Der "Eisbrecher" Luftsicherheitsgesetz:
Bundeswehreinsätze im Inland
Von Michael Haid
Am 24. September 2004 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung das
sog. Luftsicherheitsgesetz[1] (LuftSiG) im Bundestag verabschiedet,
das den Einsatz militärischer Waffengewalt gegen Zivilpersonen im
inländischen Luftraum (der Abschuss von Zivilflugzeugen mit ihren
Passagieren) erlaubt und verfassungsrechtlich höchst umstritten
ist.[2] Die Strittigkeit des Gesetzes führte zu einer Kampagne von
Sicherheitspolitikern, die das Thema Bundeswehr im Innern aus Gründen
der sog. "Terrorabwehr" thematisieren, ebenso die Öffentlichkeit
desensibilisieren wollen und letztlich eine Grundgesetzneuauslegung
(wie von den Sozialdemokraten befürwortet) oder eine
Grundgesetzänderung (wie von den Konservativen bevorzugt) anstreben.
Eine tatsächliche öffentliche Debatte zu diesem Thema findet kaum
statt, da es nie um die Frage des Ob (soll die Bundeswehr überhaupt im
Inneren zu diesem Zweck eingesetzt werden dürfen), sondern lediglich
um das Wie - auf Grundlage der geltenden Verfassungsvorschriften oder
durch eine Grundgesetzänderung - ging. Dieses Gesetz dient als
"Eisbrecher" für weitere Gesetze zur Legalisierung und Vorbereitung
von militärischen Einsätzen im Inland, worin die Hauptgefahr dieses
Gesetzes zu sehen ist.
Ein sog. Seesicherheitsgesetz ist derzeit entlang der Linie des
LuftSiG innerhalb der Bundesregierung in Planung. Dieses Gesetz soll
alle Modalitäten des LuftSiG, nur auf die See angewandt, beinhalten
und fungiert quasi als Schwester- oder Parallelgesetz. Realisiert
werden soll das Seesicherheitsgesetz nach der zum 15. Februar 2006
erwarteten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur
Verfassungskonformität des Luftsicherheitsgesetzes.[3]
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier,
befürwortet eine Grundgesetzänderung für den Einsatz der Bundeswehr im
Innern im Rahmen der "Terrorbekämpfung". Gegenüber einer Tageszeitung
äußerte er, dass man "durchaus zweifeln (könne), ob die Bundeswehr zum
Beispiel ein Flugzeug abschießen dürfte, von dem eine terroristische
Gefahr ausgeht". Deshalb sollte man "aus Gründen der Rechtsklarheit
und Rechtssicherheit die Verfassung in diesem Punkt ergänzen"[4], so
sein Vorschlag, was eine Grundgesetzänderung, wie von der CDU/CSU
angestrebt, in nächster Zeit wahrscheinlich macht. Die Parteiführungen
der Konservativen und Sozialdemokraten haben in ihrem
Koalitionsvertrag dafür schon vorsorglich formuliert: "Angesichts der
Bedrohung durch den internationalen Terrorismus greifen äußere und
innere Sicherheit immer stärker ineinander. (…) Wir werden nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz
prüfen, ob und inwieweit verfassungsrechtlicher Regelungsbedarf
besteht. In diesem Zusammenhang werden wir auch die Initiative für ein
Seesicherheitsgesetz ergreifen."[5]
Damit wäre der bisherige grundgesetzliche Schutz vor einer Ausweitung
von Kompetenzen der Bundeswehr im Innern Tür und Tor geöffnet und die
Trennung des nach außen geltenden militärischen Gewaltmonopols und des
nach innen sich richtenden polizeilichen Gewaltmonopols aufgehoben.
