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Kontinuität oder Neuanfang? Jan van Aken: "Krieg ist nie unausweichlich. Es gibt immer eine Alternative"

Debatte über die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik im Bundestag

Am 10. November 2009 fand die erste Sitzung des im September neu gewählten Bundestags nach der Regierungsbildung statt. Traditionell gab die wieder gewählte Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung ab, die sodann in einer Generaldebatte diskutiert wurde. Sowohl die Regierungserklärung als auch die anschließende Generalbatte drehte sich zum größten Teil um innen-, wirtschafts- und sozialpolitische Themen. Außen- und sicherheitspolitische Fragen spielten demgegenüber eine sehr geringe Rolle.

Aus diesem Grund werden wir im Folgenden auch nicht die ganze Debatte dokumentieren, sondern wir beschränken uns auf einschlägige Auszüge der Debattenbeiträge. Wenn also der erste Debattenredner, der frühere Außenminister und jetzige SPD-Fraktionsführer Frank-Walter Steinmeier, in der nachfolgenden Dokumentation gar nicht vorkommt, dann nicht deshalb, weil er nicht geredet hätte,sondern weil er mit keinem Wort auf die Außenpolitik eingegangen ist - die FDP-Abgeordnete Birgit Homburger wies in ihrer Rede süffisant auf diesen doch erstaunlichen Sachverhalt hin. Auch Jürgen Trittin, der als Spitzenredner für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprach, sparte die Außen- und Sicherheitspolitik vollständig aus.


Hier geht es zum vollständigen Protokoll der BT-Sitzung vom 10. November 2009: http://www.bundestag.de/dokumente/protokolle/plenarprotokolle/17003.pdf

Auszüge aus Debattenbeiträgen, die sich mit außen- und sicherheitspolitischen Fragen beschäftigten:

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

(...) Möglich wurde der 9. November 1989 aber auch noch durch etwas anderes: durch ein Eintreten der transatlantischen, der westlichen Wertegemeinschaft - Europäische Union, NATO - für die Einheit und Freiheit unseres Landes. So wie es diese Wertegemeinschaften waren, die vor 20 Jahren mit zum Ende des Kalten Krieges beigetragen haben, so sind es auch heute Bündnisse und Wertegemeinschaften, die uns die Herausforderungen unserer Zeit meistern lassen. Die Herausforderungen und Aufgaben sind seit 1989 andere geworden. Die Zahl unserer Partner ist viel größer geworden. Aus der Bedrohung des Kalten Krieges sind asymmetrische Bedrohungen geworden. Doch der Weg, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, der ist derselbe geblieben. Es ist und bleibt ein Weg der Partnerschaften und Bündnisse auf Grundlage unserer Werte, mit dem wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können. Niemand schafft es allein. Gemeinsam können wir alles schaffen.

(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)

Das gilt für uns in Europa. Der Vertrag von Lissabon tritt am 1. Dezember 2009 in Kraft. Er verbessert die Möglichkeit, dass die Europäische Union eine wirkliche Union der Bürgerinnen und Bürger wird und weltweit ihre Interessen entschiedener verteidigen und vertreten kann. Das gilt darüber hinaus im transatlantischen Verhältnis: Auch in Zukunft wird die NATO der bedeutendste Sicherheitsanker Deutschlands sein. Gleichzeitig streben wir mit Russland einen breiten sicherheitspolitischen Dialog an, nicht nur, aber gerade auch im NATO-Russland-Rat. Russland und Europa sind aufeinander angewiesen.

Wir teilen die Vision Präsident Obamas für eine nuklearwaffenfreie Welt, und wir setzen uns dafür ein, dass das neue strategische Konzept, mit dem die NATO auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft ausgerichtet wird, auch das Thema Abrüstung auf die Tagesordnung setzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Verantwortung in Bündnissen zu übernehmen, das gilt auch bei den E3+3-Gesprächen zum iranischen Nuklearprogramm, bei unseren Bemühungen um den Nahostfriedensprozess wie auch bei unserem Engagement für ein stabiles Afghanistan.

Ohne Zweifel: Der Kampfeinsatz in Afghanistan fordert uns in ganz besonderer Weise. Er muss in eine neue Phase geführt werden. Mit unseren Bündnispartnern, mit den Ländern der Region und mit der neuen afghanischen Regierung werden wir deshalb auf der geplanten UN-Konferenz Anfang kommenden Jahres besprechen, wie und mit welchen konkreten Schritten wir diese Phase neu gestalten können. Wir wollen eine Übergabestrategie in Verantwortung festlegen. Wir erwarten, dass die afghanische Regierung konsequent auf gute Regierungsführung, auf den Aufbau der Sicherheitskräfte und auf wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes hinarbeitet.

(Alexander Ulrich (DIE LINKE): Wie wär's mal mit demokratischen Wahlen? - Gegenruf des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU): Da sind Sie ja Spezialisten!)

Ich kann über unseren Einsatz in Afghanistan nicht sprechen, ohne an dieser Stelle unseren Dank an alle Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer auszusprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben zum Teil sehr gefährliche Aufgaben in Afghanistan zu meistern. Ich kann hier auch nicht über Deutschlands Einsatz in Afghanistan sprechen, ohne besonders an jene zu denken, die ihr Leben lassen mussten oder verwundet wurden. Wir werden ihren Einsatz niemals vergessen.

Meine Damen und Herren, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wie auch in anderen Regionen unserer Erde ist hart. Er verlangt der Bundeswehr viel ab. Aber unsere Bundeswehr ist leistungsstark. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft verankert. Das hat sich mehr als bewährt.

Die neue Bundesregierung hat entschieden, die Wehrpflicht auf sechs Monate zu verkürzen.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Blödsinn!)

Sie hat nicht beschlossen, die Wehrpflicht abzuschaffen - aus guten Gründen nicht. Jetzt geht es darum, die sechs Monate Wehrpflicht so effizient wie möglich auszugestalten, damit diese Verkürzung kein Einstieg in den Ausstieg aus der Wehrpflicht wird.

(Beifall bei der CDU/CSU - Alexander Ulrich (DIE LINKE): Macht überhaupt keinen Sinn mehr!)

Damit das gelingt, wollen wir natürlich auch Maßnahmen ergreifen, die dann zu mehr Wehrgerechtigkeit als heute führen. Dazu sind wir entschlossen.

Wir stehen auch weiter zu dem Konzept der vernetzten Sicherheit, also der Vernetzung von militärischen und zivilen Maßnahmen. Deshalb sage ich auch ganz deutlich: Für die neue Bundesregierung ist Entwicklungszusammenarbeit keine Nebensache, sondern eine Hauptsache.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Niebel-Sache! - Alexander Ulrich (DIE LINKE): Die FDP wollte das Ministerium doch abschaffen! - Sigmar Gabriel (SPD): Dann wird der Niebel jetzt wieder rausgeschmissen!)

Deshalb bekräftige ich heute vor diesem Hohen Hause ausdrücklich: Das Erreichen der Millenniumsziele für Afrika ist und bleibt uns Verpflichtung. Wir halten am Ziel fest, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungspolitik bereitzustellen. Auch das ist eine moralische Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




Birgit Homburger (FDP):

(...) In der Außenpolitik haben wir viele Kontinuitätslinien.

(Zurufe von der SPD: Das ist doch keine Geschichtsunterrichtsstunde! - Kommen Sie doch einmal zum Thema!)

Aber es gibt auch einige neue Akzente, die gesetzt werden. Es ist heute schon deutlich geworden, dass die Abrüstungspolitik für diese Regierung eine zentrale Rolle spielt.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wann ist das denn deutlich geworden? - Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha! Interessant!)

Wir als Koalition unterstützen die von US-Präsident Barack Obama unterbreiteten Vorschläge für neue, weitgehende Abrüstungsinitiativen mit Nachdruck. Das schließt auch das ehrgeizige Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt mit ein. Selbst Zwischenschritte auf dem Weg dorthin stellen einen bedeutenden Zugewinn für die weltweite Sicherheit dar.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Daher werden wir uns in der NATO und auch gegenüber den USA weiterhin dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden. Das war nicht immer so klar, wie es jetzt im Koalitionsvertrag steht. Es ist gut für Deutschland, dass wir uns darauf verständigt haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Eine besondere Herausforderung in der Außenpolitik stellt der Einsatz in Afghanistan dar. Wir haben als Koalition deutlich gemacht, dass wir wissen, was dieser Einsatz gerade für unsere Soldatinnen und Soldaten bedeutet. Es geht um die Stabilisierung Afghanistans; sie ist in unserem eigenen Interesse. Aber es geht nicht nur um Stabilisierung, sondern wir wissen ganz genau, dass die Soldatinnen und Soldaten jeden Tag vor großen Herausforderungen und auch in einem Kampfeinsatz stehen. Diese Regierung hat deutlich gemacht, dass wir wissen, um was es dort geht. Ich sage an dieser Stelle: Wir sind dankbar für das, was vor Ort geleistet wird: von unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch von den Polizisten, die an der Polizeiausbildung mitwirken, und von den Entwicklungshelfern.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Uns geht es darum, zusammen mit den Partnern eine Strategie zu finden, die den Wiederaufbau in den Mittelpunkt stellt und die vor allen Dingen dafür sorgt, dass Afghanistan dauerhaft selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen kann. Deswegen werden wir die Ausbildung des Militärs, aber auch die Ausbildung der Polizei weiter verstärken. Das ist der Schlüssel dazu, dass die afghanische Regierung selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen kann. Je früher das möglich ist, desto früher gibt es eine Perspektive, den Afghanen allein die Verantwortung für dieses Land zu übertragen. Das ist unser Ziel.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Steinmeier, ich möchte an dieser Stelle sagen, dass es mich ein bisschen verwundert, dass Sie überhaupt nichts zur Außenpolitik gesagt haben. Wir hatten in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Hause die gute Tradition, dass in der Außenpolitik viel gemeinsam geht.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja! Das war aber vor Niebel!)

Die Tatsache, dass Sie, Herr Steinmeier, hierzu nichts gesagt haben, wirft die Frage auf, ob Sie, ob die SPD sich hier vom Acker stehlen will.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD - Zurufe von der SPD: Könnten Sie vielleicht auch einmal etwas zu Ihrem Koalitionsvertrag sagen? - Thema verfehlt! - Wovon reden Sie denn da?)

Der Einsatz der Bundeswehr an vielen Orten der Welt

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will mal sehen, was Sie beim Libanon-Einsatz machen!)

zeigt uns längst, dass die Bundeswehr eine Armee im Einsatz geworden ist. Deswegen war es richtig, dass wir im Koalitionsvertrag festgelegt haben, dass die Organisationsstruktur der Bundeswehr überprüft wird, und richtig war auch, dass die FDP hinsichtlich der Wehrpflicht konsequent durchgesetzt hat, dass die Grundwehrdienstzeit zum 1. Januar 2011 von neun auf sechs Monate verkürzt wird.

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wollten Sie die Wehrpflicht nicht abschaffen?)

Das ist eine Reduzierung um ein Drittel. Das bringt eine Entlastung der Wehrpflichtigen. Es zeigt deutlich, dass auch an dieser Stelle Bewegung möglich ist. (...)


Oskar Lafontaine (DIE LINKE):

(...) In Ihrer Regierungserklärung gab es eine ganz verräterische Formulierung: Ziemlich am Anfang steht, die Frage der Zukunft sei, wer sich den Zugriff - ich betone das Wort ?Zugriff? - auf Rohstoffe und Energiequellen sichere. Es geht nicht um den ?Zugriff? auf Rohstoffe und Energiequellen, es geht um die friedliche Nutzung. Angesichts der Kriege der letzten Jahre sagen wir: Wir halten es für völlig falsch, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland in imperiale Kriege zur Sicherung von Rohstoffquellen einspannen lässt. Das war der Fehler der Außenpolitik der letzten Jahre.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie reden davon, sie seien eine christlich-liberale Koalition der Mitte oder was auch immer. Wenn man das Wort "Christentum" in den Mund nimmt, dann sollte man begriffen haben, Frau Bundeskanzlerin - das ist nicht zum Lachen -, dass man alle Anstrengungen unternehmen muss, um endlich die Waffenexporte zurückzuführen. Diese sind doch die Grundlage für vieles Elend in der Welt. Warum verstehen Sie das nicht?

(Beifall bei der LINKEN)

Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf Afghanistan. Wir sind jetzt viele Jahre dort im Krieg; das haben wir immer so gesehen. Ich habe immer wieder gesagt, dass ich durchaus unterstellt habe, dass es die eine oder den anderen gab, die der Auffassung waren, dass man mit diesen Militäreinsätzen Gutes bewirken könne. Aber nach so vielen Jahren muss man doch bereit sein, wie es zum Beispiel in den Vereinigten Staaten im Falle des Irak oder jetzt in Bezug auf Afghanistan in mehreren Staaten der Welt bereits geschehen ist, zu erkennen, dass dieser Weg falsch war. Wir können diesen Krieg nicht gewinnen. Man kann die Stammesgesellschaft Afghanistans nicht zwingen, eine westliche Demokratie aufzubauen. Sie kämpfen dort gegen eine Kultur, und diesen Kampf können Sie nicht gewinnen. Begreifen Sie das doch endlich!

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb sagen wir: Es ist wirklich ein schwerer Fauxpas, dass der neue Bundesverteidigungsminister - ich sehe ihn im Moment nicht auf der Regierungsbank - gesagt hat, das Unglück von Kunduz, wie ich es nenne, sei "angemessen" gewesen. Ich sage hier für meine Fraktion: Eine Militäraktion, bei der unschuldige Zivilisten ums Leben kommen, ist niemals angemessen. Wir sollten eine solche Sprache aus diesem Parlament verbannen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sagen Ihnen: Ziehen Sie die Truppen aus Afghanistan zurück! Es wäre an der Zeit; Sie sollten nicht warten, bis die Diskussion in Amerika so weit ist, dass man den Afghanistan-Krieg beenden will.

Sie haben in Ihrer Regierungserklärung die wichtigen Aufgaben unserer Zeit verfehlt. Diese Regierung ist eine falsche Regierung zur falschen Zeit.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN - Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):

(...) Dazu gehört auch, dass wir, Deutschland, Mitverantwortung in der Welt übernehmen. Es reicht nicht, Wirtschaftsnation zu sein und Wettbewerbsfähigkeit anzustreben; man muss auch Mitverantwortung übernehmen. Manchmal besteht diese Mitverantwortung auch im militärischen Eingreifen.

Wenn wir heute unsere Söhne, unsere Töchter in Uniform in fremde Länder schicken, dann müssen wir alles tun, um dafür zu sorgen, dass sie gesund und unversehrt wieder nach Hause kommen. Wenn sie bedroht werden, dann müssen sie auch das Recht haben, sich zu wehren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich danke ganz herzlich dem Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg dafür, dass er das ganz klar gemacht hat, dass er an die jungen Leute, die in Afghanistan und anderswo in der Welt für die deutsche Freiheit eintreten, seine Botschaft ausgesandt hat: Wenn ihr unsere Freiheit verteidigt, dann könnt ihr sicher sein, dass wir auch euch nicht im Stich lassen. Diese Botschaft ist notwendig, auch im Hinblick auf die Eltern dieser Soldaten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Stabilität der Gesellschaft ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir die Kräfte dieses Landes freisetzen können. Die Keimzelle der Gesellschaft ist – ich habe es angesprochen – die Familie.


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Im Rahmen der Generalaussprache liegen nun keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.
Damit kommen wir zu den Bereichen Europa, Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik und Menschenrechte.
Als erstem Redner erteile ich das Wort für die Bundesregierung Herrn Bundesminister Dr. Guido Westerwelle.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal an das anknüpfen, was Herr Kollege Vaatz hier eben gesagt hat. Das ist eine außerordentlich kluge und vor allen Dingen bemerkenswerte Einschätzung gewesen. Denn die vielen Gäste, die wir gestern empfangen konnten, haben alle ausgedrückt, wie beeindruckt unsere befreundeten Partner in der Welt von dieser friedlichen Revolution gewesen sind. Jeder hier weiß, dass das auch viel Staatskunst verlangt hat. Jeder kennt die Rolle von Helmut Kohl, von Hans-Dietrich Genscher und – es wächst zusammen, was zusammen gehört – von Willy Brandt; er sei ausdrücklich genannt. Aber niemand darf dabei vergessen: Die wahren Helden waren diejenigen, die nicht wussten, ob auf sie geschossen wird, als sie auf die Straße gingen. Das waren die wahren Helden dieser Zeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das hat natürlich auch viel mit außenpolitischer Tradition und Kontinuität zu tun gehabt. In Wahrheit ist die Außenpolitik seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wirklich großes Inventar unserer Republik. Diese Kontinuität hat die Außenpolitik aller Regierungen vor uns – aller Regierungen – ausgezeichnet, und diese Kontinuität wird selbstverständlich auch jetzt fortgesetzt werden. Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik, sie ist interessengeleitet, aber sie ist ausdrücklich auch werteorientiert. Das ist der Kompass. Der galt früher, und der gilt auch in Zukunft.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das hat die Angst vieler Völker der Welt vor uns Deutschen genommen, das hat uns in die friedliche Völkergemeinschaft zurückgeführt. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich gleich am Anfang sagen: Wir stehen mit dieser Bundesregierung für eine Einbindung unserer Politik in die europäische Politik und in die Politik der Völkergemeinschaft. Wir wollen keine Alleingänge, sondern wir wollen gemeinsames Handeln; auch dies ist wichtig.

Ich möchte nachdrücklich sagen: Es soll jedem klar sein, dass Kontinuität nicht mit Ideenlosigkeit verwechselt werden darf. Jeder setzt seine eigenen Akzente. Ich möchte ausdrücklich hinzufügen: Das hat auch Bundesaußenminister Steinmeier getan. Da es das erste Mal ist, dass ich in diesem Hohen Hause in meinem neuen Amt sprechen darf, möchte ich mich bei ihm, gewissermaßen in Abwesenheit – ich hätte es ihm gerne persönlich gesagt –, für seine Amtsführung in den letzten Jahren sehr herzlich bedanken.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist immer so: Jeder denkt natürlich an die eigene Handschrift, an die eigenen Akzente, und es gibt Dinge, die aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregierung vielleicht noch besser gemacht werden können. Ich möchte zunächst vor allen Dingen auf die Europapolitik Bezug nehmen.

Ich habe sehr früh, lange vor der deutschen Einheit, von Hans-Dietrich Genscher ein Selbstverständnis gelernt, das mich sehr geprägt hat. Damals sagte er mir als jungem Studenten: Die Europäische Union heißt Europäische Union und nicht Westeuropäische Union. – Das ist kein selbstverständlicher, einfach so dahingesprochener Satz, sondern es ist in Wahrheit ein Auftrag an unsere Generation, zu vollenden, was andere vor uns begonnen haben – abermals seien zum Beispiel Willy Brandt und Walter Scheel genannt –, dass die tiefe Freundschaft, die wir mit unseren westlichen Nachbarn erreichen konnten – wir sprechen längst nicht mehr nur von Partnerschaft, sondern selbstverständlich von einer Freundschaft der Völker –, auch mit unseren östlichen Nachbarländern möglich wird, dass sie wächst und dass sie gedeiht.

Deswegen habe ich meine erste Antrittsreise nach Polen unternommen. Ausdrücklich habe ich als erstes Land, in das ich im Rahmen meiner Antrittsbesuche gereist bin, Polen und dort Warschau besucht. Das soll auch von mir ganz persönlich ein klares Bekenntnis sein: Wir wollen, dass die Freundschaft, die zum Beispiel im deutsch-französischen Verhältnis gewachsen ist, auch für das deutschpolnische Verhältnis selbstverständlich wird. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass die Ressentiments, die es selbstverständlich gibt – wie könnte es in Anbetracht unserer Geschichte auch anders sein? –, als Vergangenheit zurückbleiben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wie jeder von Ihnen habe ich in meiner politischen Laufbahn viele Gespräche geführt und das eine oder andere fürs Leben mitgenommen. So ist es mir wichtig, dass ich in den 90er-Jahren – schon etwas näher an der Politik stehend: im Vorstand meiner Partei, später als Generalsekretär und dann als junger Abgeordneter – noch erlebt habe, wie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher in der Europapolitik immer größten Wert darauf gelegt haben, dass Europa nicht nur ein Konzert der großen Staaten in Europa ist. In Europa gibt es keine kleinen Länder. Auch die geografisch kleinen Länder sind in Europa ganz groß, auf Augenhöhe. Respekt vor allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, das soll unsere, das wird auch meine Handschrift sein.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen ist es mir ein Anliegen gewesen – und ich werde das in dieser Woche fortsetzen –, gleich am Anfang selbstverständlich nicht nur Frankreich, unseren wunderbaren Freund und Nachbarn, zu besuchen, sondern auch die kleineren Nachbarländer, die Beneluxländer, wie sie oft genannt werden, aufzusuchen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Es gibt doch keine mehr!)

