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Wehrpflicht in Nöten

Eine Analyse des Friedens- und Konfliktforschers Prof. Dr. Berthold Meyer

In einer grundlegenden Analyse über die gegenwärtige Praxis der Wehrpflicht sowie über die anstehende Reform der Bundeswehr plädiert Berthold Meyer (Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, HSFK) für die Abschaffung der Wehrpflicht und schlägt als Alternative freiwillige Dienste vor. Die Argumentation geht vom Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Januar 2000 aus, wonach der "vollständige Ausschluss von Frauen vom Dienst mit der Waffe" nach Art. 12a,4 GG mit der Forderung nach Gleichbehandlung von Männern und Frauen nicht vereinbar sei (Meyer begrüßt das Urteil), wendet sich aber gegen Scharpings Behauptung, eine Öffnung des (freiwilligen) Waffendienstes für Frauen müsse keinesfalls ein Ende der allgemeinen Wehrpflicht für Männer nach sich ziehen. Im Anschluss an einige Grundüberlegungen zur neuen Sicherheitslage (keine Bedrohung, kein Anlass zur Landesverteidigung im alten Umfang) kommt Meyer dann auf die entscheidende Frage, wie es denn dann mit der Wehrpflicht überhaupt weiter gehen könne. Wir dokumentieren diesen Teil seiner Analyse mit leichten Kürzungen im Wortlaut:

"... Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Juni 1994 kann die Bundeswehr dem Verfassungsauftrag, dem Frieden der Welt zu dienen, im Rahmen der UNO, der OSZE, der Nato oder der WEU auch durch die Teilnahme an internationalen friedensschaffenden und -sichernden Maßnahmen weit außerhalb der deutschen Grenzen nachkommen. Dass dies nicht nur grundsätzlich gilt, sondern inzwischen auch dem Truppenalltag entspricht, belegen zahlreiche Einsätze bis hin zur Beteiligung am Nato-Luftkrieg gegen Jugoslawien und an der daraufhin eingesetzten Kfor-Friedenstruppe in Kosovo.

Um auf solche Anforderungen vorbereitet zu sein, hat das Bundesverteidigungsministerium die Bundeswehr 1994 auf eine komplizierte Weise aufgegliedert in Hauptverteidigungskräfte, die für die höchst unwahrscheinliche Aufgabe der Landesverteidigung bereit stehen, und in Krisenreaktionskräfte für internationale Einsätze. Um dabei einer Aufspaltung der Bundeswehr in eine Zwei-Klassen-Armee entgegenzuwirken, werden Wehrpflichtige grundsätzlich beiden Bereichen zugewiesen. Allerdings gibt es bei der Dauer des Wehrdienstes wie auch bei der Besoldung je nach Aufgabenstellung gravierende Unterschiede. So dauert der Grundwehrdienst der Wehrpflichtigen in den Hauptstreitkräften nur noch zehn Monate, für die der übliche Wehrsold gezahlt wird. Wer sich demgegenüber freiwillig zu den Krisenreaktionskräften meldet, kann als "längerdienender Wehrpflichtiger" bis zu 23 Monate dienen und bekommt dies angemessen vergütet. Ausschlaggebend für diese Regelung war sowohl die Tatsache, dass ein Soldat, der noch in der Grundausbildung steht oder diese gerade hinter sich gebracht hat, in einem militärischen Einsatz für sich selbst und für andere eher ein Risiko als einen Nutzen darstellt, als auch die Frage, ob jemand dazu gezwungen werden darf, sein Leben für eine andere Aufgabe als die Landesverteidigung einzusetzen. Sie ist gleichermaßen eine Rechtsfrage wie auch eine ethische, denn sie berührt die Verantwortung der Regierung für die ihr anvertrauten Bürger: Um deren Gesamtheit zu schützen, kann es unter Umständen im wörtlichen Sinne notwendig werden, denen, die diesen Schutz zu leisten haben, das Äußerste abzuverlangen. Aber der Staat darf niemanden zwingen, für das Ziel, irgendwo auf der Welt militärisch einzugreifen, und sei es nur als Hilfeleistung gedacht, sein Leben zu riskieren.

Die Folge: Begründungsnotstand für die Wehrpflicht.

Angesichts der veränderten Lage ermahnte der damalige Bundespräsident Roman Herzog die Sicherheitspolitiker auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr 1995:
"Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage.
Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können. Gesellschaftspolitische, historische, finanzielle und streitkräfteinterne Argumente . . . werden im Gespräch mit dem Bürger nie die alleinige Basis für Konsens sein können. Wehrpflicht glaubwürdig zu erhalten heißt also zu erklären, weshalb wir sie trotz des Wegfalls der unmittelbaren äußeren Bedrohung immer noch benötigen."