Historisch zwingende Gründe für ein Verbot des Militäreinsatzes im Innern
Die Bestimmungen zum weitgehenden Verbot des Bundeswehreinsatzes im
Inland entstanden nicht aus abstrakten Prinzipien, sondern aus einer
tiefgreifenden historischen Erfahrung heraus, die sich die Befürworter
dringend noch einmal vor Augen führen sollten, bevor sie darangehen,
das Grundgesetz an solch einem entscheidenden Punkt - direkt oder
interpretatorisch - verändern zu wollen. Die Armee im Inneren des
eigenen Landes zur "Lösung" von politischen und sozialen Problemen
einzusetzen, hat in Deutschland eine lange und bittere Tradition.[6]
Eine Erfahrung war die fatale Rolle, die das preußisch-deutsche
Militär von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1945 gespielt hat. Den
amerikanischen Historiker Gordon A. Craig veranlasste diese Rolle zu
der Feststellung, das Militär in Deutschland sei "ein Staat im
Staate", der "den sozialen Fortschritt und die Entwicklung liberaler
demokratischer Institutionen verhinderte." Der Grund für diese
Fehlentwicklung lag vor allem in der Tatsache, dass eine klare
Trennung zwischen polizeilichen und militärischen Aufgaben fehlte. In
der Revolution von 1848/49 spielte die preußische Armee einen
verheerenden Part in der Gegenrevolution. Der monarchische
Militärstaat wurde durch den Einsatz militärischer Gewalt restauriert.
General Karl Gustav von Griesheim propagierte die Devise: "Gegen
Demokraten helfen nur Soldaten!"
Der Anspruch des Militärs, in innenpolitischen Angelegenheiten
entscheidend mitzureden, sollte in den folgenden Jahrzehnten das
Handeln des Offizierskorps bestimmen. So machte die preußisch-deutsche
Armee auch nach der Reichsgründung 1871 ihren Einfluss in der
Innenpolitik geltend. Ziel war es, den Obrigkeitsstaat zu
stabilisieren und die sozialrevolutionären und demokratischen
Bestrebungen abzuwehren. Im Visier der Armee befanden sich
Sozialdemokraten, Linksliberale, Katholiken, Juden, Gewerkschafter und
Pazifisten. Dadurch wurde aber auch ein entscheidender Konflikt der
Kaiserzeit in das Militär getragen, denn diese Personengruppen bzw.
deren Söhne mussten auch Militärdienst leisten. Welche Konsequenzen
sich daraus ergeben konnten, machte Kaiser Wilhelm II. anlässlich
einer Rekrutenvereidigung im November 1891 deutlich: "Bei den jetzigen
sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, dass Ich Euch befehle,
Eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschießen." Obwohl
im Kaiserreich mehrfach Truppen gegen das Volk aufmarschierten wie zum
Beispiel 1912 beim Bergarbeiterstreik an der Ruhr, kam es nie zu
größerem Blutvergießen.
Bei Kriegsbeginn 1914, als der Belagerungszustand verhängt wurde, ging
ein wesentlicher Teil der Macht im Innern auf das Preußische
Kriegsministerium über. Auf dieser Basis entfaltete die Armeeführung
in den Jahren des Ersten Weltkrieges eine bedeutende innenpolitische
Rolle. Die militärische Behördenstruktur wurde schließlich auch die
Grundlage für die Herrschaft der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) unter
von Hindenburg und von Ludendorff in der zweiten Hälfte des Krieges,
die nicht zu Unrecht als eine Art Militärdiktatur bezeichnet worden
ist. Die OHL entwickelte sich zur maßgebenden Instanz der
Innenpolitik. Wie nach außen, so mobilisierte sie für den Krieg nach
innen, indem sie sich gegen alle Reformbestrebungen der demokratischen
Parteien stemmte.