– Ich habe es doch gerade erklärt; vielleicht ertragen Sie es einfach mal. Ich glaube, dass Sie es verstehen können. Ich bitte wirklich darum. – Ich halte es deshalb für so wichtig, diese Länder zu besuchen, weil ich es nicht gut finde, wenn Länder wie beispielsweise Luxemburg, wenn Länder wie die Niederlande oder wenn Länder wie Belgien das Gefühl bekommen, gewissermaßen eingedrängt oder nicht genügend beachtet zu werden. Ich war persönlich überrascht, dass der letzte bilaterale Besuch eines deutschen Außenministers in Belgien – nicht in Brüssel/ Europa, sondern in Belgien – neun Jahre zurücklag.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unser Joschka!)

Ich glaube, es ist wichtig, dass, gerade weil Deutschland ein so großes Land ist, wir als Deutsche Wert darauf legen: In Europa wollen wir uns mit Respekt begegnen. Deswegen haben wir unsere Sprache, selbst wenn es Kontroversen gibt, so zu wählen, dass sich niemand in unseren Nachbarländern, auch nicht in Luxemburg, beleidigt und gekränkt fühlen muss.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Schließlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist es wichtig und selbstverständlich Tradition, dass alle bisherigen deutschen Regierungen das transatlantische Verhältnis als eine ganz besondere Partnerschaft angesehen haben. Wir wollen Partnerschaft mit vielen Ländern in der Welt, wir wollen uns bemühen, mit vielen Ländern in der Welt – mit ärmeren wie reicheren, mit geografisch größeren wie kleineren – gute Beziehungen zu pflegen. Aber außerhalb von Europa sind die Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur unser stärkster, sondern auch unser treuester Verbündeter. Wir stünden nicht hier mit freier Rede an diesem Platz, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika nicht dafür geradegestanden hätten, in ihrer gesamten gemeinsamen Geschichte mit uns.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie werden nicht erwarten, dass man in den ersten Tagen über alles Bilanz zieht und über alles schon eine abschließende Meinung hat. Ich habe jetzt viele Außenminister getroffen, hatte die Ehre, mit vielen Regierungschefs zu sprechen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es Sie beruhigt: Alle hatten einmal ihren ersten Tag. Dementsprechend will ich nicht den Eindruck erwecken, als sei schon alles aufgeschrieben und abschließend benannt. Ich möchte Ihnen anbieten, dass wir in den großen Fragen, die vor uns liegen – ob es um das Konzept der selbsttragenden Sicherheit in Afghanistan geht; ob es um den Iran geht; ob es darum geht, die Rede, die Bundeskanzlerin Merkel in Washington gehalten hat, in der Völkergemeinschaft politisch mehr und mehr mit Leben zu erfüllen –, gemeinsam die Politik besprechen. Es geht jetzt darum, dass wir uns diesen Herausforderungen stellen. Ich möchte Sie herzlich um Ihre Zusammenarbeit bitten. Gleichzeitig biete ich Ihnen als den Abgeordneten hier in diesem Hohen Hause, und zwar allen Fraktionen, nachdrücklich eine faire und gute Zusammenarbeit an, weil ich glaube, dass Außenpolitik vor allen Dingen eine gemeinsame Politik unseres Landes ist. Ich danke deshalb auch sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat nun der Kollege Gernot Erler für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. h. c. Gernot Erler (SPD):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kontinuität und Grundkonsens, Herr Bundesminister des Äußeren, sind in der Tat bewahrenswerte Prinzipien in der Außen- und Sicherheitspolitik – auch bei einem Regierungswechsel.

Zwischen 1998 und 2005 hat die rot-grüne Regierung wichtige Weichenstellungen getroffen. Erst aus den Balkankriegen heraus entstand eine wirkliche europäische Außen- und Sicherheitspolitik mit entsprechenden zivilen und militärischen Fähigkeiten, an deren Schaffung wir uns aktiv beteiligt haben. Als Antwort auf die Tragödie dieser Konflikte bekamen die Westbalkanstaaten 1999 auf deutsche Initiative hin zunächst den Stabilitätspakt. Im Juni 2003 erhielten sie auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki dann eine verbindliche EU-Beitrittsperspektive. Das hat sich bis heute als europäische Friedenspolitik bewährt.

Bis heute gültig ist auch die wertebezogene europäische Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003, in die auch wichtige Prinzipien, die wir erarbeitet haben, eingegangen sind, und Rot-Grün hat in Deutschland viele Initiativen für eine präventive Friedenspolitik auf den Weg gebracht: zum Beispiel mit dem ZIF, dem Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, mit dem Aufbau des zivilen Friedensdienstes, mit dem Aktionsplan für zivile Krisenprävention, mit der Aufwertung der Menschenrechtspolitik, mit der Unterstützung der Vereinten Nationen und mit der Erweiterung der Entwicklungszusammenarbeit, die wir als globale Prävention verstehen. All das hat den Wechsel von 2005 in die Große Koalition schadlos überstanden und ist in den vergangenen vier Jahren weiterentwickelt worden.

Herr Bundesaußenminister, daran anzuknüpfen, wäre in der Tat eine sinnvolle und überzeugende Kontinuitätsentscheidung. In dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP – nicht in Ihrer Rede – wird aber leider gezeigt: Sie sind im Begriff, einen Bruch mit dem bisherigen Grundkonsens zu vollziehen. Das will ich hier an fünf konkreten Punkten aufzeigen:

Erstens: Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ihre Koalition kündigt Änderungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes und die Schaffung eines Vertrauensgremiums an. Das stützt sich auf die widerlegbare Behauptung, dass bei der jetzigen Regelung eine zeitnahe und ausreichende Information des Parlaments in bestimmen Fällen nicht gesichert ist. Tatsächlich hat es dafür hier bisher nicht ein einziges Beispiel in Form eines Problems gegeben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir warnen vor einer Aufweichung oder gar Demontage der Parlamentsrechte bei bewaffneten Auslandseinsätzen. Deutschland ist mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz bisher gut gefahren. Das ist ein Teil unserer politischen Kultur geworden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen werden wir an diesem Punkt nicht nur aufmerksam sein, sondern auch kämpfen.

Zweitens. EU-Erweiterungspolitik. Ich habe eben auf die friedenspolitische Bedeutung dieser Politik hingewiesen. Im Koalitionsvertrag von 2005 hatte die CDU/CSU noch zugestimmt, Kroatien zu erwähnen und diese Perspektive ausdrücklich zu bestätigen. Ein solches Bekenntnis fehlt in auffallender Weise im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung, in dem lediglich von einer „Erweiterungspolitik mit Augenmaß“ gesprochen wird, ohne jeden Hinweis auf ein bestimmtes Land und ohne jede Bestätigung dieser wichtigen europäischen Perspektive. Das ist nicht nur eine Veränderung, die in den Balkanländern mit Sorge wahrgenommen worden ist, sondern das ist auch gefährlich. Sie tragen die volle Verantwortung für die Folgen für die Sicherheit auf dem Balkan, die sich daraus ergeben.

(Beifall bei der SPD)

Drittens: Rüstungsexporte. Herr Bundesaußenminister, Sie haben in den letzten Tagen und Wochen sehr lautstark Initiativen zur Abrüstung angekündigt. In dem konkretesten Fall, dem Abzug von amerikanischen Atomwaffen, mussten Sie teilweise schon wieder zurückrudern. Aber wir werden nicht zulassen, dass im Schutz dieses Geräuschpegels die im Vergleich mit den anderen europäischen Staaten in Deutschland besonders strengen Rüstungsexportrichtlinien lautlos verwässert werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir werden keine Ruhe geben, bis Sie erklären, was Sie mit Ihren Forderungen nach – ich zitiere – „Harmonisierung der Rüstungsexportrichtlinien innerhalb der EU“ und nach „fairen Wettbewerbsbedingungen in Europa“ meinen.

Viertens: unser Verhältnis zu Russland. Man merkt es nur, wenn man genau liest – Sie haben eben Russland überhaupt nicht erwähnt, Herr Bundesaußenminister; auch in den letzten Tagen und Wochen haben Sie es nicht genannt –: Im Koalitionsvertrag steht wenig Neues über Russland, das immerhin als wichtiger Partner eingestuft wird. Aber es gibt eine sehr auffällige Auslassung. Der Begriff „strategische Partnerschaft“ kommt nicht mehr vor.

Ich frage Sie: Was soll das bedeuten? Die EU zum Beispiel hat diesen Begriff der strategischen Partnerschaft für ihr Verhältnis mit Russland ständig benutzt. Sie machen dies in einer Zeit, in der Präsident Obama den Reset-Knopf hinsichtlich der Beziehungen zur Russischen Föderation gedrückt hat, in der er den Stolperstein Raketenabwehr ausgeräumt hat und in der er, durchaus mit unserem Beifall, mit dem russischen Präsidenten bis Dezember zu einem neuen Schritt in der atomaren Abrüstung kommen will. Daher frage ich Sie: Was soll in dieser Zeit diese erklärungsbedürftige Abstufung von deutscher Seite? Ich kann es mir nicht erklären.

Fünftens: der deutsche Einsatz in der Entwicklungspolitik. Wir haben vorhin von der Bundeskanzlerin gehört, das Thema sei nicht Nebensache, sondern Hauptsache. Das spiegelt sich nun leider weder in der Besetzung des Ministeriums noch im Koalitionsvertrag wider.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Zwar lesen wir in dem Vertrag ein Bekenntnis allgemeinster Art zu dem europäischen 0,7-Prozent-Ziel. Das wird aber sofort mit der Einschränkung verbunden, man wolle sich diesem Ziel – ich zitiere – „verantwortlich im Rahmen des Bundeshaushaltes annähern“. Zudem nennen sie kein Zeitziel. Völlig unklar bleibt auch: Was wird eigentlich mit dem gemeinsamen europäischen 0,51-Prozent-Ziel in Deutschland im Jahr 2010? Was wird mit dem 0,7-Prozent-Ziel im Jahr 2015? Nach elf Jahren Kampf für die Erhöhung der ODA-Quote in der deutschen Politik klingt das nach einem kläglichen Abgesang. Auch das werden wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich stelle summierend fest: Es ist falsch, die Entscheidungsrechte des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen einzuschränken. Es ist falsch, von der verbindlichen europäischen Perspektive für die Westbalkanstaaten abzurücken. Es ist falsch, die politischen Richtlinien für deutsche Rüstungsexporte, die strenger als in unseren Nachbarstaaten sind, aufzuweichen. Es ist falsch, die bisherige Politik der strategischen Partnerschaft mit Russland infrage zu stellen. Es ist falsch, aus den europäischen Zielen zur Erhöhung der Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit in die Unverbindlichkeit zu flüchten.

Bei all diesen Punkten verlassen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, den Grundkonsens in der Außen- und Sicherheitspolitik – nicht wir. Bei all diesen Punkten werden Sie in der Sache bei uns auf engagierten Widerstand stoßen. Aber es gilt natürlich auch: Wo immer Sie an den guten Kontinuitäten der letzten elf Jahre anzuknüpfen bereit sind, werden wir konstruktiv zusammenarbeiten können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Beginn einer neuen Legislaturperiode ist es wichtig, noch einmal auf die Grundlagen unserer Außenpolitik zu verweisen. Deutsche Außenpolitik war und ist immer dann erfolgreich, wenn sie auf engen und berechenbaren Beziehungen zu unseren Partnern in der Europäischen Union und auf einem vertrauensvollen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika beruht. Gestern haben wir den 20. Jahrestag der Öffnung der Mauer gefeiert. Dass es dazu gekommen ist, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Regierung Kohl/Genscher gegen erheblichen Widerstand vor allem von den Grünen und der SPD zum NATO-Doppelbeschluss gestanden hat.

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Dafür, wie sehr eine berechenbare und vertrauensbildende Politik in EU und NATO deutschen Interessen dient, ist dies wohl das herausragendste, aber auch das schönste Beispiel. Deshalb war es auch richtig, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer großen Rede vor dem amerikanischen Kongress noch einmal ein klares Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft und zur NATO als Eckpfeiler der deutschen Sicherheitspolitik abgelegt haben.

Ich denke, jeder von uns ist erleichtert, dass der Lissabonner Vertrag jetzt in Kraft treten kann. Es ist ein guter Vertrag. Europa wird in seiner Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit und in seiner Sichtbarkeit deutlich gestärkt. Die Rechte des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente werden deutlich verbessert. Jetzt sind die Voraussetzungen geschaffen, um die europäischen Aufgaben und globalen Herausforderungen besser bewältigen zu können.

Deutschland wird durch den Lissabonner Vertrag ein größeres Gewicht in der Europäischen Union erhalten. Das heißt aber – das hat der Außenminister vorhin unterstrichen –, dass wir noch mehr als bisher die berechtigten Interessen unserer Nachbarn und Partner berücksichtigen müssen. Deshalb begrüßen wir, dass der Außenminister gleich zu Beginn seiner Amtszeit auf Polen und die Benelux-Staaten zugegangen ist. Das war ein wichtiges und richtiges Zeichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deutschland ist immer gut gefahren, und es war immer ein Markenzeichen jeder schwarz-gelben Koalition, wenn es den kleinen und mittleren EU-Ländern mit Respekt begegnet und sie frühzeitig einbindet. Wenn immer so gehandelt worden wäre, hätte uns das beispielsweise viele Probleme bei dem europäischen Projekt der Ostseepipeline erspart.

Deutschland und Frankreich müssen auch weiterhin in der EU die entscheidende Motorrolle wahrnehmen. Das gilt für die ganze Breite der außen- und europapolitischen Themen. Dabei werden wir in den nächsten Jahren einen besonderen Schwerpunkt auf die Bereiche Bildung, Klimaschutz, Weltraum sowie Sicherheit und Verteidigung legen. Doch es geht nicht nur darum, dass Deutschland und Frankreich die europäische Integration in der Substanz – also die Wettbewerbsfähigkeit, die Energiesicherheit oder die außen- und sicherheitspolitische Rolle Europas in der Welt – voranbringen. In all diesen Bereichen muss Europa mit einer Stimme sprechen.

Auch deshalb ist es unverzichtbar, dass wir wieder deutlich den europäischen Solidargedanken stärken. Auf ihm hat die europäische Integration aufgebaut, und durch ihn ist die EU zu einem echten Erfolgsprojekt geworden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Doch die Vorgänge während der Wirtschafts- und Finanzkrise oder das jüngste Gipfeltreffen, wo das Thema Klimaschutz offenbart hat, wie weit alte und neue Mitgliedstaaten auch in ihrem Lebensgefühl noch auseinanderliegen, zeigen, wie wichtig es ist, dass wir den Solidargedanken wieder stärker ins Bewusstsein bringen und vor allem in der EU und als EU noch stärker danach handeln. Gerade Deutsche und Franzosen haben hier eine besondere Verpflichtung. Dies kann nicht allein auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs und der Ministerien geleistet werden. Deswegen halte ich es für notwendig, dass wir einen deutlich breiteren, vor allem aber kontinuierlichen gesellschaftlichen deutsch-französischen Dialog auf hoher Ebene schaffen, das heißt zwischen Parlamentariern, Vertretern der Wirtschaft, Kultur, Medien und Wissenschaft und insbesondere auch jungen Menschen aus beiden Ländern.

In der Frage künftiger Erweiterungen der EU stehen wir als Parlamentarier vor neuen Aufgaben. Durch die Begleitgesetzgebung haben wir das Recht und die Pflicht zu einer Stellungnahme, ehe der deutsche Außenminister im Kreis seiner EU-Kollegen über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen entscheidet. Die schlechten Erfahrungen, die wir heute noch mit dem verfrühten Beitritt Bulgariens und Rumäniens machen müssen, sind eine deutliche Ermahnung dafür, dass wir uns mit Blick auf künftige Beitritte schon vor Verhandlungsbeginn ein genaues Bild über den Stand der Vorbereitung des Kandidaten machen und, darauf aufbauend, die Erwartungen an den Verhandlungsprozess formulieren. Wenn wir nicht wieder in die Situation kommen wollen, am Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken zu können, dann müssen wir insbesondere vor, aber auch während des Verhandlungsprozesses unsere Position dezidiert zum Ausdruck bringen. Deshalb bin ich dem Außenminister dankbar, dass er nicht dem Drängen der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft nachgibt, bereits am 7. Dezember über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Island und möglicherweise auch mit Mazedonien zu entscheiden, sondern dass wir Gelegenheit haben, eine sorgfältig formulierte Stellungnahme zu erarbeiten.

In diesem Zusammenhang ein Wort zur Türkei. Es ist klar: Die Verhandlungen mit der Türkei sind mit dem Ziel des Beitritts aufgenommen worden und sind ein ergebnisoffener Prozess. Aber will die Türkei eigentlich noch in die EU? Die Verhandlungen kommen nicht voran. Sie geraten möglicherweise schon bald an einen toten Punkt. Wenn der türkische Ministerpräsident den iranischen Präsidenten Ahmadinedschad öffentlich einen Freund nennt, obwohl dieser den Holocaust leugnet, oder über den wegen Völkermordes gesuchten sudanesischen Präsidenten al-Baschir sagt, ein Muslim könne keinen Völkermord begehen, dann stellt sich schon die Frage nach dem Verständnis europäischer Werte. Auch dass die Türkei seit drei Jahren die Anwendung des Ankara- Protokolls verweigert, wie die Kommission kürzlich in ihrem dritten Fortschrittsbericht festgestellt hat, spricht nicht für den Willen, die EU-Regeln und -Werte zu akzeptieren. Die EU-Außenminister haben am 11. Dezember 2006 acht Kapitel eingefroren und eine neue Entscheidung für den kommenden Dezember vorgesehen, sollte die Türkei das Ankara-Protokoll dann noch immer nicht erfüllen. Da dies erkennbar nicht der Fall ist, muss ich für meine Fraktion in aller Deutlichkeit sagen: Die CDU/CSU erwartet, dass die Außenminister am 7. Dezember eine Entscheidung treffen, die die klare politische Botschaft enthält, dass es die EU ernst meint, wenn sie sagt: Eingegangene Verpflichtungen sind einzuhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

In Afghanistan stehen wir vor der größten außenpolitischen Aufgabe der nächsten vier Jahre. Uns allen ist in diesem Jahr die Schwierigkeit dieser Aufgabe deutlicher denn je bewusst geworden. 2009 wird – das lässt sich leider jetzt schon sagen – das militärisch schwierigste und verlustreichste Jahr des ISAF-Einsatzes. In diesem Jahr ist uns vor Augen geführt worden, wie schwierig es ist, die Säulen einer demokratischen Ordnung zu errichten, wenn das Fundament dafür noch immer instabil ist. Die Größe der Herausforderung ist sichtbarer denn je.

Und doch liegt die Stabilisierung Afghanistans weiterhin in unserem besonderen nationalen Interesse, wie wir es im Koalitionsvertrag formuliert haben. Wir sind in Afghanistan, weil von dort grausame Terroranschläge gegen den Westen geplant und durchgeführt wurden und weil wir dringend und unbedingt verhindern müssen, dass dies wieder passiert. Wir sind in Afghanistan, weil dort ein Volk, das sich nach Jahrzehnten des Krieges und der Diktatur Frieden und Freiheit wünscht, seine Hoffnungen auf uns setzt. Und wir sind in Afghanistan, weil wir Teil der transatlantischen Gemeinschaft sind und weil wir den Einsatz, um den die Vereinten Nationen und die afghanische Regierung die NATO gebeten haben, in aller Konsequenz mittragen. Dies alles war richtig, als wir in Afghanistan rasche erste Erfolge sahen und auf ein baldiges Ende des Einsatzes hoffen durften. Dies alles bleibt auch heute noch richtig, wo wir für unsere Erfolge viel härter arbeiten müssen und an ein rasches Ende des Einsatzes nicht mehr zu denken ist.

Unser Ziel in Afghanistan war und bleibt, dafür zu sorgen, dass die afghanische Regierung die Verantwortung für die Sicherheit ihrer Menschen und die Stabilität ihres Landes übernehmen kann. Deshalb gibt es keine Exit-Strategie für unseren Einsatz, sondern die Strategie einer Übergabe in Verantwortung, wie es die Bundeskanzlerin hier im Deutschen Bundestag vor zwei Monaten erklärt hat. Bei der für 2010 geplanten Afghanistankonferenz müssen die internationalen Partner mit der afghanischen Regierung festlegen, wie diese Übergabe in Verantwortung konkret ausgestaltet werden kann und welche Zeit- und Zielvorgaben jetzt festgelegt werden können und festgelegt werden müssen. Es wird dabei – dessen bin ich mir sicher – an klaren Worten gegenüber der afghanischen Regierung nicht mangeln.

Präsident Karzai hat nach seiner Wiederwahl, deren Umstände man zumindest als ungewöhnlich bezeichnen muss, gesagt, seine Regierung sei durch Korruption und Vetternwirtschaft ernsthaft diskreditiert. Er muss nun alles unternehmen, um dieses Problems Herr zu werden, das den Aufbau seines Landes belastet und bedroht. Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Wir erwarten von der afghanischen Regierung deutlich mehr Anstrengungen, um nach nun fast acht Jahren internationaler Präsenz selbst noch stärker als bisher zur Stabilisierung beizutragen. Es sind, wie es Präsident Obama gesagt hat, Taten, nicht Worte erforderlich. Auf diese Taten werden wir drängen. Die internationale Afghanistankonferenz muss deshalb einen Aktionsplan für die nächsten Jahre vereinbaren, der Zuständigkeit und Verantwortung eindeutig benennt und die nächsten Etappen und Zwischenziele absteckt. Diese Afghanistankonferenz darf keine weitere Geberkonferenz werden. Sie muss eine Strategiekonferenz sein.