Eine solche Begründung fällt den Sicherheitspolitikern offenbar schwer, denn die meisten ihrer Argumente orientieren sich immer noch an den heißen und kalten Kriegsbildern der Vergangenheit. Dabei sollte der Begründung nicht nur ein realitätsnahes Bedrohungsbild zu Grunde liegen, sondern sie muss auch friedensethisch überzeugen, um dem Anspruch des Grundgesetzes zu genügen. Auf Grund dessen Orientierung an der Menschenwürde fordert die katholische Kommission Justitia et Pax ähnlich wie Herzog als erstes Kriterium für die Wehrform, sie solle mit möglichst wenig Eingriffen in die Grundrechte auskommen. Dies gelte sowohl für die Rekrutierung der Soldaten als auch für die Gestaltung des militärischen Lebens. Weitere Kriterien sind aus dieser Sicht:
  • die Suffizienz, d. h. die Ausrichtung an dem für die Friedensbewahrung und gegebenenfalls Verteidigung notwendigen Minimum,
  • damit verwandt die Aussicht auf möglichst große militärische Zurückhaltung, was in anderen Konzepten als Angriffsunfähigkeit bezeichnet wird,
  • darüber hinaus die gesellschaftliche Integration der Streitkräfte,
  • und schließlich die Wehrgerechtigkeit, wobei man unter Einschluss des Zivildienstes als der von der Wehrpflicht abhängigen Dienstverpflichtung besser von Dienstgerechtigkeit sprechen sollte.
. . .

Rekrutierungsbedarf

Die Befürworter der Wehrpflicht halten es für erforderlich, über ein umfassendes Potenzial zu verfügen, aus dem für den Normalbedarf genügend gute Soldaten rekrutiert und im Verteidigungfall eine möglichst große Zahl von Reservisten schnell mobilisiert werden können. Beides war sicherheitspolitisch so lange plausibel, wie man an den Großkrieg dachte, mit dem die Bundeswehr bis 1989 rechnete. Doch die Vorbereitung auf einen solchen Krieg entspricht weder der gegenwärtigen Lage noch ist sie für die absehbare Zukunft zu erwarten. Zwar werden nach wie vor viele derer, die sich länger freiwillig verpflichten, aus dem Kreis der zunächst zum Grundwehrdienst Eingezogenen angeworben. Doch es ist sowohl unter dem Aspekt der Suffizienz wie der Effizienz fragwürdig, auf der Wehrpflicht zu bestehen, nur um bessere Rekrutierungsmöglichkeiten für intelligente Zeit- und Berufssoldaten zu behalten: Nach Angaben des Bundesministeriums der Verteidigung lag der Regenerationsbedarf für alle Laufbahnen der Unteroffiziere und Offiziere 1999 bei rund 27 000 Soldaten. Dieser sollte durch etwa 15 000 ungediente Freiwillige sowie 12 000 Erstverpflichtungen aus der Truppe gedeckt werden. Mit anderen Worten, es wurden 135 000 junge Männer zum Zwangsdienst einberufen, um 12 000 von ihnen dazu zu bringen, freiwillig und bei besserer Bezahlung länger zu bleiben. Oberstleutnant Jürgen Rose, der diese Rechnung aufgestellt hat, macht noch eine zweite auf: "Berücksichtigt man . . ., dass allein die Personalkosten für die 135 000 Wehrpflichtigen - bei jährlichen budgetwirksamen Ausgaben von circa 24 500 DM pro Mann - insgesamt 3,3075 Mrd. DM betragen, so wendet die Bundeswehr etwa 275 625 DM im Jahr für jeden einzelnen der benötigten 12 000 Freiwilligen auf, um ihn zum längerfristigen Dienst in der Armee zu bewegen."

Dabei ist nicht eingerechnet, dass ein erheblicher Teil der Offiziere und Unteroffiziere praktisch keine andere Aufgabe hat und dafür bezahlt werden muss, als die rund 90 Prozent der Wehrpflichtigen auszubilden, die dann keine weitere Verwendung in der Armee finden. Hinzuzurechnen wären außerdem die Kosten für den gesamten Zivildienst, der als Ersatzdienst wegfiele, sobald es die Wehrpflicht nicht mehr gäbe. Insofern kann Roses Schlussfolgerung nur zugestimmt werden, dass diese Form der Nachwuchsgewinnung "nicht gerade den Anschein größtmöglicher Effizienz zu erwecken" vermag.