In der Zeit von 1918 bis 1924 setzte die Reichsregierung der Weimarer
Republik unter dem SPD-Politiker Gustav Noske die sog. Freikorps im
Innern ein, die mit einer seit 1848/49 nicht mehr gekannten Brutalität
die Arbeiter- und Bauernräte sowie auch andere als "Reichsfeinde"
Verdächtige zusammenschossen. Diese Massaker können höchstens in der
Perspektive des zu Ende gegangenen Weltkriegs erklärt werden:
Militärische Gewalt war alltäglich strukturbestimmend geworden. In
diesem Kontext sind auch die Ermordungen Rosa Luxemburgs und Karl
Liebknechts, des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisners (USPD),
des Zentrumspolitikers und Reichsfinanzministers Matthias Erzbergers
oder des Reichsaußenministers Walther Rathenau durch Angehörige der
ehemaligen kaiserlichen Armee zu sehen.
Diese Aufzählung könnte noch beliebig fortgeführt werden, jedoch
müsste klar geworden sein, welch verheerende reaktionäre Rolle das
deutsche Militär im Inland gespielt hat. Aus diesen Erfahrungen
heraus, war die Konsequenz zwingend, dass bei der offiziellen Gründung
der Bundeswehr 1956 in das Grundgesetz der Artikel 87a eingefügt
wurde, der eine strikte Aufgabentrennung zwischen Militär und Polizei
vorsah. Die Bundeswehr wurde nur für die äußere Sicherheit für
zuständig erklärt. Trotzdem gab es erhebliche Ausnahmen, die weiter
unten noch behandelt werden.
Diese Begrenzung der Bundeswehr wurde in der jüngsten Vergangenheit
mit dem LuftSiG durchbrochen und droht in der nahen Zukunft praktisch
aufgelöst zu werden. Auslöser dieser Entwicklung war der damalige und
heutige Innenminister Wolfgang Schäuble, der schon 1993 die Bundeswehr
zur Unterstützung der Polizei eingesetzt sehen wollte, um "illegale
Einwanderer" an den Landesgrenzen aufzuhalten. Im Übrigen würden sich
im Zeitalter "weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalen
Terrorismus" die Grenzen zwischen "innerer und äußerer Sicherheit
verwischen." Es sei daher an der Zeit, die "besonders strengen
Einschränkungen", welche die Verfassung dem Militär "aus historischen
Gründen" auferlege, auf ein Maß zu bringen, das in "anderen
Demokratien ganz normal" sei. Vor dieser Normalität kann angesichts
der Blutspur, die von der deutschen Armee im Inland allein in der
neueren Geschichte gezogen wurde, nur gewarnt werden.
Besonders, wenn Politikerstimmen laut werden, die die Bundeswehr zur
"Migrationsabwehr", zum "Schutz von Atomkraftwerken und
Castor-Transporten" oder zum "Schutz der Fußball-Weltmeisterschaft"
eingesetzt sehen wollen. Der Vorsitzende des Deutschen
Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, sowie der Vorsitzende der
Polizeigewerkschaft, Konrad Freiberg, haben wiederholt öffentlich ihr
Missfallen über solche Forderungen Ausdruck verliehen. Dabei wurde
betont, dass der Soldateneinsatz im Inland in der Öffentlichkeit
schwer vermittelbar sei und die Bundeswehr für diese Einsätze weder
ausgerüstet noch ausgebildet sei, weshalb folgenschwere Ereignisse
angesichts der unterschiedlichen Vorgaben beispielsweise beim
Schusswaffengebrauch voraussehbar seien, wenn Wehrdienstleistende auf
gewaltbereite Hooligans stießen.[7] Deshalb kann es verheerende
Auswirkungen haben, die Bundeswehr für polizeiliche Aufgaben, aber mit
militärischen Einsatzbestimmungen und Waffengewalt ausgestattet,
einzusetzen.
Das Luftsicherheitsgesetz
Das Luftsicherheitsgesetz diene nach § 1[8] "dem Schutz vor Angriffen
auf die Sicherheit des Luftverkehrs, insbesondere vor
Flugzeugentführungen, Sabotageakten und terroristischen Anschlägen."