Ich halte es deshalb für richtig, dass wir das ISAF-Mandat bei der für Dezember anstehenden Verlängerung zunächst weitgehend unverändert belassen. Wenn dann die Ergebnisse der Konferenz vorliegen, werden wir auch ein klareres Bild davon haben, welche Änderungen des Mandats gegebenenfalls erforderlich sind. Bis jetzt haben alle Mandatsverlängerungen für die deutsche Beteiligung an ISAF eine breite Unterstützung in diesem Haus gefunden, getragen von der gemeinsamen Überzeugung fast aller Parteien, dass dieser Einsatz richtig und notwendig ist. Es wäre zu wünschen, dass uns diese gemeinsame Überzeugung erhalten bleibt, auch und gerade dann, wenn die Schwierigkeiten größer geworden sind. Das wäre auch ein wichtiges Signal nach außen, an unsere Partner, mit denen wir diesen Einsatz gemeinsam bestreiten, aber auch an unsere Gegner, die diesen Einsatz zum Scheitern bringen wollen und jedes Zeichen von Schwäche als Ermutigung auffassen.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich die Vision des amerikanischen Präsidenten Obama, Schritt für Schritt eine Welt frei von Atomwaffen zu schaffen. Das entspricht ganz unserer Tradition. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher waren 1982 mit dem Ziel angetreten: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. – In ihrer Regierungszeit wurde Europa weitgehend von Mittel- und Kurzstreckenwaffen befreit. Auch daran gilt es 20 Jahre nach dem Mauerfall zu erinnern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Jetzt wollen wir diesen Prozess fortsetzen und dabei auch die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abrüsten, in enger Absprache mit unseren Verbündeten und im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen. Diese Koalition – das kann ich insbesondere für die CDU/CSUFraktion sagen – wird in dieser Legislaturperiode nachdrücklich auf Fortschritte bei der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen, bei der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung drängen; denn wir müssen verhindern, dass neue Nuklearmächte und eine neue Aufrüstungsdynamik entstehen. Ein nuklear bewaffneter Iran würde im Nahen und Mittleren Osten einen atomaren Rüstungswettlauf mit katastrophalen Folgen auslösen. Das muss verhindert werden, wenn nötig auch durch härtere gemeinsame Sanktionsmaßnahmen.

Mit unserem Angebot, die in Deutschland lagernden Atomwaffen abgestimmt und im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen abzuschaffen, wollen wir ein Zeichen setzen. Wir wollen nicht nur auf weitere Abrüstungsschritte drängen, sondern dazu auch einen konkreten Betrag leisten, im Zusammenhang mit dem neuen strategischen Konzept der NATO und im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen.

In den letzten Tagen wurde ich wiederholt von russischen Gesprächspartnern gefragt, ob und was sich an der deutschen Russland-Politik durch die neue Koalition ändere. Herr Erler, ich kann Sie beruhigen. Die Antwort lautet: Es bleibt bei unserer Russland-Politik, nämlich bei der Russland-Politik von Bundeskanzlerin Merkel.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Sie, die Bundeskanzlerin, hat in den letzten vier Jahren die Richtung und die Substanz der deutschen Russland- Politik bestimmt. Auf diesem Wege werden wir weitergehen; denn das ist eine gute, berechenbare und erfolgreiche Russland-Politik.

Ich bin dem Außenminister dankbar, dass er noch am Wahlabend die Frage der Bürgerrechte so deutlich hervorgehoben hat. Zwar haben Sie, Herr Westerwelle, das vor allem innenpolitisch gemeint; aber niemand kann einen Zweifel daran haben, dass Sie sich mit gleichem Nachdruck für die Respektierung der Bürger- und Menschenrechte in anderen Staaten einsetzen. Ich erinnere daran, wie Sie und Frau Leutheusser-Schnarrenberger mit Entschiedenheit ein rechtsstaatliches Verfahren im Fall Chodorkowski eingefordert haben. Das ist richtig so, und das muss auch weiterhin der Fall sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Stimme des Außenministers muss auch zu hören sein, wenn es schwierig wird oder wenn es darum geht, dem Partner in angemessenem Ton Kritisches zu sagen. Das war in den letzten vier Jahren leider nicht immer der Fall.

Für die Russland-Politik der CDU/CSU-FDP-Koalition gilt, dass wir eine enge, aufgeschlossene und in Umgang und Ansprache ehrliche Partnerschaft wollen. Zugleich werden wir Russland dabei unterstützen, den Kurs der Modernisierung des Landes konsequent fortzusetzen und dabei die Defizite bei Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abzubauen.

So steht es in unserer Koalitionsvereinbarung. Mit anderen Worten: Wir haben ein besonderes Interesse an einem politisch und wirtschaftlich modernen, rechtsstaatlich- demokratisch verfassten und handelnden Russland, und wir wollen unseren Beitrag dazu leisten. Wie weit der Weg dorthin ist und wie groß die Defizite sind, zeigt die Analyse einer berufenen russischen Stimme: Primitive Rohstoffwirtschaft; chronische Korruption; die veraltete Gewohnheit, bei der Lösung der Probleme auf den Staat oder auf das Ausland zu hoffen, nur nicht auf sich selbst; schwache Zivilgesellschaft mit unterentwickelter Demokratie und paternalistischer Gesellschaftsform. – Niemand anderes als der russische Präsident Medwedew hat diese Beschreibung in der gazeta.ru veröffentlicht. Russland hat heute einen Präsidenten, der die Probleme des Landes so offen anspricht, wie es kein Kritiker aus dem Westen wagen würde. Das ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, das Land in eine bessere Zukunft zu führen.

Der Präsident lässt keinen Zweifel daran, dass der Schlüssel für eine bessere Zukunft Russlands in seiner inneren Entwicklung, in individueller Verantwortung und in einer starken Zivilgesellschaft liegt. Ob dies gelingt, wird davon abhängen, wie stark die Gegenkräfte sind, die vom alten System profitieren. Außerdem wird es davon abhängen, ob sich die modern denkenden Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft ausreichend ermutigt und unterstützt fühlen, die Modernisierung im Lande voranzutreiben, statt ins Ausland oder in die innere Emigration zu gehen.

Dies alles zeigt, dass wir uns keine Illusionen über die Chancen und das Tempo des Modernisierungsprozesses in Russland machen dürfen. Aber wir wollen das nicht als Zuschauer von außen beobachten. Im Gegenteil: Russland bei seiner Modernisierung aktiv zu unterstützen, wo immer es notwendig und möglich ist und wo Russland dazu bereit ist, dazu gibt es für uns keine verantwortbare Alternative; denn es gibt ein viel zu breites Feld gegenseitiger Abhängigkeiten. Es schadet unserem Interesse, wenn der in Russland angestrebte Modernisierungsprozess nicht vorankommt oder gar scheitert.

Ohne eine erfolgreiche Modernisierung werden wir das beachtliche Potenzial der Handels- und Investitionsbeziehungen nicht ausschöpfen können, auch weil wachsende Korruption und Bürokratismus dem entgegenstehen. Dazu gehört auch unser Beitrag zur Stärkung der russischen Zivilgesellschaft. Die rund 230 000 russischen Nichtregierungsorganisationen, die sich trotz erschwerter Rahmenbedingungen erstaunlich vital behaupten, sind für mich Ausdruck der Bereitschaft, wieder von unten Mitverantwortung zu übernehmen. An diesen Entwicklungen können und wollen wir anknüpfen. Das ist ein konkreter Beitrag zur Modernisierung, der die Ziele von Präsident Medwedew unterstützt und der zudem den Menschen in Russland zugutekommt.

Meine Damen und Herren, wie unmittelbar internationale und globale Fragen das Alltagsleben der Menschen in Deutschland prägen, wissen wir nicht erst seit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die CDU/CSUFraktion wird sich Deutschlands Verantwortung für die Welt im Interesse unseres Landes engagiert stellen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächster Redner ist der Kollege Jan van Aken für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Jan van Aken (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin gelernter Naturwissenschaftler. Da hat man ein gewisses Faible für Zahlen. Als ich mir jetzt, Herr Westerwelle und Frau Merkel, Ihren Koalitionsvertrag angeschaut habe, sprang mich ein Ereignis sofort förmlich an. Das Mantra Ihrer Außenpolitik sind ja die deutschen Interessen bzw., wie wir heute Morgen von der Kanzlerin gehört haben, der Zugriff auf die weltweit vorhandenen Rohstoffe. Jetzt kommt es: Wenn es um die Durchsetzung dieser Interessen geht, erwähnen Sie elfmal die Bundeswehr und die deutschen Soldaten, aber das Völkerrecht kommt ganze zweimal in diesem Koalitionsvertrag vor. Ich sage Ihnen: Das ist kein statistischer Ausreißer mehr. Das ist Programm.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Westerwelle, wenn Sie sich hier heute hinstellen und sagen, die deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik, dann kann ich dazu nur sagen: Das ist schlichtweg falsch. Die Militarisierung Ihrer Außenpolitik

(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)

zieht sich wie ein roter Faden durch die 132 Seiten Ihres Koalitionsvertrages.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch des Abg. Holger Haibach [CDU/CSU])

Ich nenne vier Beispiele. Sie kündigen darin heute tatsächlich schon noch mehr Auslandseinsätze an.

(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Wahlkampf ist doch vorbei!)

Sie wollen den Aufbau einer europäischen Armee. Sie wollen noch mehr Geld für die europäische Sicherheitspolitik, und Sie setzen auf noch mehr Rüstungsexporte.

Jetzt könnte man es fast schon erfrischend nennen, dass Sie das überhaupt nicht mehr humanitär verbrämen oder irgendwie propagandistisch übertünchen, sondern schlicht und einfach klarstellen: Es geht um die Durchsetzung deutscher Interessen, zur Not mit der Waffe in der Hand; Punkt.

(Beifall bei der LINKEN – Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Ach du lieber Himmel!)

Ich finde das aber überhaupt nicht erfrischend. Ich finde das sehr beunruhigend.

Vor allem beunruhigt mich aber, dass sich hier überhaupt kein Protest regt. Ich stelle mir einmal vor, dass die schwarz-gelbe Koalition 1994 ein solches nacktes und blankes Bekenntnis zur Normalität des Krieges vorgelegt hätte. Was glauben Sie denn, wäre dann hier in Deutschland los gewesen? Da hätten doch Hunderttausende in Bonn demonstriert. Ich sage Ihnen, Herr Trittin: Wir hätten uns zusammen vor dem Konrad-Adenauer- Haus angekettet.

(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD], an den Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Das hast du jetzt davon! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe noch nie vor dem Konrad-Adenauer- Haus demonstriert!)

– Dann wäre das der Moment gewesen, dass wir beide uns auch einmal zusammen irgendwo angekettet hätten. Ich sage es jetzt ganz direkt an die Adresse der SPD und der Grünen: Ich finde, Sie machen einen Riesenfehler, wenn Sie hier und heute die Militarisierung der deutschen Außenpolitik einfach so durchwinken. Ich finde, es wird Zeit – eigentlich ist heute genau der richtige Zeitpunkt dafür –, dass Sie sich endlich einmal aus dieser Schröder-Fischer-Falle befreien.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich kann ja verstehen – ich kann es wirklich verstehen, auch wenn ich es grundfalsch finde –, dass Sie immer noch diesen Reflex haben, bei Auslandseinsätzen erst einmal zuzustimmen. Aber irgendwann muss doch damit einmal Schluss sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Westerwelle, es gibt eine Sache, die uns beide vereint: Wir sind beide Jahrgang 1961. Ich finde eigentlich, das ist ein guter Jahrgang. Ich erwähne das aber vor allen Dingen deshalb, weil es bedeutet, dass wir beide in einem Deutschland aufgewachsen sind, in dem Frieden noch etwas galt.

Als wir beide zehn Jahre alt waren – da kannten wir uns noch nicht –, da hat ein deutscher Bundeskanzler namens Willy Brandt gesagt, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf.

(Hellmut Königshaus [FDP]: Aber im Osten gab es den Wehrkundeunterricht, mein Lieber! Das war auch Deutschland!)

Zu unserem 20. Geburtstag haben in Bonn damals Millionen von Menschen gegen die atomare Aufrüstung demonstriert. Ich weiß nicht, ob wir uns damals gesehen haben; ich war jedenfalls dabei.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Donnerwetter! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein Mann mit Geschichte!)

Auch zu unserem 30. Geburtstag hat sich ein CDUKanzler noch geweigert, deutsche Soldaten in einen Irakkrieg zu schicken, obwohl es damals ein UN-Mandat gab; es gab die UN-Sicherheitsresolution 687. Trotzdem war es 50 Jahre lang in Deutschland undenkbar, dass wir die Bundeswehr in einen Krieg im Ausland schicken. Ich glaube, einer der wichtigsten Gründe dafür war, dass die Generation unserer Eltern selber noch Krieg erlebt hat. Sie hat das Leid und das Elend des Krieges am eigenen Leibe erfahren.

Wenn in diesen Tagen wieder über die Tanklaster in Afghanistan debattiert wird, dann dürfen wir doch eines nie vergessen: Diese Tanklaster sind nur die Spitze des Eisberges. Der Krieg in Afghanistan bedeutet wie jeder Krieg tagtägliches Sterben, tagtägliche Zerstörung und tagtägliches Hungern.

(Beifall bei der LINKEN)

Davon höre ich hier im Bundestag kein einziges Wort. Hier gibt es „Krieg“ oder „Einsatz“, der immer irgendwie unausweichlich scheint, immer nur als abstrakten Begriff. Aber eines dürfen wir doch nie vergessen: Krieg ist nie unausweichlich. Es gibt immer eine Alternative. Es braucht nur den politischen Willen dazu. Ich selber habe bei den Biowaffeninspektoren der Vereinten Nationen gearbeitet, weil diese eine Alternative zum Irakkrieg gewesen sind. Genauso gibt es heute eine Alternative zum Krieg in Afghanistan.

(Beifall bei der LINKEN – Hellmut Königshaus [FDP]: Nämlich?)

Noch ein Wort zu Europa. Der Lissabon-Vertrag wird bald in Kraft treten. Das ist keine gute Nachricht für Menschen, die Europa lieben. Wir haben in den letzten Jahren immer für ein besseres, sozialeres und friedlicheres Europa gekämpft. Aber mit unserer Klage vor dem Verfassungsgericht haben wir wenigstens durchgesetzt, dass dieses Europa ein wenig demokratischer geworden ist.

(Beifall bei der LINKEN – Hellmut Königshaus [FDP]: Was?)

Der Bundestag hat mehr Rechte bekommen, und Sie können sich schon heute darauf einstellen, dass wir diese Rechte auch nutzen werden.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland gar keine Waffen mehr exportieren sollte.

(Beifall bei der LINKEN)

Dazu muss ich eines sagen: Der Koalitionsvertrag ist 132 Seiten lang. Ein einziges Mal werden in ihm die hochwertigen Arbeitsplätze erwähnt. Raten Sie einmal, was für diese Koalition hochwertige Arbeitsplätze sind! Da würden mir Solarfabriken, Schulen, Krankenhäuser oder Opel einfallen. Warum nicht Opel? Aber für Frau Merkel und Herrn Westerwelle sind hochwertige Arbeitsplätze nach diesem Koalitionsvertrag ausschließlich in der Rüstungsindustrie zu finden.

(Hellmut Königshaus [FDP]: So ein Quatsch! Was soll denn das?)

Ich finde das eklig.

(Beifall bei der LINKEN)

Jedes Mal, wenn heute irgendwo auf der Welt – in Myanmar, in Kolumbien oder im Sudan – Menschen aufeinander schießen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass eine deutsche Firma daran mitverdient. Ich finde das eine Schande. Ich verspreche Ihnen hier und heute, dass die Linke keine Ruhe geben wird, bis Deutschland endlich aufhört, Waffen in alle Welt zu exportieren.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Herr Kollege van Aken, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu herzlich, verbunden mit guten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nun hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.

Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesaußenminister, Sie haben in Ihrer Rede und auch im Koalitionsvertrag die Kontinuität der deutschen Außenpolitik betont. In der Tat: Die Einbindung in die Europäische Union, das enge transatlantische Bündnis mit den USA und die aus unserer Geschichte erwachsene Verantwortung gegenüber Israel sind die Eckpfeiler deutscher Außenpolitik. Diese Kontinuität ist richtig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber auch wenn Sie das abstreiten: Sie nutzen diese Kontinuität auch als Ausrede für Ideenlosigkeit und Abwarten. Da enttäuschen Sie auf der ganzen Linie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ihr Koalitionsvertrag strotzt vor diplomatischen Leerformeln und durchsichtigen Kompromissen; ich komme noch genauer dazu. Damit werden Sie den Herausforderungen in keiner Weise gerecht. Wir befinden uns heute in einer historisch zugespitzten Krisenlage: Klimakrise, Finanzmarktkrise, anwachsende Hungerkrise und globale Wirtschaftskrise stehen in einer starken Wechselwirkung.

Die ganze Welt diskutiert heute über Lösungsstrategien unter dem Stichwort „Green New Deal“, um das Wort von Ban Ki-moon aufzunehmen. Ich könnte ja noch verstehen, wenn Sie in dem Zusammenhang mit dem Wort „grün“ Ihre Schwierigkeiten hätten. Aber dass Sie sich inhaltlich an dieser Stelle ganz abmelden und keine Antworten geben, wird international niemand verstehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
> Es gibt die Erwartung an Deutschland, dass es eine zentrale Rolle in dieser Debatte spielt. Wir waren Schrittmacher in der Klimapolitik. Wir waren Antreiber bei der Debatte über die Reformen der globalen Institutionen. Was kommt jetzt von Ihnen? – Ein paar Allgemeinplätze zur Reform der Vereinten Nationen und sage und schreibe ein einziger Satz zur Rolle der G 20 in der Koalitionsvereinbarung. Das reicht doch nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU])

Die großen Veränderungen in der internationalen Landschaft werden bei Ihnen fast ausgeblendet. Natürlich ist und bleibt es richtig, die Europäische Union ins Zentrum deutscher Außenpolitik zu rücken. Natürlich ist und bleibt es richtig, die Chancen zur Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft, die die Obama-Administration jetzt bietet, zu nutzen. Aber was ist mit den anderen Teilen der Welt? Was ist mit China, Indien, Brasilien oder Südafrika? Ohne diese Länder – das wissen Sie auch – können die globalen Herausforderungen nicht bewältigt werden.

Sie sagen dazu fast nichts. Im Gegenteil – es ist heute schon angesprochen worden –: Als erste Maßnahme brüskieren Sie aus populistischen, innenpolitischen Motiven die chinesische Regierung, indem Sie über die Presse die Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit verkünden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dass es dabei um die Förderung der Zusammenarbeit im Umwelt- und Energiebereich geht, fällt bei Ihnen unter den Tisch, Herr Niebel. Ich persönlich hätte mir nie träumen lassen, dass einmal die Grünen den Liberalen erklären müssen, dass auch Außenwirtschaftsförderung ein sinnvolles Konzept sein kann an der Schnittstelle von Entwicklungspolitik und Außenpolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

So weit sind wir gekommen.

Meine Damen und Herren von der Koalition, dann erschreckt Ihr fast schon dröhnendes Schweigen zur politischen Perspektive in Afghanistan. Wir sind in einer dramatischen Situation. Ein umfassender Kurswechsel ist nötig, damit die internationale Gemeinschaft dort noch erfolgreich sein kann. Die Zeit drängt. Kanada und die Niederlande haben den Abzug beschlossen. In den USA findet gerade eine intensive Debatte statt, ebenso in Großbritannien. Wie gehen Stabilisierungs- und Abzugsperspektive in den nächsten vier Jahren zusammen? Darauf erwarten die Menschen eine Antwort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Doch von Ihnen ist dazu inhaltlich bisher nichts zu hören. Die von Ihnen versprochene Verbesserung der zivilen Koordination ist gut und wichtig. Ansonsten haben Sie sich fürs Abwarten entschieden: warten auf die USA, warten auf eine Afghanistankonferenz, warten darauf, dass einem irgendjemand die Entscheidung abnimmt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist ein konzeptionelles Vakuum. Das ist unverantwortlich gegenüber den Afghaninnen und Afghanen sowie gegenüber den deutschen Polizisten, Soldaten und zivilen Helfern dort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Westerwelle und Herr zu Guttenberg, bringen Sie endlich eigene inhaltliche Vorschläge! Dazu hätten Sie hier im Plenum die Gelegenheit. Wann, wenn nicht jetzt? Eine semantische Debatte über den Kriegsbegriff reicht da nicht.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen ein Konzept für Aufbau und Stabilisierung in Afghanistan in Verbindung mit einer Abzugsperspektive in den nächsten vier Jahren. Stellen Sie sich endlich dieser Herausforderung! Für ein richtiges Umsteuern – das kann ich Ihnen hier anbieten – können Sie dabei auch auf unsere Unterstützung zählen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte noch zwei Punkte anmerken, die mir als ehemaligem Europaabgeordneten besonders am Herzen liegen. Ich bin enttäuscht, wie wenig diese Regierung zu den politischen Perspektiven für Europa zu sagen hat. Wo bleiben die Initiativen, die Europäische Union auf dem internationalen Parkett zu einer starken Stimme für Klimaschutz, für Menschenrechte und für soziale Verantwortung zu machen? Wo bleiben die Initiativen, gerade auch den krisengeschüttelten Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens eine Zukunft zu bieten? Da fehlt fast alles. Stattdessen seitenlange, kleinteilige Kommentare zu Einzelheiten des Binnenmarktes und absatzweise fadenscheinige Kompromisse zwischen CSU und FDP. Das kann man jeweils Punkt für Punkt nachlesen, zum Beispiel auch bei der Frage des Türkei-Beitritts. Man sollte sich einmal überlegen, ob die Entwicklungen in der Türkei nicht auch etwas damit zu tun haben, dass dort die Empfindung vorherrscht, es werde der Türkei im Hinblick auf den EU-Beitritt unter anderem von dieser neuen Regierung eine Absage erteilt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Zusammenhang mit den Finanzierungsfragen bedienen Sie im Koalitionsvertrag unterschwellig das Klischee, die Europäische Union sei ein geldverschlingender, bürgerferner Moloch. Damit werden Sie in Europa niemanden für die Europäische Union begeistern. Damit tragen Sie nichts zu der Debatte darüber bei, was heute die Identität und vielleicht auch die Vision der Europäischen Union ausmacht und ausmachen sollte.

