Posthume Ohrfeige für rot-grüne Bundesregierung
Bundesverfassungsgericht urteilt: "Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen über der Türkei bedurfte der Zustimmung des Bundestags"
Die rot-grüne Bundesregierung hat beim Einsatz von NATO-Aufklärungsflugzeugen zu Beginn des Irakkrieges vor fünf Jahren verfassungswidrig das Parlament übergangen. Wie das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch, 7. Mai 2008, entschied, hätte das Kabinett des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder vor der Entsendung der deutschen Soldaten in die Türkei die Zustimmung des Bundestages einholen müssen. Geklagt hatte die FDP-Bundestagsfraktion.
Im Folgenden dokumentieren wir das Urteil im Wortlaut.
Hier geht es zu kritischen Presseartikeln über das Urteil:
Ein Sieg des Rechts über die Exekutive
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 52/2008 vom 7. Mai 2008
Urteil vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 –
Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen über der Türkei bedurfte der Zustimmung des Bundestags
Für den Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO zur
Luftraumüberwachung über dem Hoheitsgebiet der Türkei im Frühjahr 2003
hätte die Bundesregierung die Zustimmung des Deutschen Bundestags
einholen müssen. Dies entschied der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 7. Mai 2008. Der
wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt für den Einsatz
bewaffneter Streitkräfte greift ein, wenn nach dem jeweiligen
Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen
Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Diese Voraussetzungen
lagen hier vor. Mit der Luftraumüberwachung der Türkei in AWACS-
Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem Militäreinsatz
beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine
drohende Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen bestanden.
(Zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilung Nr. 4 vom 21. Januar 2008) [siehe Kasten weiter unten]
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
-
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1994
aus dem Gesamtzusammenhang wehrverfassungsrechtlicher Vorschriften
des Grundgesetzes und vor dem Hintergrund der deutschen
Verfassungstradition dem Grundgesetz ein allgemeines Prinzip
entnommen, nach dem jeder Einsatz bewaffneter Streitkräfte der
konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Deutschen
Bundestags bedarf. Die in Art. 24 Abs. 2 GG enthaltene Ermächtigung
zur Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
bildet danach die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beteiligung
der Bundeswehr an Einsätzen außerhalb des Bundesgebiets, soweit diese
im Rahmen und nach den Regeln eines solchen Systems erfolgen. Der
Deutsche Bundestag muss nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der
Vertragsgrundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit
zustimmen. Die Konkretisierung des Vertrags, die Ausfüllung des mit
ihm niedergelegten Integrationsprogramms ist dagegen Aufgabe der
Bundesregierung. Die deutsche Mitwirkung an der strategischen
Gesamtausrichtung und an der Willensbildung über konkrete Einsätze
des Bündnisses liegt damit ganz überwiegend in den Händen der
Bundesregierung.
- Die bündnispolitische Gestaltungsfreiheit der Bundesregierung
schließt aber nicht die Entscheidung ein, wer innerstaatlich darüber
zu befinden hat, ob sich Soldaten der Bundeswehr an einem konkreten
Einsatz beteiligen, der im Bündnis beschlossen wurde. Wegen der
politischen Dynamik eines Bündnissystems ist es umso bedeutsamer,
dass die größer gewordene Verantwortung für den Einsatz bewaffneter
Streitkräfte in der Hand des Repräsentationsorgans des Volkes liegt.
Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt stellt insoweit ein
wesentliches Korrektiv für die Grenzen der parlamentarischen
Verantwortungsübernahme im Bereich der auswärtigen Sicherheitspolitik
dar. Der Deutsche Bundestag ist bei Einsatz bewaffneter Streitkräfte
zur grundlegenden, konstitutiven Entscheidung berufen, ihm obliegt
die Verantwortung für den bewaffneten Außeneinsatz der Bundeswehr.
Angesichts der Funktion und Bedeutung des wehrverfassungsrechtlichen
Parlamentsvorbehalts darf seine Reichweite nicht restriktiv bestimmt
werden. Vielmehr ist der Parlamentsvorbehalt im Zweifel
parlamentsfreundlich auszulegen. Wenn und soweit dem Grundgesetz eine
Zuständigkeit des Deutschen Bundestags in Form eines
wehrverfassungsrechtlichen Mitentscheidungsrechts entnommen werden
kann, besteht gerade kein eigenverantwortlicher Entscheidungsraum der
Bundesregierung. Der Parlamentsvorbehalt ist Teil des Bauprinzips der
Gewaltenteilung, nicht seine Durchbrechung.