Deshalb habe die Luftsicherheitsbehörde laut § 2 "die Aufgabe,
Angriffe auf die Sicherheit des Luftverkehrs im Sinne des § 1
abzuwehren." Diese "Abwehraufgabe" ist in den §§ 13 und 14 näher
ausgeführt. Dort heißt es in § 13 I: "Liegen aufgrund eines
erheblichen Luftzwischenfalls Tatsachen vor, die im Rahmen der
Gefahrenabwehr die Annahme begründen, dass ein besonders schwerer
Unglücksfall nach Artikel 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 des
Grundgesetzes bevorsteht, können die Streitkräfte, soweit es zur
wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, zur Unterstützung der
Polizeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses
Unglücksfalles eingesetzt werden." Nach diesem Gesetz ist § 13 I die
Ermächtigungsgrundlage für einen Kampfeinsatz der Bundeswehr im
Inland, was bis zu diesem Zeitpunkt völlig unmöglich war.
Die Funktion der eingesetzten Kampfflugzeuge verrät § 14 III genau, in
dem die "unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt" auf das betreffende
Flugzeug angeordnet werden kann. Das heißt, dass durch den Abschuss
der Maschine möglicherweise Menschen am Boden vor dem Tod bewahrt
werden können. Dafür sterben aber die Passagiere an Bord des
getroffenen Flugzeugs mit Sicherheit und, quasi als
"Kollateralschäden", unter Umständen andere Menschen durch
herabfallende Wrackteile, was über dichtbesiedelten Gebieten nicht
unwahrscheinlich ist. Damit wird gleichzeitig zum ersten Mal die
Bundesregierung ermächtigt, unschuldige Menschen durch ihre
Vollzugsorgane töten zu lassen. Den Abschuss befehlen kann nach § 14
IV der Verteidigungsminister oder im Vertretungsfall das zu seiner
Vertretung berechtigte Mitglied der Bundesregierung. Die taktische
Einsatzleitung unterliegt dem am 20. Oktober 2003 in Dienst genommenen
"Nationalen Lage- und Führungszentrum- Sicherheit im Luftraum" im
nordrhein- westfälischen Kalkar.
Das Gesetz selbst führt noch in § 21 die Grundrechtseinschränkungen
auf, denen die involvierten Personen unterliegen. "Die Grundrechte auf
Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person (Artikel 2
Abs.2 Satz 1 und 2 des Grundgesetzes), (…) und das Grundrecht auf
Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 des Grundgesetzes)
werden nach Maßgabe dieses Gesetzes eingeschränkt."
Die derzeitige Verfassungslage zum Bundeswehreinsatz im Inland
Die derzeitige Verfassungslage lässt den Einsatz der Bundeswehr nur in
ganz bestimmten Ausnahmefällen zu. Zentrale Norm hierfür ist Art.87a
II GG, in dem steht: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte
nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich
zulässt." Das heißt, ein Bundeswehreinsatz ist nur dann
verfassungskonform und folglich erlaubt, wenn dies in einem anderen
Grundgesetzartikel explizit benannt wird (im Juristendeutsch als
Texttreue bezeichnet).
Die Möglichkeit des Militäreinsatzes geben abschließend nur der Art.35
I, II und III GG sowie der Art.87 III und IV GG her.[9] Der noch am
ehesten außerhalb des Grundgesetzes in Frage kommende
Legitimierungsansatz des sog. rechtfertigenden Notstands nach § 34
StGB scheidet deshalb aus, weil eine Saldierung von Menschenleben und
die Annahme, dass das Leben vieler das Leben weniger wesentlich
überwiegen könne (wie oft in den Medien von verschiedenen Seiten
kommuniziert wurde), im deutschen Recht nicht zulässig ist.[10]
Die Art. 35 und 87 GG werden im Folgenden vor dem Hintergrund
beleuchtet, das LuftSiG unter diese Vorschriften subsumieren zu
können, um die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes festzustellen. Dabei
wird jedoch ersichtlich werden, dass das LuftSiG mit dem Grundgesetz
unvereinbar ist.