Die Forderung nach einem großen Reservistenpotenzial ist ebenso abwegig. Sie könnte sogar als Verstoß gegen den Grundsatz der möglichst großen militärischen Zurückhaltung angesehen werden: Da alle Nachbarstaaten Verbündete oder traditionell neutral sind, werden sie über kurz oder lang fragen, gegen wen eine solche Kriegsvorbreitung gerichtet sei, oder ob hier eine überwunden geglaubte Tradition der Militarisierung der Gesellschaft wiederbelebt werden soll. Häufig wird von denjenigen, die das Argument der Mobilisierungsfähigkeit anführen, der Nachfolgestaat des früheren "potenziellen Gegners" Sowjetunion, Russland, auch weiterhin als sicherheitspolitische Gefahrenquelle genannt. Doch Militärexperten gehen mit Blick auf den Zustand der russischen Streitkräfte für einen solchen Eventualfall inzwischen von bis zu weit über einem Jahr langen Vorwarnzeiten aus. Daraus folgt zum einen, dass in einer Krisensituation Zeit genug bliebe, um auf dem Verhandlungswege die Kriegsgefahr zu minimieren. Zum anderen könnte während einer solchen Frist eine ausgesetzte Wehrpflicht zügig wieder eingeführt werden....

Veränderte Gefahrenlage

In der Einleitung zum neuen Strategischen Konzept der Nato vom April 1999 heißt es, künftig seien "komplexe neue Risiken für euro-atlantischen Frieden und Stabilität . . . einschließlich Unterdrückung, ethnischer Konflikte, wirtschaftlicher Not, des Zusammenbruchs politischer Ordnungen" zu bewältigen. Zu diesen gehörten "Ungewißheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln können". Angesichts dieser neuen Risiken muss danach gefagt werden, welchen von ihnen überhaupt sinnvoll mit militärischen Mitteln begegnet werden kann und ob dies gegebenenfalls mit Wehrpflichtigen zu leisten ist. Lassen wir all die Fälle beiseite, in denen politische Krisenprävention oder wirtschaftliche Stabilisierung nützlicher wären als ein militärisches Eingreifen, so gibt es inzwischen einige andere, in denen die Bundeswehr auf der Grundlage von Beschlüssen der Vereinten Nationen Aufgaben der Friedensschaffung, Friedensbewahrung oder Friedenskonsolidierung wahrzunehmen hat.

Die markantesten Beispiele dafür sind die deutschen Kontingente bei den Friedenstruppen in Bosnien (Sfor) und Kosovo (Kfor). Wenn die Bundeswehr mit den dort im Einsatz befindlichen etwa 10 000 Soldaten schon an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stößt, ist es nach dem Suffizienzkriterium nicht zu verantworten, Jahr für Jahr über hunderttausend junge Menschen in den Hauptverteidigungskräften für Aufgaben auszubilden, für die sie nicht gebraucht werden, und auch in großem Umfang Steuergelder hierfür aufzuwenden. Gerade in Zeiten knapper Kassen und hoher steuerlicher Lasten müssen die vorhandenen Mittel möglichst zweckdienlich eingesetzt werden. Dies spricht für eine Umstrukturierung zu Gunsten von Truppen, die für Friedenseinsätze im Auftrag der Vereinten Nationen oder der OSZE tauglich, und das heißt professionell, ausgebildet sind. . . .

Inzwischen weist überdies der Trend bei den meisten Bündnispartnern in Richtung Berufsarmee. Selbst Frankreich, in dem die Wehrpflicht eine lange Tradition hatte, hat diesen Weg eingeschlagen. Vor diesem Hintergrund zu behaupten, gerade deswegen müsse die Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflicht beibehalten, ist im Sinne der Bündnissolidarität keineswegs einleuchtend, denn kein Partner kann von den anderen mehr verlangen, als er selbst zu geben bereit ist.

Interventionsarmee?

In Diskussionen um die Militärstruktur wird häufig die Sorge geäußert, eine Berufsarmee könne leichter zu Interventionszwecken ge- oder missbraucht werden, weil Regierungen und Parlamente das Leben von Wehrpflichtigen nur in wirklichen Notfällen riskierten. Der Krieg der Nato gegen Jugoslawien ist indes in mehrfacher Weise geeignet, dieses Argument zu relativieren: Zum einen hat er insbesondere durch die Beschränkung auf Luftangriffe wie auch durch das Hinauszögern des Einsatzes der amerikanischen Apache-Hubschrauber gezeigt, dass auch Länder mit Berufsarmeen größten Wert darauf legen, das Leben ihrer Soldaten nicht zu gefährden. Zum anderen bestätigt die breite parlamentarische Mehrheit im Bundestag für den Einsatz der Bundeswehr, dass eine Intervention, wenn sie als Nothilfemaßnahme friedensethisch begründet wird, unabhängig von der Militärstruktur durchgesetzt werden kann.