- Ein unter dem Grundgesetz nur auf der Grundlage einer konstitutiven
Zustimmung des Deutschen Bundestags zulässiger Einsatz bewaffneter
Streitkräfte liegt vor, wenn deutsche Soldaten in bewaffnete
Unternehmungen einbezogen sind. Für den wehrverfassungsrechtlichen
Parlamentsvorbehalt kommt es nicht darauf an, ob bewaffnete
Auseinandersetzungen sich schon im Sinne eines Kampfgeschehens
verwirklicht haben, sondern darauf, ob nach dem jeweiligen
Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen
Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Die bloße Möglichkeit,
dass es bei einem Einsatz zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt,
reicht hierfür nicht aus. Erst die qualifizierte Erwartung einer
Einbeziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen führt zur
parlamentarischen Zustimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes
deutscher Soldaten. Hierfür bedarf es zum einen hinreichender
greifbarer tatsächlicher Anhaltspunkte, dass ein Einsatz nach seinem
Zweck, den konkreten politischen und militärischen Umständen sowie
den Einsatzbefugnissen in die Anwendung von Waffengewalt münden kann.
Zum anderen bedarf es einer besonderen Nähe der Anwendung von
Waffengewalt. Danach muss die Einbeziehung unmittelbar zu erwarten
sein. Ein Anhaltspunkt für die drohende Einbeziehung deutscher
Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen besteht, wenn sie im
Ausland Waffen mit sich führen und ermächtigt sind, von ihnen
Gebrauch zu machen.
Die Frage, ob eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Unternehmungen besteht, ist gerichtlich voll überprüfbar. Ein vom
Bundesverfassungsgericht nicht oder nur eingeschränkt nachprüfbarer
Einschätzungs- oder Prognosespielraum ist der Bundesregierung hier
nicht eröffnet.
- Nach diesem Maßstab war die Beteiligung deutscher Soldaten an der
Luftraumüberwachung der Türkei durch die NATO vom 26. Februar bis zum
17 April 2003 ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte, der nach dem
wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt der Zustimmung des
Deutschen Bundestags bedurfte. Mit der Luftraumüberwachung der Türkei
in AWACS-Flugzeugen der NATO haben sich deutsche Soldaten an einem
Militäreinsatz beteiligt, bei dem greifbare tatsächliche
Anhaltspunkte für eine drohende Verstrickung in bewaffnete
Auseinandersetzungen bestanden. Die eingesetzten AWACS-
Aufklärungsflugzeuge waren Teil eines Systems konkreter militärischer
Schutzmaßnahmen gegen einen befürchteten Angriff auf das
Bündnisgebiet der NATO. Die Überwachung des türkischen Luftraums
hatte von Beginn an einen spezifischen Bezug zu einer aufgrund
konkreter Umstände für möglich gehaltenen militärischen
Auseinandersetzung mit dem Irak. Auf eine solche Auseinandersetzung
hatte sich die NATO spätestens ab dem 18. März 2003 ernsthaft
eingestellt, weil der Beginn der Kampfhandlungen im Irak allgemein
erwartet wurde. Es bestand ersichtlich mehr als eine lediglich
abstrakte Möglichkeit bewaffneter Auseinandersetzungen. Es lagen
vielmehr greifbare tatsächliche Anhaltspunkte vor, nach denen die
Verwicklung der NATO in eine militärische Auseinandersetzung zu
erwarten war.
Eine Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen war auch unmittelbar zu erwarten. Spätestens mit
den aufgrund der Lageverschlechterung erweiterten Einsatzregeln hing
die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete
Auseinandersetzungen nur noch davon ab, ob und wann der Irak einen
Angriff auf die Türkei unternehmen würde.
Quelle: Website des Bundesverfassungsgerichts; www.bundesverfassungsgericht.de
Aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Januar 2008
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 4/2008 vom 21. Januar 2008
2 BvE 1/03
Mündliche Verhandlung über den Hauptsacheantrag der FDP-Fraktion zum Einsatz deutscher Soldaten in AWACS-Flugzeugen über der Türkei
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts verhandelt am Dienstag, 12. Februar 2008, 10:00 Uhr, im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts, Schloßbezirk 3, 76131 Karlsruhe
den Antrag der Fraktion der FDP zur Frage, ob der Einsatz deutscher
Soldaten in AWACS-Flugzeugen der NATO zur Luftraumüberwachung über dem
Hoheitsgebiet der Türkei im Frühjahr 2003 der Zustimmung des Deutschen
Bundestages bedurfte.