Dass Sie sich – lassen Sie mich das hinzufügen – im Koalitionsvertrag nicht mehr dazu bekennen, die Verpflichtungen des europäischen Stufenplans zur Steigerung der Mittel für die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes einzuhalten, lässt Schlimmes befürchten. Der Erfolg der Millenniumsziele zur Bekämpfung von Armut und Krankheit in der Welt steht auf der Kippe. Die Anstrengungen müssten stärker werden und nicht schwächer. Ich sage Ihnen: Wenn Deutschland unter Ihrer Führung wegen eines Haushaltsvorbehalts aus dem europäischen Geleitzug ausschert, dann wäre das eine Schande für unser Land.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren von der Koalition, ich wünsche Ihnen, aber vor allem unserem Land, dass Ihre tatsächliche Politik besser wird als der Text Ihres Koalitionsvertrages. Dankeschön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Herr Kollege Dr. Schmidt, auch für Sie war dies die erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere auch Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit Freude und Erfolg.

(Beifall)

Nun erteile ich das Wort für die Bundesregierung Herrn Bundesminister Dirk Niebel.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer den Koalitionsvertrag genau gelesen und wer der Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin genau zugehört hat, wird feststellen, dass diese neue Regierung der Mitte die Entwicklungszusammenarbeit ausdrücklich aufwertet.

(Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Oh!)

Er wird feststellen, dass Entwicklungszusammenarbeit nach unserem Verständnis weit mehr ist als reine Armutsbekämpfung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie ist vielmehr ein Bestandteil der deutschen Dialogpolitik in einer globalisierten Welt. Entwicklungszusammenarbeit ist Bestandteil des Konzepts der vernetzten Sicherheit. Unsere Entwicklungszusammenarbeit wird weiterhin werteorientiert sein.

All denjenigen, die schon vor dem ersten Wort meiner Rede Zurufe gemacht haben, sage ich ganz ausdrücklich: Unsere Entwicklungszusammenarbeit ist ausdrücklich interessenorientiert – im wohlverstanden besten Sinne der Bundesrepublik Deutschland. Denn es ist in unserem Interesse, weltweit dafür zu sorgen, dass die Folgen des Klimawandels bekämpft werden können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist in unserem Interesse, in unserem eigenen Vorgarten, in Afrika, dafür zu sorgen, dass Menschen keine Fluchtgründe geliefert bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorgarten!)

Es ist in unserem ureigensten Interesse, Entwicklungszusammenarbeit unter der Prämisse der Freiheit für möglichst viele Menschen zu organisieren.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Entwicklungszusammenarbeit soll den Menschen Freiheit bringen; aber sie braucht Freiheit auch als Voraussetzung, um tatsächlich funktionieren zu können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Bundesregierung wird sich ausdrücklich darum kümmern, dass gutes Regierungshandeln in unseren Partnerländern eine Voraussetzung der Zusammenarbeit sein wird. Menschenrechte und Demokratie werden wesentliche Werte sein; auf diese werden wir zu achten haben. Aber auch die wirtschaftliche Freiheit der Partnerländer gehört dazu.

(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])

Das Ministerium, das ich führen darf, heißt „Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. Beides gehört zusammen, damit die Hilfeleistung für andere Staaten vorzugsweise durch eigenständige wirtschaftliche Leistungskraft abgelöst werden kann.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir wissen aber auch, dass jemand, der Sorgen haben muss, wovon er seine Familie am nächsten Tag ernähren kann, nur ein geringes Maß an Freiheit in seinem Leben ausschöpfen kann. Aus diesem Grund muss es uns angst und bange werden, wenn wir feststellen, dass wegen der enormen Verteuerung von Lebensmitteln mittlerweile schon wieder über 1 Milliarde Menschen an Hunger leiden. Weil dies so ist, müssen wir die Effizienz und die Schlagkraft unserer Entwicklungszusammenarbeit erhöhen. Dafür haben wir die Grundlagen in unserem Koalitionsvertrag gelegt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden ausdrücklich dafür sorgen, dass ländliche Regionen sich entwickeln können und dass die Chance auf eine sich selbst tragende Landwirtschaft größer wird als heute. Das ist die Grundlage für Ernährungssicherung in der Welt.

Außerdem werden wir ausdrücklich dafür sorgen, dass die zwei Seiten der gleichen Medaille, Armut und Bildungsarmut, besser bekämpft werden als in der Vergangenheit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bildung ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Deswegen wollen wir insbesondere die Schulbildung von Kindern, aber auch die berufliche Bildung von jungen Menschen intensivieren, damit sie die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt durch eigener Hände Arbeit zu finanzieren. Insofern ist diese Bundesregierung nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine Regierung der sozialen Verantwortung. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, selbst über ihr Leben bestimmen zu können. Das ist die Grundlage unserer Entwicklungszusammenarbeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir müssen faire Handelsstrukturen stärken und hier insbesondere auf die WTO setzen und neben einer Stärkung des privaten Sektors in den Partnerländern auch die Mikrokreditfinanzierung intensivieren, damit selbstständige Tätigkeiten entstehen können und jemand, der seinen Lebensunterhalt selbstständig finanzieren kann, womöglich auch noch anderen Menschen eine Erwerbsmöglichkeit bieten kann. Dies ist eine wichtige Aufgabe für diese Legislaturperiode, der wir nachkommen müssen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir werden uns um die globalen Fragen im Bereich des Klimaschutzes kümmern. Die Entwicklungszusammenarbeit und der Klimaschutz sind gar nicht mehr voneinander zu trennen. Eigentlich ist das BMZ das Klimaministerium in Deutschland; denn dort sind schon heute über 1 Milliarde Euro für Mittel des Klimaschutzes in der Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt. Hier sind übrigens auch die Hebelwirkungen, was die ODA-Quote anbetrifft, mit die besten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir müssen allerdings ein höheres Maß an Zielgenauigkeit erreichen. Aus diesem Grunde werden wir die Durchführungsorganisationen reformieren. Wir werden uns bemühen, im internationalen Ausgleich zu einer besseren Arbeitsteilung zu kommen. Dieser Koalitionsvertrag und der Zuschnitt dieser Bundesregierung bieten die Grundlage für das Ende irgendwelcher Nebenpolitiken, weil wir durch Außenpolitik, Außenwirtschaftsförderung und Entwicklungszusammenarbeit kohärente Entwicklungspolitik gestalten können. Einer kann den anderen Hand in Hand weiterleiten, wenn die Entwicklung eines Landes vorangegangen ist, damit man die Chance hat, in Zukunft als Partner mit uns zusammenarbeiten zu können.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Raabe?

Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Gerne.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Herr Kollege Raabe, bitte.

Dr. Sascha Raabe (SPD):

Herr Minister, Sie haben gesagt, dass Sie für faire Handelsbedingungen stehen. Wie verträgt sich das mit der Aussage im Koalitionsvertrag, dass Sie eine radikale Marktöffnung fordern und jeden Protektionismus ablehnen? Dies bedeutet auch, dass Sie es den Entwicklungsländern verwehren wollen, für ihre Ernährungssicherheit ihre Landwirtschaft zu schützen, was zur Folge hat, dass diese Länder dann durch Dumpingexporte überflutet werden können.

Zweitens haben Sie gesagt, Sie wollten die wirtschaftliche Entwicklung und die Landwirtschaft stärken. Erst vor wenigen Monaten haben Sie aber davon gesprochen, dass Sie 100 Millionen Euro, die im Rahmen eines 50-Milliarden- Konjunkturpakets für die Ärmsten der Armen ausgegeben werden sollen, lieber für deutsche Grundschullehrer ausgeben würden; mit dieser Summe könnten 2 000 Lehrer angestellt werden. Wissen Sie, wie viele Grundschullehrer man für dieses Geld in Afrika einstellen kann, und distanzieren und entschuldigen Sie sich für diese Aussage, die Sie damals auf dem Rücken der Ärmsten der Armen getroffen haben, um damit Stammtische zu bedienen?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hellmut Königshaus [FDP]: Das ist doch Quatsch!)

Dirk Niebel, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung:

Herr Kollege Raabe, wir haben das Konjunkturpaket der alten Bundesregierung in diesen Punkten nicht mitgetragen. Wir sind dennoch der Ansicht, dass es wichtig und notwendig ist, Bildung zu fördern. Aber man sollte den einen nicht gegen den anderen ausspielen.

(Lachen bei der SPD)

Was den ersten Punkt angeht, den Sie angesprochen haben, lieber Herr Kollege Raabe, muss ich eines ganz deutlich feststellen: Sie sind auf dem völlig falschen Trip. Genau andersherum wird ein Schuh daraus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist doch wohl nicht normal, dass Entwicklungsländer durch Handelshemmnisse und Marktzutrittsverbote in vielen Bereichen der Welt mehr Geld verlieren, als ihnen durch Entwicklungszusammenarbeit der sogenannten Industriestaaten zugeführt wird. Das muss geändert werden, damit man mit fairen Handelsbedingungen Partner in einer weltweiten Wirtschaft werden kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Diese Partnerschaft werden wir auch einfordern; denn wir wollen ausdrücklich Eigenverantwortung. – Ich habe Ihre Frage hinreichend beantwortet; aber Sie dürfen gern stehen bleiben, weil dann meine Uhr auch stehen bleibt. – Diese Eigenverantwortung werden wir bei unseren Partnerländern auch insofern einfordern, als die nationalen Eliten unserer Partnerstaaten dieser Verantwortung gerecht werden müssen. Wir wollen verlässliche Partner sein, aber wir erwarten auch, dass unsere Partnerinnen und Partner bestimmte Spielregeln, die unsere Werte hervorbringen, einhalten.

Ich bin ausdrücklich dankbar, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie vorhin so deutlich noch einmal unsere Verlässlichkeit bei der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels erwähnt haben. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen als Haushaltsgesetzgeber, diesen Maßstab in Ihre Beratungen einzubeziehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie das übernähmen, was im Koalitionsvertrag festgelegt ist und was in der Zukunft auch tatsächlich von uns erreicht werden soll.

Erlauben Sie mir, einen letzten Punkt anzusprechen. Veränderungen – das haben wir nicht nur gestern oder vor 20 Jahren gelernt – kommen in aller Regel aus der Mitte der Gesellschaft. Deswegen gilt auch in der Entwicklungszusammenarbeit eines ganz ausdrücklich:

Nicht alles muss der Staat machen; wir sollten uns auf die Gesellschaft verlassen, auf die Zivilgesellschaft hier bei uns, aber auch in unseren Partnerländern. Es ist hervorragend – das muss hier noch einmal ausdrücklich festgestellt werden –, dass die Koalitionsvereinbarung der neuen Regierung der Mitte ausdrücklich die Nichtregierungsorganisationen, die Kirchen, die politischen Stiftungen und auch die Privatwirtschaft auffordert, sich an der Bekämpfung von Armut und der Zusammenarbeit mit anderen Ländern dieser Welt zu beteiligen, damit diese eine Chance haben, in Zukunft als unsere Partner auf Augenhöhe mit uns agieren zu können.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wäre sicher reizvoll, auf Herrn Niebel einzugehen, aber das überlasse ich anderen Kollegen. Ich möchte mich gerne der Europapolitik zuwenden. Mit der erfreulichen Tatsache, dass wir bald den Lissabonner Vertrag ratifizieren können, werden endlich die Bedingungen geschaffen, dass wir in einem größeren Europa weiter handlungsfähig bleiben und die demokratische Transparenz stärken. Insofern, lieber Herr Minister Westerwelle, haben Sie völlig recht, dass die Europapolitik wie in der Vergangenheit einer Weiterentwicklung bedarf, aber einer Weiterentwicklung in Kontinuität. Ich hoffe sehr und wünsche Ihnen auch, dass Sie die gute Arbeit von Frank-Walter Steinmeier fortsetzen können.

Allerdings ist da durchaus Skepsis angebracht. Frau Bundeskanzlerin Merkel hat erst gestern anlässlich der Feier zum 9. November gesagt, dass die Nationalstaaten Macht abgeben müssten. Sie hat die Frage gestellt – ich darf zitieren –:

Sind Nationalstaaten bereit und fähig dazu, Kompetenzen an multilaterale Organisationen abzugeben, koste es, was es wolle; …?

Wenn ich dann aber feststelle, dass im Koalitionsvertrag in den ersten Abschnitten keineswegs von gemeinsamen Werten und europäischer Solidarität die Rede ist, sondern überwiegend die Interessen unseres Landes betont werden, dann frage ich mich: Bleiben Sie tatsächlich in der Kontinuität von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher, für die immer deutschlandpolitische Räson in der Europapolitik war, dass die Interessen Deutschlands identisch mit den Interessen des gemeinsamen Europas sind, dass also eine sogenannte Win-win- Situation geschaffen werden muss.

Zu dem aus meiner Sicht engen Geist des Textes des Koalitionsvertrages passt das konservativ-marktliberale Bild von der Europapolitik. Während es die SPD 2005 geschafft hat, die soziale Dimension in diesem Text zu verankern, finden wir dort eine schwarz-gelbe Lücke.

Ich frage: Wo wird erwähnt, dass wir in Europa ebenfalls Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerrechte brauchen, beispielsweise wenn es um die europäische Privatgesellschaft geht? Wo wird erwähnt, dass wir eine soziale Folgenabschätzung bei der europäischen Gesetzgebung brauchen? Wo lesen wir etwas über soziale Mindeststandards, die wir für die völlige Öffnung der europäischen Arbeitsmärkte brauchen? – Fehlanzeige! Dagegen wird ein Scheinargument für nationalstaatliche Alleinzuständigkeit bei der Sozialpolitik angeführt: Man verweist auf die hohen deutschen Sozialstandards, die man nicht gefährden dürfe. Dabei wird vergessen, dass die Europäische Union uns in der Vergangenheit nicht nur einmal Impulse gegeben hat, die soziale Dimension zu verstärken.

Denken wir nur an den Diskriminierungsschutz oder den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Ich habe den Eindruck, Schwarz-Gelb schaut hier nicht über den Tellerrand und interessiert sich nicht für die sozialen Nachteile, die für die Menschen gerade als Folge von Deregulierung entstehen können.

Wenn wir uns anschauen, was zur Lissabon-Strategie geschrieben wurde, stellen wir fest, wie weit diese Regierung von dem Stand des Jahres 2000 entfernt ist, als mehrheitlich sozialdemokratische Regierungen die Lissabon- Strategie aus der Taufe gehoben haben. Heute lesen wir nur noch, dass Europa zum weltweit wettbewerbsfähigsten Raum werden soll. Den sozialen Zusammenhalt lassen Sie weg.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Daher müssen wir befürchten, dass die Menschen dem Raubtierkapitalismus überlassen werden sollen.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

So kann man Bürger nicht gewinnen. So kann Europa nicht gewinnen. Wir, die SPD, werden Sie nicht aus der Verantwortung entlassen; denn die Bürger sagen nur dann Ja zu Europa, wenn es ein soziales Europa ist.

(Beifall bei der SPD)

Der konservative Geist Ihres Textes ist auch daran zu erkennen, dass möglichst viel Bürokratie abgebaut werden soll, möglichst wenig Bankenaufsicht stattfinden soll, also: privat vor Staat, unverfälschter Wettbewerb. Wenn wir uns den Bereich der Finanzmarktregulierung anschauen, stellen wir auch dort fest: Konkrete Aussage? – Fehlanzeige. Nichts zur Höhe einer Eigenkapitalquote für die Banken, nichts zum Kampf gegen Steueroasen, nichts zu Transparenzregeln. Außerdem lehnen Sie jegliche EU-Steuer ab, also auch eine Finanztransaktionssteuer, die nicht nur ein Mittel wäre, die Krise zu managen, sondern auch, um vorzusorgen, damit wir solche Krisen in Zukunft nicht mehr erleben müssen.

Was die finanzielle Vorausschau anbelangt, so scheinen Ihre Aussagen zur Neustrukturierung des Haushalts Lippenbekenntnisse zu sein. Es gibt keine inhaltliche Diskussion und keine Zielsetzung. Einzig und allein wird festgehalten: 1 Prozent des BIP, nicht mehr – und das, obwohl Sie gleichzeitig sagen, dass aus dem EU-Haushalt ein höherer Anteil für die GASP finanziert werden soll. Dies ist aus meiner Sicht ein perspektivloser, ein technokratischer Umgang mit den Haushaltsmitteln. Wir, die SPD, wollen die EU nicht verwalten, sondern gestalten. Daher werden wir uns gerade aufgrund der neuen Begleitgesetze aktiv einbringen.

Ich will aber auch ein Lob aussprechen, ein Lob für die Passagen, die sich mit der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarstaaten beschäftigen, mit Frankreich und unseren kleinen Partnern. Ich hoffe, dass wir hier tatsächlich zu Abstimmungen kommen. Herr Westerwelle, sehr erfreulich sind in der Tat die Passage zu Polen und die Tatsache, dass Ihr erster Antrittsbesuch Sie nach Polen führte. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns wirklich fragen, ob Sie von Ihrem großen Koalitionspartner diesbezüglich ausreichend unterstützt werden.

Leider mussten wir wieder feststellen, dass Frau Steinbach hinsichtlich der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn Öl ins Feuer gießt.

(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Hört! Hört! Nun ist aber gut!)

Da fragen wir uns: Wo steht die Bundeskanzlerin? Versteckt sie sich hinter Herrn Westerwelle? Nimmt sie es in Kauf, dass neues Misstrauen gesät wird?

(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie säen Misstrauen!)

Wenn ich Ihnen ein Zitat vorlesen darf:

Für das politische Klima in Polen gibt es eine nicht zu unterschätzende deutsche Verantwortung. Etliche deutsche Politiker gefielen sich darin, in unserem Nachbarland wider besseres Wissen Ängste zu schüren, anstatt sie abzubauen.

Richtig, Frau Steinbach, aber genau das trifft auf Sie zu. Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass Sie Ihre Position klar nennen. Wir verlangen, dass Sie alles tun, damit die gemeinsamen Herausforderungen wirklich bewältigt werden können. Wir sollten beispielsweise im Zusammenhang mit der östlichen Dimension mit Polen zusammenarbeiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie schüren doch Ängste!)

Ich muss leider zum Schluss kommen.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)

Ich möchte abschließend sagen: Der Koalitionsvertrag zu Europa ist kein großer Wurf. Er ist lieblos heruntergeschrieben. Es fehlt ihm die Inspiration, es fehlen ihm neue Ideen. Er hat keine Perspektiven aufgezeigt. Die Bürger und Bürgerinnen verlangen mehr von Europa. Auch ich kann nur wünschen, dass Sie über den Text des Koalitionsvertrages hinausgehen. Dafür biete ich meine Zusammenarbeit an.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Für die Bundesregierung hat nun das Wort Herr Bundesminister Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister der Verteidigung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist erfreulich und gut, dass der 20. Jahrestag des Mauerfalls Gelegenheit gibt, den Blick auch auf die außen- und sicherheitspolitische Dimension dieses großen Ereignisses zu richten. Herr Kollege Westerwelle, Sie haben den Bezug bereits hergestellt, der gestern Anlass gegeben hat, vielen zu Recht zu danken: vielen Partnern und jenen unserer Landsleute, die größten Mut und Zivilcourage an den Tag gelegt haben, jenen, die damals im unfreien Teil Deutschlands die Ketten der Diktatur gesprengt haben. Herr Vaatz, ich darf auch von meiner Seite in diesem Zusammenhang noch einmal sagen: Das war heute eine bemerkenswerte Rede von Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist aber auch ein Grund, noch einmal an dieser Stelle Dank zu sagen an die Partner und Freunde der atlantischen Allianz, und zwar nicht nur für deren diplomatische Klugheit. Die Partner haben durch ihr Vertrauen – ich unterstreiche das Wort Vertrauen zweimal – das Geschenk der Einheit in Freiheit erst möglich gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Gerade das gemahnt uns an einen Grundpfeiler, an ein Grundverständnis des Bündnisses als solches, nämlich dass Solidarität und Vertrauen niemals nur in eine Richtung weisen dürfen. Manche, die heute die NATO bereits in ihrer Begründung lautstark infrage stellen – die soll es ja geben –,

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Auch leise!)

und auch manche, die sie beerdigen wollen, können sich in diesem Zusammenhang bestenfalls auf Vergessen berufen. Allzu oft sind es genügsam zelebrierte Undankbarkeit und Ignoranz

(Widerspruch bei der LINKEN)

gegenüber erfahrenem Vertrauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Danke!)