Nach Art.87a III GG ist Voraussetzung für die Zulässigkeit des
Bundeswehreinsatzes zu Zwecken des Objektschutzes und der
Verkehrsregelung die Feststellung des Spannungs- oder
Verteidigungsfalles. Da diese beiden Fälle, auch bei einer akuten
Drohung der Verwendung eines Zivilflugzeugs als "fliegende Bombe",
nicht vorliegen, scheidet Art.87a III GG als Rechtsgrundlage aus.
Dasselbe gilt für Art.87a IV GG, der in Verbindung mit Art.91 II GG
("Innerer Notstand") den Militäreinsatz bei einer Gefahr für den
Bestand oder für die freiheitliche demokratische Grundordnung des
Bundes oder eines Landes mit dem Ziel des Objektschutzes und der
Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer
gestattet. Es lässt sich nicht ernsthaft begründen, weshalb wegen
einer "fliegenden Bombe" die freiheitliche demokratische Grundordnung
der Bundesrepublik gefährdet sein sollte. Die Flugzeugentführer sind
keine militärisch bewaffneten Aufständischen im eigenen Land, sondern
begehen schwere kriminelle Handlungen mit normalerweise
minimalistischer Bewaffnung. Damit entfällt auch Art.87a IV GG als
taugliche Rechtsgrundlage des LuftSiG.[11]
In Art.35 I GG ist die behördliche Rechts- und Amtshilfe festgehalten,
die Verwendungen der Bundeswehr in rein technischer Natur, nicht den
Einsatz von militärischen Gewaltmitteln, wie die Hilfe bei
Umweltschutzmaßnahmen Dritter, bei der Erntenothilfe, auf karitativem
und sozialem Gebiet sowie im zivilen Rettungswesen vorsieht.[12]
Darunter fallen die Bestimmungen des LuftSiG keinesfalls.
Als einschlägige Rechtsgrundlagen für den Streitkräfteeinsatz in den
Fällen des LuftSiG sah die rot-grüne Bundesregierung die Normen des
Art. 35 II 2 und III 1 GG an.[13] Diese Normen enthalten gemäß dem
Gebot des Art. 87a II GG die erforderlichen Sonderregeln, die den
Einsatz der Bundeswehr im Innern unter bestimmten Voraussetzungen
erlauben. In Art.35 II 2 GG heißt es: "Zur Hilfe bei einer
Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann
ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen
anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der
Streitkräfte anfordern."
Art. 35 III 1 GG unterscheidet sich von Art. 35 II 2 GG dadurch, dass
nicht die betroffene Landesregierung, sondern die Bundesregierung die
Bundeswehr anfordern kann, aber nur, wenn mehr als ein Bundesland
betroffen sei: "Gefährdet die Naturkatastrophe oder der Unglücksfall
das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit
es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, den Landesregierungen
die Weisung erteilen, Polizeikräfte anderen Ländern zur Verfügung zu
stellen, sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte
zur Unterstützung der Polizeikräfte einsetzen."[14]
Naturkatastrophen sind unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder
Schädigungen in erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse
ausgelöst werden und aufgrund dieser Definition als Grundlage für das
LuftSiG nicht in Betracht kommen. Ein besonders schwerer Unglücksfall
liegt bei Schadensereignissen von großem Ausmaß und von Bedeutung für
die Öffentlichkeit vor, die durch Unfälle, technisches oder
menschliches Versagen ausgelöst oder von Dritten absichtlich
herbeigeführt wurden. Nicht erfasst werden sog.
"Demonstrationsexzesse",[15] was für den von gewissen politischen
Richtungen geforderten Einsatz der Bundeswehr bei Demonstrationen
(Castor-Transporte, Werktorsperrungen), gegen Hooligans bei
Fußballspielen u.ä. von Bedeutung ist.