Die Verhandlungsgliederung finden Sie im Anhang an diese
Pressemitteilung
Die Türkei beantragte im Februar 2003 Konsultationen der Mitglieder der
NATO nach Art. 4 des NATO-Vertrages. Auf der Grundlage der nachfolgend
durchgeführten Konsultationen und Planungen ermächtigte der
Verteidigungsplanungsausschuss der NATO am 19. Februar 2003 die
militärischen Behörden des Bündnisses, NATO-AWACS-Flugzeuge und Systeme
zur Abwehr von Raketenangriffen sowie Angriffen mit chemischen und
biologischen Waffen in der Türkei zu stationieren. Daraufhin wurden
zunächst zwei und etwa drei Wochen später nochmals zwei
AWACS-Flugzeuge der NATO von ihrem Standort in Geilenkirchen auf den
Luftwaffenstützpunkt Konya in der Türkei verlegt. Die vier Maschinen
wurden in der Zeit vom 26. Februar 2003 bzw. 18. März 2003 bis zum 17.
April 2003 im türkischen Luftraum zu Überwachungszwecken eingesetzt.
Bei den eingesetzten AWACS-Flugzeugen handelt es sich um ein
luftgestütztes Warn- und Überwachungssystem zur Früherkennung von
Flugzeugen oder anderen fliegenden Objekten. Das System leistet
Kontroll- und Führungsfunktionen und dient der Leitung von
Jagdflugzeugen, wobei die AWACS-Flugzeuge selbst nicht mit Waffen
ausgestattet sind. Die Besatzungen bestehen aus Angehörigen der
Streitkräfte von zwölf NATO-Mitgliedern. Bei etwa einem Drittel der
Besatzungsmitglieder handelt es sich um Soldaten der Bundeswehr.
Im März 2003 teilte der Vorsitzende der FDP-Fraktion dem Bundeskanzler
mit, dass nach Überzeugung der Fraktion die Bundesregierung
verpflichtet sei, für die Beteiligung deutscher Soldaten an den
AWACS-Einsätzen über der Türkei die Zustimmung des Deutschen
Bundestages zu beantragen. Zumindest müsse die Bundesregierung darauf
vorbereitet sein, einen solchen Antrag im Falle eines bewaffneten
Konflikts unverzüglich zu beschließen und dem Deutschen Bundestag zur
Abstimmung vorzulegen. Die Bundesregierung lehnte es ab, die Zustimmung
des Deutschen Bundestages einzuholen. Zur Begründung führte sie an,
dass die NATO-AWACS-Flugzeuge über dem Territorium der Türkei nur
Routineflüge durchführten. Ihre ausschließliche Aufgabe sei die strikt
defensive Luftraumüberwachung über der Türkei. Sie leisteten keinerlei
Unterstützung für Einsätze im oder gegen den Irak.
Nachdem in den frühen Morgenstunden des 20. März 2003 der bewaffnete
Konflikt im Irak begonnen hatte, brachten Abgeordnete der FDP sowie die
FDP-Fraktion am selben Tag in der Sitzung des Deutschen Bundestages
einen Entschließungsantrag ein. Hiernach sollte der Deutsche Bundestag
die Bundesregierung auffordern, der Verpflichtung durch das Grundgesetz
nachzukommen und die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages
für die Beteiligung deutscher Soldaten an den AWACS-Einsätzen über der
Türkei unverzüglich zu beantragen. Der Antrag erreichte nicht die
erforderliche Mehrheit.
Einen Antrag der FDP-Fraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung,
mit der sie erreichen wollte, dass die deutsche Beteiligung an den
AWACS-Einsätzen in der Türkei nur auf der Grundlage eines
Bundestagsbeschlusses aufrecht erhalten werden dürfe, lehnte der Zweite
Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 25. März 2003 ab.
(siehe Pressemitteilung Nr. 26/2003 vom 25. März 2003).
Mit ihrem Hauptsacheantrag begehrt die Antragstellerin die
Feststellung, dass die Bundesregierung, indem sie für den Einsatz
deutscher Soldaten bei Maßnahmen der Luftüberwachung zum Schutz der
Türkei nicht die Zustimmung des Deutschen Bundestages eingeholt hat,
dessen Recht verletzt hat. Es handele sich um einen Einsatz, der der
parlamentarischen Zustimmung bedürfe. Der Einsatz der AWACS-Flugzeuge
in der Türkei stelle keinesfalls eine reine Routinemaßnahme wie die
Überwachung einer Grenze in Friedenszeiten dar. Die Bitte der Türkei um
Schutzmaßnahmen der NATO beweise vielmehr, dass dieser Einsatz
militärische Bedeutung in einem bewaffneten Konflikt habe und Schutz
vor einer konkreten militärischen Bedrohung gewähren solle. Eine für
das Staatswesen so wesentliche Entscheidung wie die Entfaltung
militärischen Machtpotenzials durch Einsatz von oder Drohung mit
bewaffneter Gewalt dürfe nicht allein der Exekutive überantwortet
werden. Dies folge auch aus dem Gebot, für die beteiligten deutschen
Soldaten Rechtssicherheit zu gewährleisten und ihnen politische
Rückendeckung zu geben.
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