Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Allgemeine Wehrpflicht abschaffen

Von Michael Behrendt und Ralf Siemens

Nachfolgender Beitrag stammt aus der Kampagne gegen die Wehrpflicht (Berlin) und ist schon etwas älter. Die Argumentation passt aber auch auf die aktuelle Diskussion.

Allgemeine Wehrpflicht?

Die Entscheidung Frankreichs, bis zum Jahr 2002 auf die Wehrpflicht zu verzichten, hat die Bundesregierung kalt erwischt. Die Debatte um die Wehrpflicht ist in der BRD erneut entbrannt. Das von der Bundesregierung angeführte Argument des deutschen Sonderweges, Kritikern des Militarisierungskurses der bundesdeutschen Außenpolitik entgegengehalten, wendet sich nun gegen sie selbst. Denn Großbritannien, Kanada, die USA, Belgien, die Niederlande und nun Frankreich haben sich für Streitkräfte entschieden, die sich allein auf Freiwillige abstützen.

In keinem anderen Staat wird die Diskussion um die Wehrpflicht so dogmatisch geführt wie hierzulande. Die Wehrpflicht habe sich bewährt, sie sichere die Verantwortung des einzelnen männlichen Bürgers für die Sicherheit des Landes, sie sei eine demokratische Errungenschaft und sie sei letztlich unantastbar. Und, so ist auch von kritischer Seite zu vernehmen, erst die Wehrpflicht garantiere eine gesellschaftliche Kontrolle der Streitkräfte.

Die Bundeswehr ist bereits seit Jahren eine Freiwilligenarmee mit Wehrpflichtigenanhang. Nur vier von zehn Soldaten sind Grundwehrdienstleistende. Gerade in den für Interventionen vorgesehenen "Krisenreaktionskräften" sind ausschließlich längerdienende Soldaten rekrutiert. Ein Spiegelbild der Gesellschaft repräsentiert sich ohnehin nicht (mehr) in den Streitkräften. Wehrpflichtige mit militärkritischer Einstellung verweigern den Kriegsdienst mit der Waffe; überwiegend Abiturienten und Söhne aus bildungspriviligierten Schichten.

160.569 Wehrpflichtige haben 1995 einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Ein Rekordjahr, das die schwindende Akzeptanz des Wehrdienstes belegt. Etwa 30 % eines Musterungsjahrganges leisten mittlerweile einen Ersatzdienst. Umfragen zufolge wird die Wehrpflicht nur noch unter denen mehrheitlich bejaht, die aus dem Wehrdienstalter selbst herausgewachsen sind. Eklatant ist die Wehrungerechtigkeit und die Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots, daß der Wehrdienst die Regel und die Ableistung von Ersatzdiensten die Ausnahme sein müsse. Gegenwärtig leisten etwa 150.000 Männer auf rund 172.000 eingerichteten Planstellen ihren Zivildienst. Ihnen stehen 155.000 Grundwehrdienstleistende gegenüber. Insgesamt haben 1995 etwa 300.000 Männer einen Dienst im Rahmen der Wehrpflicht geleistet. Bei Jahrgangsstärken von jeweils um die 400.000 Wehrpflichtigen wird deutlich, daß mehrere Zehntausend junge Männer zu keinem Dienst herangezogen werden können.

Bundesweit verweigern jährlich mehrere hundert Männer jeglichen Kriegsdienst. Auch der Zivildienst ist im Rahmen der Wehrpflicht und der zivil-militärischen Planung ein Kriegsdienst, nur ohne Waffen. Das Grundgesetz läßt nur die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe zu. Wer als Totalverweigerer jeden Kriegsdienst konsequent verweigert, kann mit bis zu 5 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Derart drakonische Strafen lassen sich zur Zeit jedoch nicht umsetzen. Der Mut zum Zivilen Ungehorsam wird zur Zeit in der Regel mit einer Vorstrafe zur Bewährung geahndet.