In dieser Hinsicht ist Vertrauen niemals Nostalgie, sondern weiterhin das Fundament jeder Bündnisstruktur, jeder erneuerten Bündnisstruktur, aber auch jeder zu erneuernden Bündnisstruktur.

Die Bundeswehr hat vor 1989 im Kalten Krieg den Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland möglich gemacht. Sie hat unsere Bereitschaft dokumentiert, die Freiheit, wenn es darauf ankommt, zu verteidigen, wobei Freiheit nicht alleine an nationalen Grenzen zu bemessen ist und weiterhin auch nicht allein daran bemessen werden kann.

Die Bundeswehr hat ihren Anteil am Gelingen der Wiedervereinigung. Schon bald nach dem 3. Oktober 1990 hat sie bewiesen, dass auch sie ihren Teil zur inneren Einheit unseres Vaterlandes beitragen konnte. Die Bundeswehr hat seitdem in vielen internationalen Einsätzen gezeigt, dass sie bereit ist, sich der durch die Wiedervereinigung gewachsenen internationalen Verantwortung unseres Landes zu stellen; das ist kein Widerspruch, sondern durchaus eine innere Bedingung. Die Bundeswehr leistet den Beitrag, den unsere Verbündeten und Partner zu Recht von uns erwarten. Manche, die ihr dies heute absprechen, haben offenbar vergessen, welchen auch militärischen Beitrag wir von unseren Partnern genau zu dem Zeitpunkt, als es darauf ankam, erwarten konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD])

Dieses Grundverständnis ist eine wesentliche Voraussetzung, um unserem eigenen Anspruch gerecht zu werden, ein gestaltendes und solidarisches Mitglied in der internationalen Staatengemeinschaft zu sein und damit dem Frieden in der Welt zu dienen; ja, dem Frieden, nicht dem Schüren und der Aufrechterhaltung von Konflikten und auch nicht der Billigung solcher Konflikte dadurch, dass man sich genügsam zurücklehnt, in ferne Regionen dieser Welt blickt und einfach sagt: Was geht uns all das dort eigentlich an? – In der Regel geht es uns mittlerweile viel an.

Meine Damen und Herren, nur ein Staat, der über die Fähigkeit verfügt, sich zu wehren, ist in der Lage, seine Bürger zu schützen und seinen Bündnisverpflichtungen nachzukommen. In diesem Zusammenhang sage ich aber auch: Ein Schutzverständnis, das nur die eigenen Landesgrenzen kennt, würde jene verhöhnen, auf deren Schutz wir in Zeiten, als es nicht leicht war, bauen durften.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das Römische Reich zum Beispiel!)

Unsere Partner wissen – das dürfen sie auch weiterhin wissen –: Wir stehen zu unseren Verpflichtungen.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und zu unserem Grundgesetz! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Für diesen Hinweis brauchen wir Sie nicht, Herr Kollege!)

– Das Grundgesetz schafft hierfür Voraussetzungen. –

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Im Grundgesetz steht dazu doch etwas ganz Eindeutiges drin!)

Diese Verpflichtungen – auch die Basis des Grundgesetzes, die ihnen zugrunde liegt – haben Ergebnisse gezeitigt, über die man nicht schweigen muss. Auf dem Balkan haben auch wir unseren Beitrag dazu geleistet, dass der grauenvolle und blutige Bürgerkrieg der 90er-Jahre beendet werden konnte. In Bosnien-Herzegowina herrschen zumindest Frieden und eine gewisse Stabilität, auch wenn wir mit dem Erreichten noch nicht in jeder Hinsicht zufrieden sein können. Einige nicht erfolgte Entwicklungen geben gelegentlich auch Anlass zu Sorgenfalten, gerade wenn man in diese Region blickt.

Im Kosovo haben wir es gemeinsam mit unseren Verbündeten geschafft, dass letztendlich auf friedlichem Wege ein unabhängiger Staat geschaffen werden konnte. Er bleibt noch auf Hilfe angewiesen – das ist richtig – und hat noch einen harten Weg vor sich. Aber aufgrund unserer Erfolge im Rahmen der NATO haben wir unsere militärische Präsenz dort deutlich verringern können. Auch die Verringerung militärischer Präsenz ist letztendlich eine Zielsetzung, wenn man sie an solche Erfolge knüpfen kann.

Meine Damen und Herren, auch UNIFIL ist eine Erfolgsgeschichte. Es schadet nicht, am Tag nach dem anderen 9. November daran zu erinnern, dass wir im Hinblick auf den Schutz und die Sicherheit Israels auf ganz besondere Weise in der Pflicht stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In Afghanistan sind wir noch nicht am Ziel. Eigentlich wäre und ist dieses Ziel klar formuliert: Wir wollen, dass die Afghanen eines nicht allzu fernen Tages – ja, eines nicht allzu fernen Tages – in der Lage sind, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das sagen Sie alle Jahre wieder!)

– Auf diesem Wege, Herr Trittin – –

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein, das war der Herr Ströbele!)


– Entschuldigung! Also Herr Ströbele; Herr Trittin ist schon nach Hause gegangen. Aber die Stimmen gleichen sich an.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ströbele ist unverwechselbar!)

– Die Stimme ist nicht gleich der Schal, Frau Roth! Auf diesem Wege – das ist unbestreitbar – gab und gibt es Enttäuschungen. Gemeinsam mit unseren Verbündeten wollen wir – die Frau Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen – auf einer baldmöglichst stattfindenden Konferenz unsere Strategie zusammen mit den Vertretern Afghanistans, aber auch – das ist zwingend – in Abstimmung mit Vertretern der Nachbarstaaten auf eine neue Grundlage stellen. Es geht darum, die Zuständigkeiten schrittweise von der internationalen Gemeinschaft auf die afghanische Regierung zu übertragen, sobald diese dazu in der Lage ist. Gerade deshalb drängen wir darauf, dass die Regierung von Präsident Karzai schon bald und mit mehr Nachdruck die Voraussetzungen dafür schafft, dass dies erfolgen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In diesem Gesamtkontext wollen wir in ausgewählten Distrikten im Norden des Landes die Verantwortung für die Sicherheit baldmöglichst der afghanischen Regierung übergeben.

Die Frage der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte – ich denke dabei an die Ausbildung der Polizei wie der Armee – bleibt eine Schlüsselfrage. Deshalb dürfen wir jetzt bei der Ausbildung nicht nachlassen. Wir befinden uns bereits in einem Übergabeprozess.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)

– Der ist schon im Gange. – Mit unserer Strategie der Übergabe in Verantwortung nehmen wir die afghanische Regierung in die Pflicht, und wir werden nicht aufhören, die afghanische Regierung an diese ihre Pflicht zu erinnern. Am 19. November 2009 wird Präsident Karzai erneut in sein Amt eingeführt werden.

(Zuruf von der LINKEN: Demokratisch gewählt!)

– Ja. Aber lassen Sie mich einmal ausreden! – Das ist eine gute Gelegenheit für ihn, zu verdeutlichen, wie er seiner Verpflichtung zu guter Regierungsführung und zum Schutz der Menschenrechte nachkommen sowie wie er Drogenkriminalität und Korruption erfolgreich bekämpfen will.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Man muss nicht alles auf die internationale Gemeinschaft übertragen. Wir rufen den afghanischen Partnern freundschaftlich, aber mit aller Klarheit zu: Worte genügen nicht zur Verdeutlichung; den Worten müssen Taten folgen. Wir können unser Ziel in Afghanistan gerade mit Blick auf Übergabe in Verantwortung, so glaube ich, durchaus erreichen. Dies erfordert jedoch, dass wir alle Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, auf dieses Ziel ausrichten und sie erfolgreich zum Einsatz bringen. Auch hier haben wir noch Nachbesserungsbedarf. Dabei denke ich nicht nur an den Einsatz der Streitkräfte. Es bleibt richtig, die ressortübergreifenden Anstrengungen zu bündeln, und es ist nach meiner Überzeugung richtig, ein internationales Afghanistankonzept mit konkreten Zeit- und Zielvorgaben umzusetzen. Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Kabinettsausschuss der für Afghanistan verantwortlichen Bundesminister und die entsprechend ausgestaltete Position des Sonderbotschafters für Afghanistan sind wichtige Schritte.

Unsere Soldaten und die Soldaten unserer Partner – vergessen wir nicht: 43 Nationen stellen Truppen für die ISAF –, genauso aber die afghanischen Sicherheitskräfte nehmen ein hohes Risiko auf sich, und sie zahlen einen hohen Preis. Sie stehen häufig in zum Teil intensiven Gefechten. Gefahr, Verwundung und auch Tod sind allgegenwärtig. Meine Damen und Herren, das dürfen wir nicht mit bürokratischen Formeln weichzeichnen.

Ich plädiere dafür, zu sagen, was ist, schlicht und einfach. Die Menschen in unserem Lande können mehr Wahrheit vertragen, als wir uns bisweilen trauen, ihnen zuzutrauen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mehr noch sind es unsere Soldatinnen und Soldaten, die zu Recht verlangen, dass ihr Einsatz realistisch beschrieben wird, ohne jede Beschönigung, aber auch ohne jede Übertreibung. Ich kann gut verstehen, dass unsere Soldaten – aber es sind ja nicht nur unsere Soldaten – angesichts der kriegsähnlichen Situation etwa in Kunduz von Krieg sprechen. Ein klassischer Krieg ist es nicht. Das Völkerrecht ist hier glasklar: Kriege können nur zwischen Staaten geführt werden.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann muss man aber den Oberst verurteilen!)

– In Teilen von Afghanistan herrscht für mich aber ohne Zweifel ein Zustand, um vielleicht auch einmal diesen Zwischenruf aufzugreifen, der in der Sprache des Völkerrechts durchaus als ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt beschrieben werden könnte.

Im Einsatz werden unsere Soldaten immer wieder unter extremem Zeitdruck und enorm belastenden Umständen vor schwierigste Entscheidungen gestellt. Das war auch am 4. September dieses Jahres in Kunduz der Fall, als in kurzer Zeit eine Entscheidung von enormer Tragweite getroffen werden musste. Wie leicht doch heute manches Urteil von den Lippen geht, das ohne jeglichen Zeitdruck bequem aus der wohligen Entfernung gebildet werden kann.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich habe vor Kurzem eine Einschätzung dieses Vorfalls abgegeben, und ich bleibe bei dieser Einschätzung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Koalitionspartner haben sich für die nächsten Jahre viel vorgenommen, gerade auch hinsichtlich der Strukturen der Bundeswehr. Wir haben uns ein ehrgeiziges, ja, ein ambitioniertes Programm gegeben, damit die Bundeswehr die herausfordernden Aufgaben annehmen und ihnen gerecht werden kann.

Wir wollen, dass das Denken vom Einsatz her die Organisations- und auch die Führungsstrukturen der Bundeswehr künftig noch stärker durchdringt, ein Denken, das dann realitätsgebunden ist. Die Bundeswehr befindet sich in Einsätzen, und es werden nicht ihre letzten sein.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!)

Ob sie nun gewünscht oder gelegentlich zu Recht auch unerwünscht sind: Auch das gilt es offen anzusprechen. Auch deshalb und gerade, weil dieses Denken vom Einsatz her sich in den Organisationsstrukturen widerzuspiegeln hat, werde ich eine Kommission einsetzen, die bis Ende 2010 Vorschläge zu Eckpunkten einer neuen Organisationsstruktur der Bundeswehr inklusive der Straffung der Führungs- und Verwaltungsstrukturen zu erarbeiten hat. Es geht dabei nicht um eine Neuauflage der Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ aus dem Jahre 2000.

Wir wollen dort Anpassungen vornehmen, wo die Bundeswehr noch schlanker, noch effizienter, noch einsatzorientierter werden kann, und wir wollen – auch das ist ehrgeizig; ich weiß das – auch Abläufe von bürokratischen Fesseln befreien. Dazu wird die dann sicherlich geplagte Kommission Vorschläge ausarbeiten, und auf dieser Grundlage werde ich entscheiden.

Meine Damen und Herren, die Stärke der Bundeswehr bemisst sich nicht lediglich an der Zahl der Schiffe, der Panzer oder der Flugzeuge.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Auch der Soldaten!)

Es sind die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Bundeswehr so leistungsfähig machen und die, ebenso ihre Familien, unseren Dank verdient haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nicht zuletzt wollen wir, dass der Dienst in der Bundeswehr im Wettbewerb um die besten Köpfe – auch hier findet er ja statt – noch attraktiver wird. Es ist mein Ziel, dass die Gesellschaft diesen Dienst auf angemessene Weise würdigt. Das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft ist und kann keines der Ausgrenzung sein, es muss eines des Miteinanders sein. In diesem Zusammenhang will ich meinem Vorgänger Franz Josef Jung gerade für seine großen Leistungen in diesem Bereich auch einmal an dieser Stelle herzlich danken. Herzlichen Dank!

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In diesem Sinne verstehe ich die mittlerweile doch intensiv debattierte Kürzung des Wehrdienstes auf sechs Monate, die in dem auch in diesem Sinne ehrgeizigen Koalitionsvertrag vorgesehen ist, trotzdem auch als Chance.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)

– Ich glaube, meine Betonung war klar.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Wir werden den Grundwehrdienst so zu gestalten haben, dass die Soldaten spüren, dass sie gebraucht werden und nicht im Praktikum stehen und noch dazu einen attraktiven und sinnvollen Dienst für sich und ihre Mitbürger leisten. Das ist eine enorme Aufgabe, die wir in einem entsprechenden Zeitrahmen in Angriff nehmen müssen. Ich glaube aber, dass sie darstellbar ist.

Es gehört zu unserer gemeinsamen Verantwortung für die Bundeswehr, ihren Angehörigen einen attraktiven Arbeitsplatz zu bieten. So sichern wir nachhaltig die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Dabei spielt die Frage der Versetzungshäufigkeit ebenso wie ein neues Laufbahnrecht eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus sollen die Angehörigen der Angehörigen der Bundeswehr, die Familien, davon profitieren, dass wir die Vereinbarkeit von Familie und Dienst noch stärker in den Blick nehmen und zeitgemäße Kinderbetreuungsmöglichkeiten schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Soldaten der Bundeswehr haben geschworen, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Mit diesem Eid muten wir ihnen viel, sehr viel zu. Wir muten ihnen zu, sich der Gefahr zu stellen. Wir muten ihnen im äußersten Fall sogar zu, ihr Leben für uns zu opfern. Dieser Eid verpflichtet aber auch uns, die Bundesregierung und den Bundestag. Er verpflichtet uns, das zu tun, was in unserer Macht steht, um das Risiko, das unsere Soldaten tragen, so gering wie nur irgend möglich zu halten. Auch in Zeiten knapper Kassen übernehmen wir, wenn wir die Bundeswehr in ihre bisweilen gefährlichen Einsätze entsenden, die Verpflichtung, ihr das zur Verfügung zu stellen, was sie für die Ausfüllung ihres Auftrages und für einen größtmöglichen Schutz der Soldaten benötigt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist unsere Pflicht und unsere Schuldigkeit. Für ein Bekenntnis zu unserer Bundeswehr, auch und gerade zu einer solchen im Einsatz, muss man sich in diesem Lande nun wirklich nicht schämen. Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, dass der Blick auf die Regierungsbank, so wie sie heute aussieht, gewöhnungsbedürftig ist. Ich möchte bezweifeln, dass ich mich gerne daran gewöhne. Ich gebe auch zu, dass der Blick auf die drei Minister, die jetzt zusammen Außenpolitik betreiben wollen, aber auch die Töne, die sie von sich gegeben haben, mehr als gewöhnungsbedürftig sind. Wir werden uns daran nicht gewöhnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dieses Trio infernale wird die Politik in Deutschland nicht auf diese Art und Weise umgestalten können.

(Hellmut Königshaus [FDP]: Sie bleiben deutlich unter Ihrem Niveau!)

Ich fand das Angebot von Herrn Westerwelle attraktiv; er ist jetzt nicht mehr da. Meine Fraktion wird sein Angebot einer Zusammenarbeit so annehmen: Wir werden harten Widerspruch leisten, wo er notwendig ist. Das ist in fast allen Bereichen der Außenpolitik der Fall. Hier muss harter politischer Widerspruch erhoben werden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich fand es sehr verständlich, dass viele Kolleginnen und Kollegen, darunter die Kanzlerin und der Außenminister, ihre Reden in einen geschichtlichen Kontext eingeordnet und einen Wertebezug hergestellt haben. Ich teile jedoch die Inhalte nicht. Es sind verschiedene Werte genannt worden: die Westbindung der Republik, die soziale Marktwirtschaft – es wäre schön, wenn wir sie hätten –, die Wiederbewaffnung und vieles andere mehr. Diese Werte sollten aus meiner Sicht nicht bestimmend sein; ich habe einen anderen Wertekatalog. Mir ist aufgefallen – das finde ich schlimm und bedauerlich –, dass in der gesamten Auseinandersetzung mit der Geschichte nach 1945 und mit den Werten kein einziger Regierungsvertreter den Grundwert erwähnt hat, den wir zu verteidigen haben: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist augenfällig, dass diese Aussage nicht gekommen ist, dass nicht so argumentiert worden ist.

Es ist völlig richtig. Wir hatten ein gemeinsames Grundverständnis: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Dieses Grundverständnis ist gebrochen worden, und zwar bedauerlicherweise – darüber kommt man nicht hinweg – von einer SPD-grünen Bundesregierung. Der Krieg gegen Jugoslawien war der Beginn des Paradigmenwechsels der deutschen Außenpolitik.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Er ist fortgesetzt worden mit dem, was man mit der indirekten Unterstützung des Irakkriegs fabriziert hat. Es ist auch gut, einmal daran zu erinnern, dass diese Bundeskanzlerin deutsche Soldaten in den Irakkrieg schicken wollte. Bitte vergessen Sie das nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das Grundverständnis ist auch im Afghanistankrieg gebrochen worden. Der Kollege zu Guttenberg hat zu Recht gesagt, man solle nicht um die Dinge herumreden. Dann lassen Sie es uns hier aussprechen: Deutschland führt Krieg am Hindukusch. Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt. Das ist untergeschoben worden, um Art. 26 des Grundgesetzes auszuweichen. Deutschland führt Krieg am Hindukusch, und dieser Krieg wird immer mehr zu einem Angriffskrieg. Darum werden Sie nicht herumkommen.

Das stellt Sie jetzt vor rechtliche Probleme. Was passiert mit dem Oberst? Wir sind kein Gericht. Wir haben uns hier nicht über Urteile zu äußern. Was passiert mit dem Oberst? Wenn er nach deutschem Recht behandelt wird, dann wird er sich der Frage stellen müssen, ob es Totschlag war, als 142 Menschen umgekommen sind.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie haben doch gerade gesagt, Sie sagen nichts dazu!)

Wenn er nach internationalem Recht bzw. nach Kriegsvölkerrecht behandelt wird, ist es eine andere Kategorie. Wir ziehen daraus nur eine Schlussfolgerung: Der Krieg muss beendet werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Ende des Krieges beginnt auch damit, dass die deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen werden. Auch mit den ganzen Verrenkungen kommen Sie um die Frage nicht herum. Ich habe es mir extra aufgeschrieben: Herr zu Guttenberg sprach von einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“, sein Vorgänger von einem „robusten Stabilisierungseinsatz“. Es ist aber ein Krieg. Das Nein zu diesem Krieg ist notwendig. Ansonsten wird dieser Krieg Ihrer Außenpolitik wie ein Klotz am Bein hängen.

Im Übrigen sollten Sie Ihren Koalitionsvertrag noch einmal darauf überprüfen, was verfassungskonform ist.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was?)

– Sie bzw. Ihre Mitarbeiter, Herr Kauder, haben in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben, dass die Bundeswehr ein Instrument der deutschen Außenpolitik ist.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Genau!)