Eben diese Formulierung: ein besonders schwerer Unglücksfall, der
absichtlich von Dritten herbeigeführt wurde, reiche nach Ansicht der
rot-grünen Bundesregierung als Rechtsgrundlage aus. Dieser
Interpretation widerspricht die große Mehrheit der Verfassungsrechtler
mit folgender Argumentation: ein von den Entführern herbeigeführter
Absturz eines Flugzeugs führt sicherlich zu einem schweren
Unglücksfall, insofern treffen die Voraussetzungen der Art.35 II 2,
III 1 GG zu. Jedoch müssen nach dem Gebot der Texttreue des Art.87 II
GG die Bestimmungen der Art. 35 II 2, III 1 GG den geplanten tödlichen
Waffeneinsatz der Bundeswehr ausdrücklich benennen und genau dies
steht dort nicht.
Der Artikel spricht davon, Kräfte und Einrichtungen der Streitkräfte
zur Unterstützung der Polizei einzusetzen. Mit dieser Formulierung
werden die Streitkräfte in Maßnahmen des zivilen Katastrophenschutzes
als personelle und technische Verstärkung eingebunden, da in Art. 35
II 2 GG nicht von der Anforderung von Streitkräften an sich, sondern
von deren Kräften und Einrichtungen, also von ausgliederbaren
sachlichen und personellen Mitteln die Rede ist. Diese Ansicht wird
auch durch die entstehungsgeschichtliche Konzeption des Art.35 II 2 GG
unterstrichen, der aufgrund der Hilfe der Bundeswehr für die zivilen
Kräfte in der Hamburger Flutkatastrophe von 1962 entstand. Von einem
Einsatz in militärfachlichem Sinne ist in Art.35 II 2, III 1 nicht im
Entferntesten die Rede. In diesem gesetzlichen Rahmen ist die Hilfe,
die ein Bundesland im Katastrophenfall anfordern kann, offenkundig auf
Maßnahmen beschränkt, die es selbst vornehmen dürfte. Militärische
Kampfmaßnahmen gehören nicht hierher. Zudem ist ein militärischer
Inlandseinsatz nach dem Willen von Landesstellen, die eingesetzten
Bundeswehreinheiten wären der anfordernden Landesregierung
unterstellt, dem Grundgesetz absolut fremd.[16] Aus diesen Gründen
können Art.35 II 2 und III 1 GG als Rechtsgrundlage für das LuftSiG
nicht dienen, da hiergegen der Wortlaut und der Zweck des Gesetzes
sowie entstehungsgeschichtliche Gründe sprechen. Die ehemalige
Bundesregierung führte das Gesetz auf dieser Grundlage ein, obwohl es
offensichtlich keine grundgesetzliche Absicherung hatte.
Die rechtlichen Folgen für die Soldaten durch das Inkrafttreten des
LuftSiG und generell durch gesetzliche Bestimmungen für den Inlandseinsatz
Bezüglich der Rechtmäßigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und
der Verantwortlichkeit der bei diesem Einsatz involvierten Soldaten
kann die Bundesregierung auf die erste Eilentscheidung im sog.
AWACS-Verfahren von 1993 verweisen, in der es heißt: "Der Soldat trägt
auch dann kein rechtliches Risiko, wenn sich später die
Verfassungswidrigkeit des Einsatzes ergeben sollte. (…) Die
Verantwortung für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser
Anordnung tragen nicht die an dem Einsatz beteiligten Soldaten,
sondern die Bundesregierung."[17] Deshalb spricht § 11 des
Soldatengesetzes (SG)[18] die betreffenden Soldaten von jeglichem
rechtlichem Risiko frei und weist die Verantwortlichkeit der
Bundesregierung zu. Diese rechtliche Lage in Auslandseinsätzen sollte
nun auch durch das LuftSiG für den Einsatz im Innern fruchtbar gemacht
werden.