Dies lehrt, wer keine Interventionsarmee haben will, kann dies nicht durch die Beibehaltung der Wehrpflicht verhindern, sondern darf entweder keine Krisenreaktionskräfte aufstellen oder sollte Bündnissolidarität nicht dahingehend missverstehen, dass ein Verstoß gegen geltendes Völkerrecht umso weniger schwer wiegt, je mehr Länder ihn gleichzeitig begehen. Um die Bundeswehr vor Missbrauch zu schützen, müsste daher wieder dem alten Grundsatz Geltung verschafft werden, Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes nur zur Ausführung eines Sicherheitsratsbeschlusses der UN zuzulassen.

Gesellschaftliche Integration

Ein wichtiges innenpolitisches Argument lautet, Wehrpflichtige in der Armee sorgten dafür, dass diese von allen gesellschaftlichen Schichten und Kräften durchdrungen und nicht zu einem gefährlichen Sammelbecken rechtskonservativer bis rechtsextremer Kräfte werde. In diesem Argument kondensieren sich Erfahrungen aus der Weimarer Republik, in der die aus Berufssoldaten bestehende Reichswehr zu einem der Demokratie wesensfremden Staat im Staat wurde. Dass sich dies nicht wiederholen darf und dass demokratiefeindliche Kräfte nicht noch einmal über die Machtmittel des Staates verfügen dürfen, steht außer Frage. Aber welche Konsequenzen sind aus dieser Erinnerung im Jahr 51 nach Gründung der Bundesrepublik zu ziehen? Hat die Wehrpflicht diese Schlüsselfunktion bei der Einbindung der Armee in die Gesellschaft, dass sie aus diesem Grunde für unverzichtbar erklärt werden muss?

Vor der Wiedervereinigung umfasste der Anteil von Wehrdienstleistenden mehr als fünfzig Prozent der Truppe und dauerte der Grundwehrdienst 15, zeitweilig sogar 18 Monate. Nach ihrer Grundausbildung waren die Wehrdienstleistenden damals in den regulären Truppendienst integriert. Aber war es wirklich in erster Linie diesem Teil der Streitkräfte zu verdanken, dass die Bundeswehr demokratisch eingebunden blieb und rechtsextremistische Vorkommnisse meist sehr schnell aufgedeckt wurden?

Falls ja, wäre zu fragen, ob das in der heutigen Bundeswehr mit einem knapp unter vierzig Prozent liegenden Anteil von Wehrpflichtigen, die in zehn Monaten kaum mehr als ihre Ausbildungskompanien kennenlernen, noch geleistet werden kann. Und erst recht, ob dies bei einer absehbaren weiteren Verringerung der Streitkräfte und einer weiteren Verkürzung der Grundwehrdienstdauer noch möglich wäre....

Erheblich bedeutsamer für die zivilgesellschaftliche und demokratische Einbindung der Bundeswehr dürften bisher andere Faktoren gewesen sein, die hier nur kurz und möglicherweise unvollständig aufgezählt werden können: die parlamentarische Kontrolle einschließlich der Tätigkeit der Wehrbeauftragten; die Ausbildung der Offiziere durch zivile Lehrkräfte an den Bundeswehruniversitäten, auch wenn dort der Stellenwert des obligatorischen erziehungs- und gesellschaftlichen Anleitstudiums schon vor Jahren zurückgedrängt wurde; die Tatsache, dass die meisten derer, die sich für zwei bis fünfzehn Jahre als Zeitsoldaten verpflichtet haben, schon frühzeitig eine zivile Anschlusskarriere anstreben und sich während ihres Soldatseins schon dafür ausbilden zu lassen; das Privatleben der meisten Berufs- und Zeitsoldaten außerhalb der Kasernen einschließlich der Möglichkeit, sich dort politisch zu engagieren; sowie die Politische Bildung und Innere Führung, obwohl in diesem Bereich seit 1994 eine Entwicklung zu beobachten ist, die nicht integrationsfördernd wirkt. . . .

Vom Zwang zum Angebot

Statt Allgemeiner Wehr- oder Dienstpflicht freie Berufswahl und freiwilliges Dienstjahr: Den Folgeproblemen der Verwirklichung einer auch die Frauen einbeziehenden Wehr- oder Dienstgerechtigkeit kann man nur entgehen, indem man auf jede Form des Zwangsdienstes verzichtet und dem in Art. 12, 1 GG garantierten Recht auf freie Berufswahl uneingeschränkt Geltung verschafft.