Das hätte Herr zu Guttenberg gerne, weil er auch ganz gerne Außenpolitik macht. Das glaube ich Ihnen ja. Aber das entspricht nicht dem deutschen Grundgesetz. Das ist grundgesetzwidrig.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir werden hier über die internationale Afghanistankonferenz zu diskutieren haben. Auch hierzu sage ich Ihnen: Wer das auf eine Initiative Merkel / Sarkozy beschränken will, tut einer solchen Konferenz Unrecht. Wir brauchen eine internationale Afghanistankonferenz unter dem Dach und der Verantwortung der UNO. Nichts anderes brauchen wir.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich weiß, dass Sie die Frage, ob Sie mehr Truppen entsenden, erst nach der Konferenz beantworten wollen. Sie benutzen die Konferenz auch ein bisschen, um die entsprechende Stimmung dafür zu schaffen. Deswegen sagen Sie, dass Sie jetzt bei der Mandatsverlängerung erst einmal im Rahmen des Mandates bleiben. Ich sage Ihnen: Wir müssen als Bundestag überprüfen, ob wir nicht ein anderes Signal setzen sollten. Ich glaube, eine kopflose Verlängerung der bestehenden Mandate gefährdet Afghanistan und auch die deutschen Soldatinnen und Soldaten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich möchte abschließend etwas zu der sehr schönen Formulierung einer wertegebundenen und interessengeleiteten Außenpolitik im Koalitionsvertrag sagen. Ich habe als Linker Erfahrung damit, wenn man Politik ideologisiert. Dabei kommt meistens Unsinn heraus. Was Sie als wertegebunden und interessengeleitet vorstellen, ist eine Ideologisierung der deutschen Außenpolitik. Dann fangen Sie an, die Werte zu beschreiben. Das müssen Sie auch zu Ende denken. Sie schreiben in diesem Abschnitt, dass der Kern des Begriffs „wertegebunden“ die Idee der westlichen Werte ist. Erklären Sie mir doch einmal, was für Sie die westlichen Werte sind! Wie wollen Sie in den Vereinten Nationen, die gerade auf Wertevielfalt und kultureller Vielfalt beruhen, die westlichen Werte durchsetzen? Das sollten Sie einmal der Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen als politisches Konzept anbieten. Dann können Sie sich Ihren Platz im Weltsicherheitsrat gleich abschminken; der ist sowieso weg.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe vor, den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zu bitten, eine wissenschaftliche Ausarbeitung vorzunehmen, was man unter westlichen Werten versteht. Ich möchte wissen, was Sie durchsetzen wollen. Im Koalitionsvertrag äußern Sie sich nicht genauer dazu. Der einzige Wert, auf den Sie durchgehend hinweisen, ist die freiheitliche Ordnung der Weltwirtschaft, das heißt die Ordnung der Märkte sowie der Zugang zu Märkten und Profiten. Das ist für mich als Werteorientierung für dieses Parlament und unser Land zu wenig.

Schönen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nun hat das Wort der Kollege Omid Nouripour für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister Guttenberg. Nach dieser Rede war versucht, zu sagen: Herr Außenminister Guttenberg. Sie haben nun ein neues Amt in dieser Regierung. Ich möchte Ihnen im Namen meiner Fraktion zu diesem Amt gratulieren. Wir wollen Sie gerne unterstützen und mit Ihnen zusammenarbeiten. Allerdings werden wir Sie nicht an Ihren Worten und Reden, sondern an Ihren Taten messen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wissen, dass der Schwerpunkt Ihrer Amtsführung die Auseinandersetzung in Afghanistan sein wird. In diesem Zusammenhang kann ich nur begrüßen, dass Sie die vielen Verrenkungen Ihres Vorgängers um die sogenannte K-Frage ein Stück weit klargestellt und Platz für relevante Fragen geschaffen haben. Die relevanten Fragen ergeben sich natürlich auch aus Ihrer Terminologie. Was bedeutet die Feststellung, dass kriegsähnliche Zustände in Afghanistan herrschen, für die Rechtsgrundlage des Einsatzes? Was bedeutet das für die Soldatinnen und Soldaten sowie ihre Familien? Was bedeutet das für die Ausrüstung? Was bedeutet das – das ist die zentrale Frage – für den lebensnotwendigen zivilen Aufbau in Afghanistan? Darüber müssen wir im Parlament diskutieren, auch im Vorfeld von internationalen Konferenzen. Ich hoffe, dass die anstehende Konferenz mehr bringt als so manch andere, die wir in der Vergangenheit zum Thema Afghanistan erlebt haben. Das Parlament ist jedenfalls der Ort der Auseinandersetzung. Ich verspreche Ihnen daher: Jegliche Versuche der Koalition, die Rechte des Parlamentes bei der Beteiligung an Auslandseinsätzen zu beschneiden, werden auf härtesten Widerstand meiner Fraktion stoßen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen hier im Parlament eine Diskussion, weil eine Abzugsperspektive notwendig ist; das haben Sie selber gesagt. Eine solche Perspektive können wir nur mit einer offenen Diskussion schaffen. Eine solche Diskussion muss mit dem Vorfall am 4. September 2009 in Kunduz beginnen. Sie kann aber nur stattfinden, wenn wir eine Grundlage dafür haben. Das kann nur ein von Ihnen vorgelegter Bericht sein, da die NATO die entsprechenden Papiere nicht herausgibt. Wir befinden uns in der absurden Situation – das muss man sich einmal vorstellen –: Gestandene Parlamentarier, die den Bericht gelesen haben, dürfen sich im Verteidigungsausschuss darüber nicht miteinander unterhalten, während der deutsche NATOGeneral Egon Ramms in der Öffentlichkeit die heiklen Punkte einen nach dem anderen erörtert. Das geht so nicht. Diese Situation wird diesem Hause nicht gerecht,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn er mit den Punkten, die er angesprochen hat, recht hat – ich habe keinen Anlass, dies zu bezweifeln –, dann geht das, was Sie, Herr Minister, gesagt haben, nicht mehr. Sie haben – auch das begrüße ich als wichtige Abkehr von der Politik Ihres Vorgängers – Regelverstöße eingeräumt und zugegeben, dass es zivile Opfer gegeben hat. Aber die Aussage, die Regelverstöße seien nicht so wichtig, weil das Ergebnis am Ende sowieso das gleiche gewesen wäre, bagatellisiert zentrale Regeln der Operationsführung, die zur Vermeidung ziviler Opfer aufgestellt worden sind. Deshalb kann ich nur sagen: So geht es leider nicht, Herr Minister.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben es zwar leicht, sich von Ihrem Vorgänger abzusetzen, was die Initiativkraft betrifft. Sie haben es aber schwer, wenn es darum geht, den Koalitionsvertrag umzusetzen; denn er ist rückwärtsgewandt, ideenlos und vor allem widersprüchlich.

Beispiel Wehrpflichtverkürzung auf sechs Monate.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Die Liberalen sind eingeknickt. Es hat sich die alte Ideologie durchgesetzt, und deshalb dürfen wir die Wehrpflicht als kostspielige Hommage an den Kalten Krieg weiterbehalten. Sechs Monate:

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Oh!)

Drei Monate Grundausbildung, zwei Monate Fachausbildung – das macht fünf Monate –, ein Monat Fachdienst und ein Monat Urlaub – das sind keine sechs Monate. Ich verstehe gar nicht, wie Sie gerechnet haben. Ich bin sehr gespannt, wie Sie da herauskommen wollen. Hier haben wir eine dreifache Verschwendung, wenn wir die Wehrpflicht von sechs Monaten nicht abschaffen. Sie ist militärisch komplett sinnlos: Wir verschwenden militärisches Personal bei der Ausbildung, wir verschwenden Steuermittel der Bürgerinnen und Bürger, und wir verschwenden vor allem Lebenszeit von jungen Menschen. Das muss einfach nicht sein. Die Wehrpflicht gehört abgeschafft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich komme jetzt zum Schluss. Ich habe noch einige andere Beispiele. So kommt im Zusammenhang mit der Abrüstung das Wort „Kleinwaffen“ überhaupt nicht im Koalitionsvertrag vor.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein zentraler Punkt!)

Kleinwaffen sind aber etwas, über das ein renommiertes Institut in Bonn sagt, das seien die Massenvernichtungswaffen des 21. Jahrhunderts. Beim Thema Nukleartechnologie sagen Sie „Keine neuen Atommächte!“, aber Sie geben weiterhin Hermesbürgschaften für den Export von Nukleartechnologie. Anscheinend hat man am Beispiel des Iran nicht gesehen, dass es von militärischer und ziviler Nutzung zu ein Katzensprung ist.

Herr Minister, es gibt einiges für Sie zu tun. Wir werden sehr genau hinschauen, ob dieser Koalitionsvertrag etwas ist, mit dem Sie sich befassen, oder ob Sie tatsächlich eine ganz neue Politik werden entwickeln müssen. Ich glaube, so wird es kommen. Wir sind sehr gespannt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Elke Hoff das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Elke Hoff (FDP):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich darf die Gelegenheit nutzen, Herrn Minister zu Guttenberg für seine in hohem Maße angemessene und zutreffende Rede zu danken, die er heute hier unmittelbar nach der Feierlichkeit, die wir gestern in Berlin verfolgen und miterleben konnten, gehalten hat, weil ich der festen Überzeugung bin, dass gerade die Bundeswehr nicht nur Ausdruck der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geworden ist, sondern eben auch ein Symbol für die erfolgreiche, gelungene Wiedervereinigung der beiden getrennten Deutschlands. Ich denke, dass gerade hier die Bundeswehr eine besondere Leistung erbracht hat, für die ein umfassender und gebührender Dank notwendig ist.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es haben heute schon eine Reihe von Vorrednern den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ganz ausdrücklich für ihre Auslandseinsätze gedankt, für ihren Einsatz von Leib und Leben, für die Angst und die Sorge der Familien. Ich möchte dieses natürlich auch für die FDP-Fraktion wiederholen und um einen Aspekt erweitern, gerade aufgrund der aktuellen Ereignisse, die zurzeit in Afghanistan die Herzen und Köpfe auch unserer Verbündeten bewegen. Wir haben in der vergangenen Woche erleben müssen, dass bei einer Ausbildung von afghanischen Polizisten britische Soldaten ermordet worden sind. Ich glaube, dass wir uns von dieser Stelle als Verbündete an die britischen Kolleginnen und Kollegen und an die britischen Familien wenden und dafür danken sollten, dass sie unter diesen schwierigen Umständen Leib und Leben einsetzen, damit Afghanistan stabiler und in die Lage versetzt wird, für die eigene Sicherheit zu sorgen. Ich denke, das ist auch ein Ausdruck von Bündnissolidarität an dieser Stelle.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, dass der Koalitionsvertrag, den wir gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen von der Union beschlossen haben, im sicherheitspolitischen Bereich gerade auch mit Fokus auf die Bundeswehr ein guter ist. Es wird sehr deutlich, dass uns allen daran gelegen ist, dass die Bundeswehr in Zukunft eine moderne und eine leistungsfähige Armee wird, die in der Lage ist, die durch das Parlament gestellten Aufgaben zu erfüllen. Ich kann weder Herrn Erler noch den Kollegen Nouripour verstehen, dass sie in irgendeiner Form daran zweifeln, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz ausgehöhlt werden soll. Das Gegenteil ist der Fall.

(Beifall bei der FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist ja gut!)

Für alle Fälle, die auftreten können – insbesondere wenn Gefahr im Verzug ist; ich kann mich sehr gut an die Diskussionen über den Einsatz der NATO-Response- Force oder der EU-Battle-Group erinnern; es hieß, das Parlament könne nicht schnell genug reagieren –, soll ein Gremium geschaffen werden, das in solchen Situationen unverzüglich dafür sorgt, dass der Deutsche Bundestag informiert wird. Ich denke, dass man hier von einer Einschränkung oder Aushöhlung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nicht reden kann.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Man kann bei näherem Studium des Koalitionsvertrages feststellen, dass es im Bereich der Afghanistanpolitik durchaus eine Wende gibt; denn zum ersten Mal steht ausdrücklich in einem Koalitionsvertrag – ich darf an dieser Stelle zitieren –:

Wir bekennen uns zum Ansatz einer Vernetzten Sicherheitspolitik. Dies erfordert moderne und leistungsfähige Streitkräfte und geeignete zivile Instrumente zur internationalen Konfliktvorsorge und -bewältigung sowie eine noch engere Integration und Koordinierung. In künftige Mandate für Einsätze im Ausland werden wir konkrete Benennungen der zu leistenden Aufgaben sowie deren Zuteilung auf die verantwortlichen Ressorts aufnehmen.

Ich halte dies für einen hervorragenden Ansatz. Dadurch haben wir hier im Parlament die Gelegenheit, über diese konkreten Benennungen zu diskutieren und letztendlich auch darüber zu entscheiden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Seitdem die Bundeswehr an internationalen Einsätzen teilnimmt, also seit etwa 15 Jahren, haben rund 300 000 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst dort getan. Zurzeit tun pro Jahr rund 60 000 bis 70 000 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst in den aktuellen Auslandseinsätzen. Herr Minister, ich kann Ihnen nur zustimmen: Wir können stolz auf diese Bundeswehr sein. Sie ist nämlich ein Aushängeschild der Bundesrepublik Deutschland, auch in ihrer außenpolitischen Darstellung, wenn es darum geht, an friedensschaffenden, friedensstiftenden Maßnahmen und an Aufbaumaßnahmen teilzunehmen.

Wir haben heute sehr viel zu den Ereignissen in Kunduz gehört. Ich möchte mir an dieser Stelle nicht anmaßen, über die Situation, in der sich Oberst Klein – den ich bei meinem letzten Besuch dort im Juni dieses Jahres kennengelernt habe – befindet, ein Urteil zu erlauben. Ich finde, dass es uns nicht ansteht, an dieser Stelle über diese Dinge zu urteilen. Wofür wir aber zu sorgen haben – das haben auch vergangene Debatten gezeigt –, ist, dass unsere Soldatinnen und Soldaten Rechtssicherheit haben und dass für den Fall, dass es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommt, die Gerichte qualifiziert in der Lage sind, sich mit diesen Sachverhalten auseinanderzusetzen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das haben wir auch im Koalitionsvertrag so niedergeschrieben. Ich bin sehr froh darüber, dass es gelungen ist – ich verweise auf die Leistungen für die Bundeswehr, die wir in den vergangenen Jahren im Parlament auf den Weg gebracht haben; ich denke beispielsweise an das Einsatz- Weiterverwendungsgesetz –, klarzumachen, dass wir auch andere Schritte gehen wollen: Wir wollen das Thema „Vereinbarkeit von Dienst und Familie“ in den Mittelpunkt stellen, und wir wollen die Kinderbetreuung ausbauen.

Wir wollen aber auch einen anderen Punkt anpacken. Ich freue mich noch heute, dass es hier im Parlament gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu bringen. Darin wird die Frage behandelt: Wie gehen wir mit den mittel- und langfristigen Folgen von militärischen Einsätzen im Ausland für unsere Soldatinnen und Soldaten um? Dabei geht es um das Thema der posttraumatischen Belastungsstörung. Wer in den letzten Wochen die Presse verfolgt hat und sehen konnte, dass sich insbesondere unsere amerikanischen Verbündeten mit diesem Thema erheblich beschäftigen müssen – damit verbunden sind erhebliche Probleme innerhalb der Truppe –, der kommt sicherlich wie ich zu der Meinung: Wir haben richtig daran getan, uns mit diesem Thema möglichst frühzeitig zu befassen. Herr Minister, ich hoffe, dass es sehr schnell gelingen wird, das, was wir hier niedergeschrieben haben, in die Realität umzusetzen.

Ich glaube, dass wir innerhalb des Bündnisses dadurch einen wichtigen Beitrag leisten können, dass wir die gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung stellen.

Unsere Soldatinnen und Soldaten und deren Familien müssen wissen, dass sie nicht alleingelassen werden, wenn wir politisch darüber beschlossen haben, die Bundeswehr auch als Mittel der Außenpolitik einzusetzen. Auch das Thema Ausrüstung spielt im Koalitionsvertrag eine Rolle.

Es ist eben dankenswerterweise von Herrn Minister zu Guttenberg gesagt worden, dass nur eine gut ausgerüstete und ausgebildete Armee in der Lage ist, den Auftrag, den wir ihr politisch erteilen, zu erfüllen. Dazu gehört auch, die nötigen finanziellen Mittel bereitzustellen, damit unsere Soldatinnen und Soldaten wissen, dass wir als Parlamentarier wirklich hinter ihnen stehen und es unser Ziel ist, sie möglichst wohlbehalten und unversehrt wieder nach Hause zu bringen. Insofern hat eine vernünftige Ausrüstung der Bundeswehr nach wie vor oberste Priorität.

Wir haben in unserem Koalitionsvertrag auch etwas zu großen Beschaffungsvorhaben gesagt. Hier ist die Industrie gefordert, ihre Aufgaben zu erfüllen. Ich denke an das Thema A400M, an das Thema Eurofighter und an einen weiteren Bereich, der nicht explizit im Koalitionsvertrag erwähnt wird, nämlich den Zulauf der Hubschrauber. Hier muss unsere Industrie zeigen, dass sie wirklich in der Lage ist, die nötigen und angemessenen Technologien zum richtigen Zeitpunkt zu liefern. Meine Damen, meine Herren, ich denke, wir als FDPFraktion haben gemeinsam mit den Kollegen der Union gezeigt, dass wir bereit sind, im sicherheitspolitischen Bereich Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung zu tragen und diese inhaltlich zu füllen. Wir stehen natürlich für Diskussionen hier im Parlament gerne zur Verfügung, aber unsere gemeinsame Aufgabe muss es sein, die inhaltlichen Konflikte, die möglicherweise zwischen uns bestehen, nicht auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten und deren Familien auszutragen. Wenn ein Mandat diesen Bundestag verlässt, muss es klar sein, und es muss für die Soldatinnen und Soldaten eindeutig erkennbar sein, in welche Richtung die Reise gehen soll. Es darf nicht sein, dass am Ende der Reise Unsicherheiten innerhalb der Truppe dazu führen, dass wir Politikerinnen und Politiker unsere Glaubwürdigkeit verlieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich weiß, dass Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein schwieriges Thema ist. Es ist sicherlich auch kein Thema, mit dem man in der Öffentlichkeit sehr viele Pluspunkte sammeln kann; denn es gilt hier – das hat Minister zu Guttenberg zu Recht gesagt –, Wahrheiten zu formulieren. Aber ein Staat, der nicht in der Lage ist, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen und in einem kollektiven Verteidigungsbündnis Verantwortung zu übernehmen, verfolgt eine falsche Politik. Deswegen lassen Sie uns versuchen, hier gemeinsam den richtigen Weg zu gehen.

Ich möchte jetzt, obwohl mich die Präsidentin schon ermahnt, dass ich die Redezeit überschritten habe, noch einen Satz zum Thema Wehrpflicht sagen: Ja, bei dem, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, handelt es sich um einen Kompromiss. Ich glaube aber, dass durch die Reduzierung des Wehrdienstes auf sechs Monate auch Druck auf die Bundeswehr als Arbeitgeber und Wettbewerber auf dem Arbeitsmarkt ausgeübt wird, darüber nachzudenken, ob sie in der Lage ist, mit diesen Strukturen ihre Ziele zu erreichen. Falls nicht, müssen wir am Ende der Reise eine Neubewertung vornehmen und dazu übergehen, uns bei den Formen der Beschaffung von Nachwuchs für die Bundeswehr neu zu orientieren. Ich denke, das ist ein offener Prozess.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber eine subversive Lösung!)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollegin Hoff, das war ein sehr langer Satz. Sie wissen, die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich darauf geeinigt, Redezeiten zu übertragen, aber gegebenenfalls auch Minuszeiten anzurechnen. Ich sage das nur im Interesse ihrer Kolleginnen und Kollegen, die nach Ihnen reden werden.

Elke Hoff (FDP):

Jawohl, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich auf die gemeinsame Zusammenarbeit in der neuen Legislaturperiode. Ich freue mich auch auf die Zusammenarbeit mit dem neuen Verteidigungsminister. Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Rainer Arnold (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister zu Guttenberg, zunächst auch von unserer Seite die herzlichsten Glückwünsche zu einem Amt, von dem wir wissen, dass es ein ganz besonders verantwortungsvolles ist, weil Sie die Verantwortung für Soldatinnen und Soldaten tragen, die für unser Gemeinwesen im Zweifelsfall mit ihrem eigenen Leben eintreten. Weil dem so ist, verdient die Bundeswehr jenseits unserer unterschiedlichen Aufgaben in Regierung und Opposition einen gewissen Grundkonsens vonseiten der Politik. Wir wollen Ihnen ausdrücklich anbieten, diesen mitzutragen, wenn es um das soziale Gefüge der Streitkräfte, um die Attraktivität des Dienstes, um modernes Gerät, das die Soldaten schützt, und um die Prozesse der Transformation geht. Bei all diesen Feldern wollen wir Sie parlamentarisch sehr eng begleiten. Wir werden aber im Zuge dieser Begleitung auch von unseren Rechten als Opposition sehr engagiert und kreativ Gebrauch machen. In einem Punkt sind wir allerdings völlig anderer Meinung: Ihren Beschluss zur Wehrpflicht können Sie in Ihrem Koalitionsvertrag in die große Kategorie einordnen, die mit der Überschrift „Murks“ versehen werden könnte; denn er wird der Aufgabe in keiner Weise gerecht.

(Beifall bei der SPD)

Dieser Beschluss entzieht der Truppe materielle und finanzielle Ressourcen und gibt ihr nichts zurück. Er dient lediglich dazu, aus der Wehrpflicht ein Instrument zur Nachwuchsgewinnung zu machen. Das ist aber nicht im Sinne unserer Verfassung.

Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Überlegen Sie sich wirklich einmal, ob wir nicht gemeinsam Freiwilligendienste in unserer Gesellschaft so attraktiv machen, dass genügend junge Frauen und Männer sagen: Jawohl, bei der Bundeswehr leiste ich meinen Dienst an der Gesellschaft. Aber die größte Herausforderung bleiben natürlich die internationalen Einsätze der Bundeswehr. Hier wurde schon einiges zu Afghanistan gesagt, auch mit Blick auf die aktuelle Debatte zur Bombardierung der Tanklastzüge und der Menschen in der Nähe dieser Tanklastzüge. Ich glaube, wir müssen da eine rechtliche und eine politische Bewertung vornehmen. Zunächst zur rechtlichen Bewertung: Ich finde es positiv, dass dieser Vorfall in Karlsruhe bewertet wird und dass dabei möglicherweise das Völkerstrafgesetzbuch als Maßstab genommen wird. Ich füge aber hinzu: Dies hat die Justiz angesichts der Dimension der dortigen Situation entschieden; es ist nicht vom Minister initiiert worden. Ich wünsche allen Soldaten und uns, dass daraus mehr Rechtssicherheit entsteht. Dies wäre ein positiver Weg. Wir haben großes Verständnis – und hoffen, dass auch die Juristen das haben – für die schwierige Situation der Soldatinnen und Soldaten in Kunduz aufgrund des Drucks und der alltäglichen Bedrohung.

(Elke Hoff [FDP]: Ja!)

Wir haben aber kein Verständnis dafür, wie Sie, Herr Minister, den ISAF-Bericht interpretieren. Dieser Bericht ist eindeutig in seiner Sprache. Er ist wahrhaftig umfassend.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Haben Sie ihn gelesen?)

– Natürlich habe ich ihn gelesen, Herr Kollege, beim besten Willen! Ich habe ihn von Anfang bis Ende gelesen.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was stand denn drin? Ich möchte es auch wissen!)

Sie kultivieren hier Ihr Image, Klartext zu reden, und ich finde es gut, wenn jemand das tut. Aber exakt an dieser Stelle, wo es sehr ernst wird in diesen Tagen, verfahren Sie im Grunde genommen wie Ihr Vorgänger Herr Jung. Auch er hat am Anfang verniedlicht, scheibchenweise informiert

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war das Schlimme!)

und zivile Opfer bestritten. Ebenso reden Sie jetzt nicht Klartext, sondern sagen, es habe Verfahrensfehler gegeben. Herr Minister, in aller Deutlichkeit: Es gab gravierende Verstöße gegen die ISAF-Einsatzregeln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das müssen Sie sagen, wenn Sie die Öffentlichkeit korrekt informieren wollen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie zu der Einschätzung kommen, dass es mit einer gewissen Zwangsläufigkeit auch ohne diese Verstöße zum Abwurf der Bomben gekommen wäre. Das ist schlichtweg falsch. Wären die Regeln eingehalten worden, hätte in Kunduz selbst diese Entscheidung nicht mehr getroffen werden können. Sie hätte nur im ISAF-Headquarter entschieden werden können. Es gab keine unmittelbare Bedrohung, und es gab auch keine Truppen am Boden, die in unmittelbarem Kontakt waren. Die Debatte ist schwierig und auch unfair gegenüber der Öffentlichkeit, weil wir den Bericht im Gegensatz zur Öffentlichkeit kennen. Aber auch die Öffentlichkeit würde gerne wissen, was dort wirklich los war. Sie erfährt es aber nicht. Das ist kein guter Zustand. Wir wünschen uns, dass das geändert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es bedarf aber auch einer politischen Bewertung des Einsatzes, und diese ist für uns gravierend. Sie sagten: Dies war angemessen. – In aller Deutlichkeit: Wir halten den Abwurf von Bomben auf Menschenansammlungen in Afghanistan weder für verhältnismäßig noch für angemessen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Risiko für Zivilpersonen ist generell latent vorhanden. Das mussten die amerikanischen Freunde bei solchen Einsätzen in den letzten Jahren schmerzhaft lernen. Zum Glück haben sie es gelernt und begriffen. Nun sagen wir, das sei ein normaler Vorgang. Wir wissen aber auch, dass die Taliban zivile Opfer provozieren. Gerade deshalb muss man an dieser Stelle besonders aufpassen. Herr Minister, wir können keine Strategie mittragen, die zivile Opfer billigend in Kauf nimmt. Die Zivilbevölkerung in Afghanistan verdient den gleichen Schutz und sie hat den gleichen Wert wie die Menschen in Deutschland und überall auf der Welt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Für die Soldaten der Bundeswehr ist es ein sehr hohes Gut, dass ihre Mandate eine breite parlamentarische Unterstützung erfahren. Die Sozialdemokraten werden sich auch in der Opposition in diesen Fragen nicht einfach aus der Verantwortung stehlen.

Sie hatten allerdings in dieser Frage keinen guten Start. Manchmal habe ich den Eindruck, dass manches Wort, das Sie in die Debatte werfen, ein wenig zu beifallheischend ist. Dies wird aus unserer Sicht der Komplexität der Situation in Afghanistan und der Größe der Herausforderung nicht gerecht. Sie haben bis zur Debatte über die Afghanistanmandate noch die Chance, die Opposition einzubeziehen. Sie haben noch die Chance, zu vermeiden, dass aus Falsch plötzlich Richtig wird, was nicht sein darf.

Wir bitten Sie also, diese Chance zu nutzen. Unser Angebot besteht nach wie vor, weil wir wollen, dass Beschlüsse zu Afghanistan gefasst werden, mit denen die Debatte nicht vertagt wird. Manchmal habe ich die Sorge, dass alle nur auf die Afghanistankonferenz warten. Dies wäre zu spät. Wir brauchen diese differenzierte Debatte schon in den nächsten Wochen. Unser Rat ist: Nehmen Sie dabei die Opposition mit. Die Bundeswehr und ihre Soldaten hätten dies wirklich verdient. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich dem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – Frau Staatssekretärin, bitte richten Sie ihm dies aus – zu seiner Jungfernrede gratulieren. Ich kann jedes Wort, das er gesagt hat, unterschreiben.

(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Oh! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Christian!)

Er bewegt sich vollkommen auf der Basis des Koalitionsvertrages. Deswegen kann ich seine Ausführungen doppelt unterstreichen.

Der Mauerfall in Deutschland vor 20 Jahren, den wir in diesen Tagen zu Recht feiern, hat damals eine neue Ära in der deutschen Entwicklungspolitik eingeleitet. Es ging nun nicht mehr darum, welches Land zu welchem Bündnis gehört, ob zum Osten oder zum Westen. In den Fokus rückten vielmehr andere Dinge, nämlich gute Regierungsführung, Beachtung der Menschenrechte sowie das Eintreten für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Es ging um Schwerpunktsetzung – dazu gehörte damals auch die Umwelt –, und es ging um höhere Effizienz. Diese Neuorientierung unter der damaligen christlichliberalen Koalition hat Maßstäbe gesetzt, die bis heute gelten und an denen sich auch der neue christlich-liberale Koalitionsvertrag orientiert. Allerdings sind die Herausforderungen in der Entwicklungspolitik inzwischen erheblich größer geworden. Auch die Bedeutung der Entwicklungspolitik ist enorm gestiegen.

Die Entwicklungspolitik hat tatsächlich das damalige Nischendasein beendet und ist zu einem wichtigen Bestandteil der Zukunftsvorsorge geworden, und zwar auch der Zukunftsvorsorge in Deutschland und in Europa.

Ganz anders als damals sind jetzt, 20 Jahre später, das Wohl und Wehe auch für uns in Deutschland abhängig von den Entwicklungen in den Entwicklungs- und Schwellenländern, und zwar in wirtschaftspolitischer, sozialpolitischer, umweltpolitischer und sicherheitspolitischer Hinsicht. Es kommen auf die Entwicklungspolitik gewaltige Herausforderungen zu: die Sicherung der gemeinsamen Ernährungsbasis und der Schutz unseres Klimas, die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, die Entschärfung sozialer Brandsätze und die Bekämpfung des Terrorismus durch eine ausgewogene, nachhaltige Entwicklung in den Entwicklungs- und Schwellenländern, die dem Radikalismus den Boden entzieht.

Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass sich die Unionsfraktion all die letzten Jahre sehr intensiv um geeignete Antworten auf diese Herausforderungen bemüht hat. Ich glaube, dass die Entwicklungspolitik der letzten Jahre durchaus große Erfolge erzielt hat. Das steht im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Erler, uns vorhalten möchten. Wir sind inzwischen der zweitgrößte Geber.

Wir haben einen Quantensprung im Klimaschutz erzielt. Wir haben eine vernünftige Lösung auf dem Weg zur Beendigung des Gießkannenprinzips und bei der Schwerpunktsetzung gefunden. Wir haben zum ersten Mal Mittel aus Emissionserlösen für den Klimaschutz in Entwicklungsländern eingesetzt. Wir haben auch einen ersten wichtigen Schritt zur Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellenländer in globale Absprachen gemacht. Ich habe immer gesagt: Es war ein Gemeinschaftswerk.

Die Zusammenarbeit und das Klima unter den Entwicklungspolitikern, auch im AwZ, waren gut. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Damals, 2005, kam es aber – das möchte ich ganz deutlich sagen – zu einer Änderung der Kanzlerschaft in diesem Lande.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gegen größte Schwierigkeiten eisern das eingehalten, was ihr Vorgänger mal schnell versprochen hatte. Ich darf daran erinnern, dass der Entwicklungshaushalt, Herr Erler, unter Angela Merkel um 50 Prozent zugelegt hat, nachdem er zuvor, ab 1998, unter Rot-Grün um 3 Prozent abgenommen hatte.

Wir haben uns damals zwischen den Koalitionären über manches nicht einigen können. Deswegen freue ich mich, dass wir uns in der neuen Koalition rasch und konzentriert über ein neues Kursbuch haben einigen können – mit konkreten Schritten bei der Vorfeldreform, mit klaren Festlegungen zu den Schlüsselsektoren, mit einem klaren Bekenntnis zu den finanziellen Zusagen und einer klaren Aussage zur Reform der europäischen und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Ein wichtiger Punkt in diesem Vertrag ist der Satz, dass wir im Rahmen guter Regierungsführung und fairen Handels sowie im Rahmen von Bildung und der schon erwähnten Mikrofinanzierung nachhaltige Strukturen schaffen wollen, damit sich Menschen eigenverantwortlich entfalten können. Hilfe zur Selbsthilfe ist der rote Faden, der diesen Koalitionsvertrag prägt. Das bedeutet natürlich, dass es nicht nur um staatliche Entwicklungszusammenarbeit geht, sondern, wie wir es in den Vertrag geschrieben haben, auch darum, dass wir auf die Nichtregierungsorganisationen und den Einfluss und das Engagement der Kirchen setzen und dass wir insbesondere die politischen Stiftungen, und zwar die aller Parteien, für ganz wichtige Akteure im entwicklungspolitischen Geschäft halten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich bin froh, dass im Koalitionsvertrag enthalten ist, dass wir nicht nur den Ländern mit guter Regierungsführung und gutem entwicklungspolitischen Management helfen, sondern dass wir auch diejenigen Menschen nicht im Stich lassen wollen, die in fragilen und autoritären Staaten oder auch in Staaten leben, von denen für uns Gefahr ausgeht. Wir wollen weiterhin Mittel und Wege finden, schlechte Regierungsführung zu transformieren. Auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt des Koalitionsvertrags. Wichtig ist auch, dass wir eine bessere Arbeitsteilung und Kontrolle erreichen. Wir wollen und müssen eine stärkere Kontrolle der europäischen Entwicklungspolitik – Kollege Königshaus, das war immer ein Anliegen der FDP – durchsetzen; denn wir haben oft den Verdacht, dass viele Gelder deswegen so schnell und zum Teil auch schlampig abfließen, weil man ansonsten sagen müsste, man habe das Geld nicht untergebracht. Das ist der Hintergrund dafür, dass wir darauf Wert gelegt haben, wieder zu einer vernünftigen Aufteilung zwischen nationalem und internationalem Geld zu kommen, nämlich im Verhältnis von einem Drittel zu zwei Dritteln. Es geht dabei darum, die Mittel dort einzusetzen, wo sie effizient eingesetzt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine Damen und Herren, über die Passage zu den Schwellenländern bin ich froh und dankbar; denn wir haben uns hier sehr viel Mühe gegeben. Ich glaube, dass die Staatengemeinschaft ohne die Schwellenländer keinen Fuß in die Tür bekommt, wenn es um einen Ausweg aus der Weltwirtschaftskrise geht, und schon gar nicht, wenn es um Sicherheitspolitik, Umweltpolitik und um Armutsbekämpfung geht. Deswegen ist es richtig, dass die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern für uns eine sehr große Bedeutung hat.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Dabei geht es immer weniger um die klassische Entwicklungshilfe, sondern vor allem um Einflussnahme auf die Entwicklung durch Entwicklungspolitik. Herr Niebel, ich gebe Ihnen auch recht, wenn Sie sagen, es sei viel zu kurz gesprungen, das BMZ auf Armutsbekämpfung zu reduzieren, und wenn Sie neulich unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Hinblick auf den Mittelstand und die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern auf die „Geländerfunktion“ des Entwicklungsministeriums hingewiesen haben. Das BMZ verfügt über den zweigrößten Investitionshaushalt der Bundesrepublik und ist dafür verantwortlich, dass 250 000 Arbeitsplätze gesichert werden. Dies geschieht vor allem in der Zusammenarbeit mit den Schwellenländern.

Herr Minister, ich versichere Ihnen, dass Sie unsere Unterstützung auch bei einem ganz schwierigen Geschäft haben, nämlich der Verzahnung des Außenhandels.

Wie man in Afghanistan sieht, ist die Verzahnung des Außenhandels ein Gebot des Überlebens, und zwar nicht nur für unsere Soldaten, sondern auch für alle, die in der Entwicklungshilfe tätig sind. Ihnen danke ich an dieser Stelle ebenfalls für ihr Engagement; auch unter ihnen gibt es viele Opfer, an die wir denken sollten. Die Verzahnung zwischen den Politikbereichen ist und bleibt eine sehr schwierige Daueraufgabe. Wir werden Sie dabei unterstützen, dass das Entwicklungsministerium alles, was mit ODA zu tun hat, als Kompetenz bekommt. Sollten Sie Schwierigkeiten haben, sich zum Beispiel gegenüber dem Außenministerium durchzusetzen, wären wir gern bereit, Ihnen dabei behilflich zu sein.

(Heiterkeit bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aufruhr!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Herausforderungen an die Entwicklungspolitik sind gewaltig. Aber wir haben in den letzten Tagen gesehen, was die Deutschen bei der Wiedervereinigung nach dem Fall der Mauer leisten konnten. Lassen Sie uns nicht bange sein vor großen Herausforderungen. Wir können sie meistern. Dies gilt auch für diese globalen Herausforderungen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Heike Hänsel (DIE LINKE):

Danke schön, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von einem neu gebackenen Entwicklungsminister hätte ich, ehrlich gesagt, erwartet, dass er sich in seiner ersten Rede vor allem mit der zum Himmel schreienden menschlichen Tragödie von mehr als 1 Milliarde hungernden Menschen beschäftigt und Vorstellungen darlegt,

(Hellmut Königshaus [FDP]: Hat er doch gemacht! Haben Sie nicht zugehört?)

wie wir zur Lösung dieses Problems beitragen können und wo die Ursachen dieser großen menschlichen Katastrophe liegen, unter anderem in dem herrschenden Weltwirtschaftssystem. Dazu war sehr wenig zu hören. Er hat sich vor allem auf Interessen und Werte konzentriert, wovon heute schon den ganzen Tag über gesprochen wurde. Wir haben da einen gewissen Vorgeschmack auf das bekommen, was die Werte der FDP sind.

(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sie haben ja keine!)

Ich komme in diesem Zusammenhang auf den Fall Honduras zu sprechen.

(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

Im Juni dieses Jahres gab es den Putsch gegen eine progressive linke Regierung, die sich um eine Sozialpolitik in Honduras bemüht hat. Weltweit wurde dieser Putsch einhellig verurteilt.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer von der FDP!)

Was machte die FDP? Der Vertreter der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung sprach davon, dass es in Honduras gar keinen Putsch gegeben habe, obwohl der demokratisch gewählte Präsident aus dem Land entführt wurde. Hier in den Räumen des Bundestages gab es ein Treffen von einhelligen Unterstützern des Putsches in Honduras, zu dem von der Friedrich-Naumann-Stiftung eingeladen wurde.

(Zurufe von der LINKEN: Pfui! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ein dicker Hund!)

Ich muss sagen, dass sich auch der neue Staatsminister Werner Hoyer positiv zu diesem Putsch geäußert hat. Ich erwarte eigentlich eine klare Stellungnahme zum Wert von Demokratie und zum Werteverständnis der FDP.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn so deutsche Außenpolitik aussieht, dann werden wir bald international isoliert sein; davon sprechen Sie ja auch sehr oft.

Insgesamt kann ich Ihnen nur raten – Sie sprechen ja auch von einer neuen Lateinamerikastrategie –, dass Sie nicht versuchen, neue Ansätze in Lateinamerika, linke, progressive Regierungen, die dürfen soziale Bewegungen an die Macht kamen, um Menschen an der Politikgestaltung zu beteiligen, die verfassungsgebende Prozesse ins Leben rufen, die eine neue Ökologie und Sozialpolitik entwickeln und Landreformen durchführen, als zukünftige Gegner auszurufen, weil dort Menschen direkt an neuen Ansätzen für die Lösung von Problemen beteiligt werden. Sie brauchen unsere Unterstützung und nicht den Angriff durch eine aggressive Freihandelspolitik unter anderem der Europäischen Union.

(Beifall bei der LINKEN)

In diesem Zusammenhang finde ich es auch interessant, dass Herr Kollege Raabe von der Linken, so kann man sagen, gelernt hat.

(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Eine solche Beleidigung würde ich zurückweisen! – Widerspruch bei der SPD)

Wir haben in den letzten vier Jahren häufig darüber gesprochen, dass es auch einen Schutz für die Entwicklungsländer zur Entwicklung ihrer eigenen Wirtschaft braucht und wir daher mit einer Marktöffnungspolitik nicht weiterkommen. Er hat es vorhin explizit erwähnt; das freut mich. Es gibt hier einen Lernprozess. Ich bin gespannt, was wir da noch alles zu hören bekommen.

(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der SPD – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nun hör aber auf!)

Ich möchte auf die Interessen eingehen, die oft benannt wurden und auch im Koalitionsvertrag stehen. Dort wird im Zusammenhang mit Entwicklungspolitik auf eine „engere Kooperation mit der deutschen Privatwirtschaft“ verwiesen. Ich frage mich: In welche Richtung wird dies gehen? Wir haben das schon erlebt. Der Bundesverband der Deutschen Industrie hat eine neue Rohstoffstrategie entwickelt. Er spricht von einer „Rohstoffdiplomatie“, die gemeinsam mit der Außen-, Handels- und Entwicklungspolitik entwickelt werden muss, um den Zugang zu Rohstoffen zu verbessern; wir haben es heute von der Bundeskanzlerin gehört. Das geht in unseren Augen in die völlig falsche Richtung. Wir lehnen diese Form der „Rohstoffdiplomatie“ völlig ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine weitere Formulierung, die heute häufig bemüht wurde, ist die Kontinuität der deutschen Außenpolitik. Wenn ich mir die Realität der deutschen Außenpolitik anschaue, kann man hinsichtlich der Kontinuität nicht davon sprechen, dass sie ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung ist.

Ich fand es auch interessant, dass in der Regierungserklärung von Angela Merkel kein einziges Mal das Wort „Friedenspolitik“ vorkam. Im Koalitionsvertrag ist auch nicht von ziviler Konfliktbearbeitung, ziviler Konfliktlösung oder dem zivilen Friedensdienst die Rede. Diese Einrichtungen kommen überhaupt nicht vor, obwohl das eigentlich das Potenzial wäre, eine zivile Außenpolitik gemeinsam mit den Menschen von unten zu entwickeln. Das wäre für mich ein neuer Ansatz. Davon ist in Ihrem Vertrag nichts zu lesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Gegenteil: Sehr oft bemüht die Kanzlerin – auch Herr Niebel hat es heute explizit angesprochen – den Begriff der vernetzten Sicherheit, der auch im Weißbuch der Bundeswehr auftaucht und in dem es unter anderem – ich zitiere –

um eine … engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer, wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher … Konfliktverhütung geht.

Hier werden die Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem völlig verwischt. Es gibt im Grunde genommen nur noch einen einzigen Blick, und das ist der sicherheitspolitische Blick für globale Probleme. Das heißt, Migration und Klimawandel werden mittlerweile unter sicherheitspolitischen Aspekten bewertet, obwohl es eigentlich globale Probleme sind, die ökonomischer und sozialer Natur sind. Das ist ganz klar ein Beitrag zur Militarisierung der Außen- und Entwicklungspolitik. Das werden wir wie bisher ablehnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen diese Militarisierung nicht. Sie ist katastrophal. In Afghanistan erleben wir es in der zivilmilitärischen Zusammenarbeit. Man kann sagen: Sie ist der Totengräber der Entwicklungszusammenarbeit. Viele Entwicklungsorganisationen beklagen sich, dass der zivil- militärische Ansatz sie zur Zielscheibe von Angriffen in Afghanistan gemacht hat und dass dieser Ansatz Entwicklung unmöglich gemacht hat.

(Elke Hoff [FDP]: Es gibt auch andere Meinungen!)