Aus politischem Munde ist zu erfahren, daß die Wehrpflicht unantastbar sei. Tatsächlich aber wird die Würde des Menschen durch die Wehrpflicht massiv angetastet und verletzt. Eingezwängt in ein strikt hierarchisch strukturiertes Militärsystem bleibt dem einzelnen Wehrpflichtigen nur das Ausführen von Befehlen. Er wird in die Rolle eines Objektes militärischer Gewalt verwiesen, die von ihm Todes- und Tötungsbereitschaft verlangt. Handelt er hingegen als eigenständiges Subjekt, sich selbst und nicht einem Vorgesetzten gegenüber verantwortlich, wird er mit disziplinarischen und strafrechtlichen Maßnahmen verfolgt.

Der Verfassungsrechtler Dr. Manfred Baldus kommt in einem Gutachten vom April 1995 zu dem Ergebnis, daß die Wehrpflicht verfassungswidrig ist. Die staatlichen Eingriffe in die Grundrechte der Wehrpflichtigen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit dürften nur dann erfolgen, wenn nur eine Wehrpflichtarmee die Landesverteidigung gewährleisten könne. Da aber eine militärische Bedrohung bundesdeutschen Gebietes nicht festzustellen sei, ist die Wehrpflicht nicht mehr notwendig und daher verfassungswidrig. Einem Antrag auf Aussetzung eines Strafverfahrens gegen einen Totalverweigerer vor dem Amtsgericht Potsdam, der sich auf diese Argumentation stützt, ist im Februar 1996 stattgegeben worden. Das Gericht prüft, ob es eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht einholt.

Ein Ausweg aus dem Dilemma der Wehrungerechtigkeit scheint für konservative Politiker die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht unter Einbeziehung von Frauen zu sein. Eine Dienstpflicht, vor allem aus den Reihen der CDU/CSU gefordert, stößt aufgrund ihres Zwangscharakters auf verfassungs- und völkerrechtliche Schranken. Ein Hauptmotiv für die Beibehaltung der Wehrpflicht und für die Forderung nach Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht ist der obrigkeitsstaatlichen Tradition Deutschlands entnommen: der einzelne Bürger habe dem Staat zu dienen. Eine freiheitlich organisierte Gesellschaftsordnung kann aber nur von der umgekehrten Maxime ausgehen.

Auch der verwaltungstechnische Aufwand zur Erfassung und Aushebung von zusätzlich etwa 320.000 Frauen pro Jahrgang würde erhebliche finanzielle Mittel erfordern. Ärztliche Eignungsuntersuchungen und die Bearbeitung von Dienstausnahmen und anderer Regelungen verlangen zusätzliches Verwaltungspersonal unterschiedlichster Qualifikationen. Eine neue Sparte der Eingriffsverwaltung müßte geschaffen werden, die, so der Regierungsdirektor und langjährige Kreiswehrersatzamtsleiter Dr. W. Steinlechner, mit zusätzlich etwa 3.000 Dienstposten aufzublähen wäre. Insgesamt würden für die Bundesländer zusätzliche Kosten in Höhe von ca. 21 Milliarden DM entstehen. Ökonomisch sinnvoller und demokratisch geboten ist es, die knapp 300.000 fehlenden Arbeitsplätze im sozialen Bereich statt mit Zwangsverpflichteten endlich mit entsprechend fachlich ausgebildetem Personal zu besetzen.

Nach Abschaffung der Wehrpflicht und Verhinderung neuer Pflichtdienste verbliebe eine Freiwilligenarmee mit einem hohen Anteil an Berufssoldaten. Bis zu ihrem vollständigen Abbau muß dann die Bundeswehr grundlegend reformiert werden: hoher Anteil kurz dienender Soldaten, Aufhebung der strikten Trennung der Dienstgradgruppen, Ausweitung der Einstellungsvoraussetzungen auf die Prüfung politischer und demokratischer Kompetenzen, berufliche Ausbildung im zivilen Bereich, Öffnung der Bundeswehr gegenüber zivilen Kontrollinstanzen, Umbau der Bundeswehr zur interventionsunfähigen Armee.

Die Forderung kann nur lauten: ersatzlose Abschaffung der Wehrpflicht. Eine einfache Mehrheit im Bundestag genügt, um diese Forderung umzusetzen.

Zu weiteren Artikeln, Dokumenten und Berichten zum Thema Bundeswehr auf der
Bundeswehr-Seite

Zur Aktuell-Seite

Zurück zur Homepage