Bei Kaperung einer Verkehrsmaschine durch Terroristen und deren
Abschuss durch die Luftwaffe auf Befehl des Verteidigungsministers
wäre, rein rechtlich gesehen, vor dem Inkrafttreten des LuftSiG die
Rechtsfigur des sog. übergesetzlichen (entschuldigenden) Notstandes
eingetreten. Das hätte zu dem Ergebnis geführt, dass weder der den
Einsatzbefehl gebende Minister noch die den Befehl ausführenden
Soldaten mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen gehabt hätten,
da ihr Verhalten entschuldigt wäre, aber trotzdem rechtswidrig bliebe
und somit eine Straftat darstellte.[19]
Diese Rechtslage hatte zur Folge, dass die an einer solchen Aktion
beteiligten Bundeswehrangehörigen sich auf Art. 11 II SG hätten
berufen können, in dem steht: "Ein Befehl darf nicht befolgt werden,
wenn dadurch eine Straftat begangen würde." Das Begehen einer Straftat
im Sinne des § 11 II SG liegt vor, wenn es sich um eine
tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tat handelt. Das heißt, diese
Soldaten hätten bei einem Abschuss bzw. bei einer Beteiligung daran,
diesen Befehl verweigern können, wenn nicht gar müssen.
Mit dem Inkrafttreten des LuftSiG änderte sich die Rechtssituation
entscheidend: das Handeln der Soldaten ist auf der Grundlage des § 14
III LuftSiG gerechtfertigt und damit nicht mehr rechtswidrig. Ein
entsprechender Einsatzbefehl des Verteidigungsministers muss als
rechtmäßig angesehen werden und ist demnach für die Soldaten rechtlich
verbindlich und zu befolgen. Würde ein Pilot die Befolgung eines
rechtmäßigen Abschussbefehls trotzdem verweigern, beginge er ein
Dienstvergehen, das disziplinarrechtlich geahndet werden würde.[20]
Trotzdem veröffentlichte der "Verband der Besatzungen
strahlgetriebener Kampfflugzeuge der Deutschen Bundeswehr e. V." eine
Erklärung, in dem er äußerte, ihre Mitglieder würden sich einem Befehl
verweigern, ein entführtes Passagierflugzeug mitsamt den Passagieren,
abzuschießen und dabei zu töten.[21]
Entscheidend und fatal ist auf jeden Fall, dass, wenn Gesetze durch
den Bundestag verabschiedet werden, die, für welche Situationen auch
immer (sei es in der Luft, zur See, zum Objektschutz usw.), den
Einsatz der Bundeswehr im Inland zum Gegenstand haben, werden die
Soldaten zum vorgegebenen Handeln, nämlich dem Töten, verpflichtet und
bei einer Verweigerung kriminalisiert.
Anmerkungen
- Vgl. Gesetz zur Regelung von Luftsicherheitsaufgaben,
Bundesgesetzblatt I 2005, 78 vom 11. Januar 2005. Das Gesetz wurde
geändert durch Art.49 des Gesetzes zur "Umbenennung des
Bundesgrenzschutzes in Bundespolizei" vom 21. Juni 2005 I 1818, in:
http://www.juris.de . Eine Übersicht mit Informationen und Dokumenten
zum LuftSiG findet sich unter
http://www.deutsches-wehrrecht.de/WR-LuftSiG.html
- Einen Überblick bietet der Informationsservice des Deutschen
Bundestages zur Expertenanhörung im Innenausschuss des Bundestages am
26. April 2004: Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung unter Experten
kontrovers diskutiert, hib-Meldung, 107/ 2004,
http://www.bundestag.de/bic/hib/2004/2004_107/03.html
- Vgl. Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung bezüglich
einer kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke zum Bundeswehreinsatz im
Inland, Drucksache 16/143 vom 6. Dezember 2005, S. 4
- "Die Welt" vom 10. April 2004
- Vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD: Gemeinsam für
Deutschland- Mit Mut und Menschlichkeit, 11.November 2005, in:
http://www.bundesregierung.de/Anlage920135/Koalitionsvertrag.pdf, S. 117
- Die folgenden Ausführungen sind diesem Artikel entnommen: Wette,
Wolfram: Der Feind im Innern, in: Die Zeit vom 5. Juni 2003
- Vgl. bspw. Bundeswehr – Verband gegen Einsatz von Soldaten im
Innern, in: Die Welt vom 12. Juli 2005,
http://www.welt.de/data/2005/07/12/744590.html und Freiberg, Konrad:
GdP- Chef lehnt Bundeswehr- Einsatz zur Sicherung der Fußball-WM ab,
Gespräch mit der Nachrichtenagentur "ddp" am 31. Januar 2006 unter
http://www.gdp.de/gdp/gdpcms.nsf/id/C8B9A61FB0BA0D86C1257107002F07F4
- Die nachfolgenden Paragraphen beziehen sich auf das Gesetz zur
Regelung von Luftsicherheitsaufgaben, Bundesgesetzblatt I 2005, 78 vom
11. Januar 2005.
- Vgl. Lutze, Christian: Abwehr terroristischer Angriffe als
Verteidigungsaufgabe der Bundeswehr, in:
http://www.deutsches-wehrrecht.de/Aufsaetze/NZWehrr_2003_101.pdf
- Vgl. Hilgendorf, Eric: Tragische Fälle. Extremsituationen und
strafrechtlicher Notstand, S. 107-132, in: Blaschke, Ulrich u.a.
(Hrsg.): Sicherheit statt Freiheit ? Staatliche Handlungsspielräume in
extremen Gefährdungslagen, Schriftenreihe zum Öffentlichen Recht, Band
1002, Berlin 2005, S. 129
- Vgl. Dreist, Peter: Einsatz der Bundeswehr im Innern- Das
Luftsicherheitsgesetz als Anlass zum verfassungsrechtlichen
Nachdenken, in: Blaschke, Ulrich u.a. (Hrsg.): Sicherheit statt
Freiheit ? Staatliche Handlungsspielräume in extremen
Gefährdungslagen, Schriftenreihe zum Öffentlichen Recht, Band 1002,
Berlin 2005, S. 77- 105, S. 96
- Vgl. Sannwald, Rüdiger, in: Schmidt-Bleibtreu, Bruno/Klein, Franz
(Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, München 2004, Art.35 Rn. 20 f..
- Vgl. Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung bezüglich
einer kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke zum Bundeswehreinsatz im
Inland, Drucksache 16/143 vom 6. Dezember 2005, S. 2 ff..
- Die Unterstreichungen in den Gesetzestexten stammen vom Autor.
- gl. Sannwald, Rüdiger, in: Schmidt-Bleibtreu, Bruno/ Klein,
Franz (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, München 2004, Art.35 Rn. 37
f., 49.
- Vgl. Gramm, Christof: Bundeswehr als Luftpolizei: Aufgabenzuwachs
ohne Verfassungsänderung, in:
http://www.deutsches-wehrrecht.de/Aufsaetze/NZWehrr_2003_089.pdf und
Linke, Tobias: Zur Rolle des Art. 35 GG in dem Entwurf eines Gesetzes
zur Neuregelungen von Luftsicherheitsaufgaben, in:
http://www.deutsches-wehrrecht.de/Aufsaetze/NZWehrr_2004_115.pdf mit
weiteren Argumenten
- Vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 88. Band, ab S.
173 (183, 184)
- Vgl. das Gesetz über die Rechtstellung der Soldaten
(Soldatengesetz- SG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 14.1.2001
(BGBl. I 2001, S. 232, 438), zuletzt geändert durch Art.65 des Dritten
Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Bestimmungen
vom 21.8.2002 (BGBl. I 2002, S. 3322)
- Vgl. Hilgendorf, S. 107 ff., 114
- Vgl. Dreist, S. 90 f.
- Vgl. Hirsch, Burkhard: Presseerklärung zum neuen Luftsicherheitsgesetz vom 22. Juni 2004, in:
http://www.vbsk.net/images/luftsicherheit/hirsch_presse.GIF
13.2.2006
* Aus: IMI-Analyse 2006/003; www.imi-online.de
Zurück zur Bundeswehr-Seite
Zurück zur Homepage