Ich plädiere daher dafür, die allgemeine Wehrpflicht auf mittlere Sicht aufzuheben und sie kurzfristig erst einmal auszusetzen. So wie Polizei und Bundesgrenzschutz für ihren Bedarf den Arbeitsmarkt abschöpfen, sollte dies künftig auch die Bundeswehr tun. Und weil es ab diesem Zeitpunkt keinen zivilen Ersatzdienst mehr gibt, müssen es dann die Sozial- und Gesundheitsdienste ebenfalls.

Spätestens bei dieser Schlussfolgerung taucht die Frage auf, was aus dem Gesundheitswesen und anderen Bereichen der Sozialarbeit wie der Altenpflege wird, wenn es keine Zivis mehr gibt. Befürworter von Pflichtdiensten bezweifeln, ob für alle gegenwärtig von Zivis geleisteten Dienste professioneller Ersatz beschafft werden kann, oder sie befürchten, dass dies nur zu einem Preis möglich wäre, der vom Staat oder der Gesellschaft nicht aufgebracht werden könne. Modellrechnungen, mit denen die Folgen des Wegfalls des Zivildienstes erfasst wurden, zeigen, dass rein rechnerisch etwa drei Zivildienstleistende durch zwei Hauptamtliche ersetzt zu werden bräuchten, um im Sozial- und Gesundheitswesen keine Lücken aufkommen zu lassen, also 138 000 Zivis durch 92 000 Hauptamtliche. Damit wäre ein bemerkenswerter Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten. Dass dies auch von der Kostenseite her aufgeht, zeigt eine Berechnung von Peter Tobiassen. . . .

Manche Anhänger der Wehrpflicht wie der allgemeinen Dienstpflicht tragen allerdings auch plausible und gute Gründe dafür vor, jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich für ein Jahr in einem Dienst für die Gesellschaft zu engagieren. Diese reichen von den Chancen, Einblicke in Lebensbereiche zu nehmen, mit denen man sonst nicht in Berührung käme, über die Entwicklung von sozialer Kompetenz bis hin zum Nutzen für das spätere Berufsleben.

Dies alles bräuchte weder dem Einzelnen noch der Gesellschaft verloren gehen, wenn es statt auf Zwang auf freiwilliger Entscheidung beruhte. Daher sollte die Aufhebung der Zwangsdienste mit der Einführung eines Anreizsystems für die freiwillige Übernahme von öffentlichen Aufgaben einher gehen.

Wie könnte dieses aussehen? Statt der Einberufung der jungen Männer zum Wehr- oder Zivildienst sollten alle jungen Menschen ermuntert werden, ein Jahr lang in einem freiwilligen sozialen Dienst tätig zu werden. Es sollte möglich sein, ein solches Dienstjahr bei sämtlichen Formen und Trägern von Diensten, an denen ein öffentliches Interesse besteht, von der Bundeswehr bis zum Kindergarten, von der Feuerwehr bis zum Entwicklungsdienst, von der Altenpflege bis zum Umweltschutz, von der Polizei bis zum Katastrophenschutz wie auch bei internationalen Organisationen abzuleisten. Allen jungen Menschen wird angeboten, nach Abschluss ihrer allgemeinbildenden Schule, frühestens mit 18 Jahren, für ein Jahr in eine Diensteinrichtung der eigenen Wahl einzutreten. Männer und Frauen sind dabei gleichgestellt, was bedeutet, dass Frauen uneingeschränkt in den Streitkräften Dienst tun können. . . .

  • Die Attraktivität dieses Dienstjahres sollte darin liegen, dass es quasi als Berufsfindungsjahr für eine breite Palette von Berufen ausgestaltet wird, die im weitesten, aber nicht unbedingt im arbeitsrechtlichen Sinne als öffentliche Dienstleistungen anzusehen sind.
  • Alle, die einen solchen Dienst ableisten, erhalten während dieses Jahres eine Vergütung, die der Eingangsstufe der Ausbildungsvergütung im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland entspricht. . . .
  • Alle, die einen solchen Dienst abgeleistet haben, erhalten einen Bonus bei der Zulassung zu weiterqualifizierenden Ausbildungswegen wie auch bei der Berechnung der Altersrente.

Quelle: HSFK
Die Frankfurter Rundschau druckte die Analyse in ihrem Dokumentationsteil am 16.05.2000 ab

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