuschtäler agieren. Die Soldaten in Afghanistan sollten wissen, dass ihnen Bundestagsabgeordnete auf den Finger schauen.

*** Aus: Neues Deutschland, 14. Dezember 2009 (Kommentar)


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