Das heißt, mehr Soldaten bedeuten eben nicht automatisch mehr Sicherheit. In vielen Regionen bedeuten mehr Soldaten mehr Unsicherheit für die Entwicklungsorganisationen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In unseren Augen ist es deshalb wichtig, nach acht Jahren Krieg mit einer katastrophalen entwicklungspolitischen Bilanz – Afghanistan ist nach wie vor das viertärmste Land der Erde – von diesem Ansatz wegzukommen. Der Abzug der Bundeswehr ist die Voraussetzung für eine soziale und friedliche Entwicklung in diesem Land.

In meinen Augen gibt es keine bessere Zeugin dafür als Malalai Joya, eine mutige Parlamentarierin, die wir mehrmals eingeladen haben. Sie hat ein neues Buch geschrieben: Ich erhebe meine Stimme. Darin können Sie lesen, wie die Lebensrealität der Menschen, insbesondere der Frauen, vor Ort aussieht. Ich möchte dieses Buch gerne dem neuen Außenminister, Herrn Westerwelle, der leider gerade nicht zuhört, überreichen. Es ist nämlich ein sehr interessantes Buch. Malalai Joya schreibt darin über die Lebensrealität der Menschen. So erfährt man mehr, als wenn man mit der Bundeswehr für drei Tage in dieses Land fliegt. Daraus könnten wir einen sehr guten Politikansatz entwickeln. Ich bedanke mich.

(Beifall bei der LINKEN – Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] übergibt Außenminister Dr. Guido Westerwelle ein Buch – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ist das mit Widmung? – Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Es fehlt die Widmung!)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Ute Koczy.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wohin geht die Entwicklungspolitik? Diese Frage steht vor allem deswegen im Raum, weil wir einen interessanten Minister haben.

(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das hat ihm noch keiner gesagt!)

Herr Niebel, als Abwicklungsminister in aller Munde, steht im Rampenlicht der Öffentlichkeit und hat ein Ministerium vor sich, das er noch gar nicht kennt und das er nicht einschätzen kann.

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das geht anderen auch so!)

– Das geht anderen auch so, Herr Ruck. Man sieht ja, was daraus wird, wenn man nichts damit anfangen kann. Wir wissen, dass es sich angesichts globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Hungersnöte, Finanzmarktkrisen und Machtverschiebungen heutzutage kein Politikfeld mehr leisten kann, auf Laisser-faire zu machen. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Das gilt auch für die Entwicklungspolitik.

(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP])

Es müssen Reformen auf den Tisch. Die Wirksamkeit muss verbessert werden, und neue Allianzen müssen geschmiedet werden. Für uns Grüne ist die Entwicklungszusammenarbeit Teil einer internationalen Strukturpolitik. Eine reformierte und innovative Entwicklungszusammenarbeit ist ein wichtiges Instrument, um die Globalisierung gerechter zu gestalten. Dieses Instrument dürfen wir nicht aus der Hand geben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dass die FDP das nicht so sieht, das war klar, aber dass die CDU/CSU es versäumt hat, in der Personalpolitik und bei der Gestaltung der Inhalte des Vertrages Präsenz und Gewicht zu zeigen, das ist fatal. Denn wenn Entwicklungspolitik eine Hauptsache ist, wie es Kanzlerin Merkel heute gesagt hat, dann müssen dieser Aussage auch Taten folgen. Doch da sehe ich schwarz und gelb.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Die schwarz-gelbe Koalition hatte die Chance, Entwicklungspolitik zu einem partnerschaftlichen Instrument für globale Gerechtigkeit zu machen. Aber mit diesem Vertrag wurde diese Chance vertan. Es gibt keine echte Strukturreform. Die Institutionenreform ist ein Klacks gegenüber dem, was man haben wollen muss, wenn man eine Entwicklungspolitik aus einem Guss möchte.

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Können Sie mal den Koalitionsvertrag lesen? Ich habe ihn dabei! Ich könnte es Ihnen zeigen!)

Provinziell ist die Ansage: „Wir setzen auf Bilaterales“, und die Tatsache, dass man die multilaterale Zusammenarbeit kappt. Der Vertrag kennt nur ein Ziel, und zwar, künftig die Interessen der deutschen Wirtschaft stärker zu berücksichtigen.

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Papperlapapp!)

Damit wird auch die Entwicklungspolitik instrumentalisiert und den Interessen der Außenwirtschaftsförderung untergeordnet.

(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

So dringend und wichtig die Stärkung der Wirtschaft gerade in den Entwicklungsländern auch ist, mit dieser Ausrichtung missachtet man den Kern der Entwicklungszusammenarbeit. Es geht um die Parteinahme für die Ärmsten und um den Erhalt der Lebensgrundlagen. Wenn man das in der Form macht, wie Sie das vorhaben, Herr Minister, dann ist auch das eine Art der Abwicklung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es kommt noch schlimmer: Schwarz-Gelb ebnet der Wirtschaft ohne Einschränkungen den Weg. Eine Einhaltung von ökologischen und sozialen Standards? Ethische Anforderungen an Investitionen? Absolute Fehlanzeige im Koalitionsvertrag, als seien die Probleme Kinderarbeit, Ausbeuterlöhne, Gesundheitsschäden sowie Verseuchung von Wasser und Böden keine Fragen und schon gar kein Wertemaßstab für Wirtschaft, Handel und Banken.

„Der Zugang zu Rohstoffen und deren verlässliche Verfügbarkeit … für die deutsche Industrie“ – so der Koalitionsvertrag – bedeuten im Klartext für die Entwicklungsländer in Afrika, dass die Eliten weiterhin profitieren und die Armen leer ausgehen.

(Hellmut Königshaus [FDP]: Das genaue Gegenteil! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ CSU]: Falsch! Das wissen Sie doch besser!)

Das bringe ich nicht überein mit den hehren Worten, die hinten im Vertrag stehen, wobei aber nicht berücksichtigt wird, dass sie der Außenwirtschaft untergeordnet werden. Hier knallen die Widersprüche ungeklärt aufeinander.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hellmut Königshaus [FDP]: So ein Quatsch! Wo steht denn das?)

Mein letzter Punkt: die Brisanz des Klimawandels. Man hätte erwartet, dass angesichts dieser Herausforderung ein dicker Absatz oder eine ganze Seite im Koalitionsvertrag dazu steht. Nichts davon! Klimapolitik ist trotz der Brisanz gerade für die Entwicklungsländer eine Nebensache geblieben. Dass die bisherigen Zusagen eingehalten werden sollen, ist doch als Aussage absolut unzureichend. Wir brauchen eine qualitative und quantitative Aufwertung aller Klima- und Ressourcenprogramme. Aber Schwarz-Gelb lässt diese Herausforderung links liegen.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihr habt das um 3 Prozent zurückgeführt! Sieben Jahre Rot-Grün! – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So ein Schmarrn, was sie erzählt hat!)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Axel Schäfer das Wort.

Axel Schäfer (Bochum) (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung gesagt, dass der Lissabon-Vertrag besonders wichtig für Europa ist.

(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner (FDP)

Dem stimmt die SPD-Fraktion uneingeschränkt zu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – und der FDP)

Das ist der einzige Satz, dem wir zustimmen können; denn sie hat in ihrer gesamten Regierungserklärung sonst nichts zu Europa gesagt. Ich glaube, deshalb wird es wichtig sein, darüber zu reden, welche Verantwortung wir in Europa haben und was hier heute nicht zur Sprache gekommen ist.

Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin: „Europa, ruhiggestellt“, beklagt die Welt am Sonntag, als Hauptschuldige sieht sie „Angela Merkel mit ihrer geheimen Kabinettspolitik und ihrem Postengekungel“. Sie wissen, die Welt am Sonntag gehört zum Springer-Verlag – Frau Springer war hier kürzlich noch Wahlfrau für die CDU –

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was für eine Interpretation!)

und ist Ihnen sehr nahestehend. Das ist das Urteil über Ihre Europapolitik.

Wir müssen uns jetzt einmal genau anschauen, was diese Personalpolitik in der Praxis bedeutet. Als Erstes wird ein Ministerpräsident in Europa mit dem Posten eines Kommissars versorgt, indem er hier entsorgt wird. Das ist die erste Personalentscheidung und stellt sicherlich kein gutes Bild für die deutsche Vertretung in Europa dar.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als Zweites werden für die Christdemokraten in Europa die wichtigsten Funktionen reklamiert.

Dann muss man natürlich auch darüber sprechen, wer die Christdemokraten in Europa sind – das sind ja nicht nur Sie –, auf die man sich stützen kann. Die wichtigste Stütze ist Herr Berlusconi, ein Politiker Ihrer Parteifamilie, über den ich sage: Keiner in diesem Haus wird dessen politische, geschäftliche und sonstige Moral teilen wollen. Wenn Sie anderer Meinung sind, widersprechen Sie. Das ist Ihre wichtigste Stütze, die Sie in Europa haben. Sie haben noch ein paar andere Stützen in der EVP, die diese Politik ausmachen, und zwar die Vertreter in Dänemark, in den Niederlanden und auch in Österreich, die rechtspopulistische Parteien salonfähig gemacht haben oder sich wie in Kopenhagen noch heute von ausländerfeindlichen Parteien tragen lassen, um überhaupt an der Regierung bleiben zu können. Auch das sind Christdemokraten in Europa.

Das kann man auf die Konservativen ausdehnen.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Schauen Sie mal nach Brandenburg! Da wird die Stasi an den Kabinettstisch geholt!)

– Ja, sehr gut. – Schauen wir doch einmal auf die Christlich Demokratische Internationale. Da gibt es zum Beispiel einen Herrn Klaus, dem es Gott sei Dank nicht gelungen ist, dieses Europa von Lissabon, das Sie gerade gelobt haben, zu zerstören. Auch er gehört zu Ihrer Parteifamilie. Dies reicht über andere bis zu Herrn Bush; den Irakkrieg will ich nicht verschweigen. Auch das ist ein Teil Ihrer europäischen Realität, zu der Sie nichts sagen. Deshalb müssen wir als Opposition das hier benennen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vom Außenminister angesprochen und von der Kanzlerin beschwiegen wurde die zukünftige Entwicklung Europas. Wir sind der Auffassung: Die Perspektive für den westlichen Balkan ist die zentrale Aufgabe. Das haben wir versprochen und in Europa in vielen Punkten so festgelegt. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben die Haltung, dass diese Vereinbarungen strikt eingehalten und konsequent angewandt werden müssen. Die Haltung, die ich heute Morgen gehört habe bzw. die aus Ihrem lauten Schweigen zu schließen ist, heißt: Wir wollen bestimmte Entwicklungen konsequent anhalten und bestimmten Entwicklungen strikt entgegentreten. – Das ist in Bezug auf den Westbalkan Ihre Position.

Wir stehen dagegen. Wir stehen nicht nur dagegen, weil es nicht lediglich um die Frage geht, welche Perspektiven die Länder haben – auch das ist wichtig –, sondern wir stehen auch dagegen, weil demokratische Politiker in dieser Region für die europäische Perspektive ihres Landes ihren Kopf auf das Schafott gelegt haben, um für die Demokratie zu kämpfen, und ermordet worden sind – ich erinnere nur an Ministerpräsident Djindjic – und weil wir gegenüber mutigen Präsidenten wie Tadić auch die moralische Pflicht haben, die Zusagen einzuhalten und ihnen die europäische Perspektive zu eröffnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist zu Recht auf den 9. November hingewiesen worden. Sehr richtig: ein bedeutender Tag in der deutschen Geschichte. Das gilt sowohl für den 9. November 1989 als auch für den 9. November 1918. Am 9. November 1918 hat der sozialdemokratische Volksbeauftragte und spätere Ministerpräsident Philipp Scheidemann auf dem Balkon des Reichstages die parlamentarische Republik ausgerufen; die Monarchie war zu Ende. Philipp Scheidemann hat im Reichstag vor fast genau 100 Jahren gesagt, warum dieses gemeinsame Europa, die Verständigung mit Frankreich und Großbritannien, so wichtig ist und warum von Deutschland nie wieder Krieg ausgehen soll. Dieses gemeinsame Europa ist der Sozialdemokratischen Partei seit über 100 Jahren eine Verpflichtung. Dieser Verpflichtung werden wir als Fraktion auch in der Opposition nachkommen. Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Wenn das mit euch so weitergeht, aber nicht mehr lange!)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Michael Stübgen (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Schäfer, Sie haben etwas despektierlich über den deutschen Kandidaten für das Kommissarsamt gesprochen.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Zu Recht!)

Ich möchte Ihnen eine Garantie geben: Dieser deutsche Kommissar wird mit Sicherheit erfolgreicher und einflussreicher sein als sein deutscher Vorgänger.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Gewagte These! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das glauben ja noch nicht einmal Ihre eigenen Leute!)

Ich möchte auf einige grundsätzliche Dinge eingehen, die die aktuelle und die künftige deutsche Europapolitik betreffen. In dieser Legislaturperiode wird mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember 2009 in Europa eine neue Ära beginnen. Allerdings ist der Prozess bis zum Inkrafttreten dieses Reformvertrages eine unerwartet lange Ära in der Europäischen Union gewesen. Er begann vor mehr als neun Jahren mit der Einsetzung des Verfassungskonvents, der den Verfassungsvertrag erarbeitete, der dann bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden zunächst scheiterte.

Erst die letzte Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Prozess, der seit Jahren brachlag, während der deutschen Ratspräsidentschaft aktiviert. Wir kamen bis zum Lissabon-Vertrag, der am irischen Referendum zunächst scheiterte. Auch wir als Bundestag hatten noch im Juni dieses Jahres die für uns überraschende Aufgabe, die Begleitgesetzgebung über den Sommer neu zu fassen. Allerdings finde ich es beeindruckend, dass wir das geschafft haben. Denn dadurch sind die Begleitgesetzgebung und die parlamentarische Kontrolle der künftigen Europapolitik in der Tat deutlich verbessert worden. Beim Europäischen Rat am 29./30. Oktober dieses Jahres konnten die letzten Hürden überwunden werden, sodass dieser Vertrag endlich in Kraft treten kann.

Manche mögen sagen, dass dieser Reformprozess zu lange gedauert hat. Ich aber sage: Entscheidend ist am Ende der Erfolg, dass dieser Vertrag in Kraft treten kann. Mit dem Lissabon-Vertrag bekommt die Europäische Union das institutionelle und vertragliche Rüstzeug, die großen Probleme der Gegenwart und der Zukunft entschlossen und erfolgreich anzugehen.

Deutschland war an diesem Reformprozess immer führend beteiligt. Der Deutsche Bundestag hat diesen Reformprozess immer offensiv unterstützt. Es liegt jetzt an uns, und es ist jetzt unsere Aufgabe, unsere neuen parlamentarischen Möglichkeiten auch auszunutzen. Mit unserem künftig direkten Einfluss auf die europäische Rechtsetzung wächst auch unsere Verantwortung für die Ergebnisse der europäischen Politik.

Das heißt, wenn in Zukunft wieder einmal eine europäische Rechtsetzung am Bundestag vorbeigeht und kritisch bewertet wird, wenn sie erfolgt ist, können wir nicht mehr sagen, wir hätten das nicht mitbekommen, weil wir keine Chance gehabt hätten, das rechtzeitig in Erfahrung zu bringen, nein, dann wird das bedeuten, dass der Bundestag geschlafen hat. Das darf auf keinen Fall passieren. Insofern kommt auf uns durch den Lissabon- Vertrag und die Begleitgesetze eine Menge Mehrarbeit zu.

Lassen Sie mich noch auf ein anderes aktuelles Thema kurz eingehen. Wer in den letzten Tagen die Nachrichten aufmerksam verfolgt hat, muss folgenden Eindruck gewonnen haben – leider passiert das alle paar Jahre wieder –: Die Europäische Kommission, obwohl nur noch amtierend, versucht offensichtlich, bevor die neue Europäische Kommission eingesetzt wird, für Entscheidungen, die erst in ein bis zwei Jahren anstehen und die erst nach intensiven Diskussionen getroffen werden dürften, Vorwegfestlegungen zu organisieren. Ich meine damit den mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union ab 2014.

Obwohl die Europäische Kommission bisher keine Analyse der Konsultationen zu ihren Reformvorschlägen vorgelegt hat, ist sie jetzt schon der Überzeugung, die EU brauche dringend eine direkte Einnahme durch Erhebung einer eigenen Steuer, einschließlich der Möglichkeit, Schulden aufzunehmen. Ulkigerweise begründet die Europäische Kommission das damit, dass man nur so die anhaltende Debatte über eine übermäßige Nettobelastung einzelner Mitgliedstaaten überwinden könne.

Dies ist jedoch ein falscher Ansatz. Denn in Wirklichkeit ist es so, dass gerade durch die vorhandenen Direkteinnahmen der Europäischen Kommission – den Anteil an der Mehrwertsteuer, die Zolleinnahmen, die Zuckerabgabe und dergleichen; diese Einnahmen machen ungefähr 30 Prozent aus – das Problem, dass einzelne Mitgliedsländer übermäßig belastet werden, größer geworden ist. Deshalb gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Dänemark und Schweden bei der Abführung der Mehrwertsteuer eine Ausnahmeregelung; sonst würden wir im Verhältnis zu unserem Bruttonationalprodukt übermäßig belastet.

Jetzt auf die Idee zu kommen, eine Steuer zu erheben, ist mit Sicherheit der falsche Weg; denn dadurch würde das Problem nicht nur verschärft, sondern, weil man die Belastung dann nicht mehr auseinanderhalten könnte, auch noch verschleiert.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich will für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion an dieser Stelle klar sagen: Wir wollen – erstens – ein europäisches Finanzsystem, das so transparent und effizient wie möglich gestaltet ist; aber es muss auch gerecht sein.

(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Was ist gerecht?)

Wir wollen – zweitens –, dass der 2005 eingeschlagene Weg der Sparsamkeit beibehalten wird. Wir sollten uns darauf einigen, dass die Obergrenze für die Ausgaben bei maximal 1 Prozent des Bruttonationalprodukts liegen soll. Die Einführung einer europäischen Steuer mit eigenem Hebesatz sowie einer Möglichkeit für die EU, Schulden zu machen, lehnen wir kategorisch ab.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Deutschland wird auch in Zukunft, wie es unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht, größter und wichtigster Nettozahler in der Europäischen Union bleiben. Die Menschen werden die Europäische Union aber nur dauerhaft akzeptieren, wenn sie spüren, dass die Europäische Union nicht nur solidarisch ist – das ist sie –, sondern auch gerecht. Nach dieser Maßgabe muss der neue europäische Finanzrahmen erarbeitet werden, und dabei liegt noch viel Arbeit vor uns.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben gestern den 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze gefeiert. Für mich begann damals eine gewaltige Reise, zunächst mit meinem Trabi nach München, der auf dem Weg dahin auch noch kaputtging. Nächstes Jahr werden wir den 20. Jahrestag der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes feiern. Für mich ist unmissverständlich klar – und ich bin sicher, dass das von der überwiegenden Mehrheit in diesem Haus genauso gesehen wird –: Das Geschenk der deutschen Wiedervereinigung ist für Deutschland ebenso ein Glücksfall wie das Bestehen und die Entwicklung der Europäischen Union.

Der Deutsche Bundestag hat es in den letzten Jahrzehnten immer wieder geschafft, bei grundsätzlichen europäischen Fragen über die Grenzen von Koalitionsund Oppositionsfraktionen hinweg Einigung zu erzielen. So sind wir stark in Europa, und so müssen wir stark bleiben in Europa. Diese Art der Zusammenarbeit wünsche ich mir auch für diese Legislaturperiode. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Herren Minister, wenn man Ihnen heute hier zugehört hat und sich den außen- und sicherheitspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarung ansieht – auch ich will hierzu am Anfang natürlich Stellung nehmen –, dann muss man ganz klar sagen: Sie beschwören einerseits die Kontinuität, andererseits werden aber sogenannte westliche Werte und nationale Interessen zur zentralen Leitlinie erklärt.

Dadurch werden gemeinsame Interessen und die kollektive Friedenssicherung – ich glaube, vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen – in der Außen- und Sicherheitspolitik an Bedeutung verlieren. Es wird diesbezüglich ja eine erste Nagelprobe für die Koalition bei der Verlängerung des UNIFIL-Einsatzes geben. Man darf gespannt sein, wie die Koalition dann damit umgehen wird.

Wenn nationale Interessen vor allem als wirtschaftliche Interessen definiert werden, weil die Sicherung des deutschen Exports – so steht es im Koalitionsvertrag – Hauptaufgabe der Außenpolitik wird, dann muss man aus unserer Sicht ganz klar sagen: Auch in der Außenund Sicherheitspolitik macht die Koalition eine Rolle rückwärts, ist sie alles andere als innovativ und wird vor allem den neuen internationalen Herausforderungen wie Klimawandel, Armut und Staatszerfall in keinster Weise gerecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir meinen ganz klar: Nur durch eine Stärkung multilateraler Institutionen, vor allem der UNO und der Europäischen Union, können wir diese neuen Herausforderungen bewältigen.

Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede vor dem US-Kongress zwar zu Recht die zentrale Bedeutung des transatlantischen Verhältnisses zwischen der EU und den USA hervorgehoben. Aber – das muss man an dieser Stelle klar sagen – die Bewältigung der großen internationalen Herausforderungen kann in der Praxis eben nur dann gelingen, wenn auch die EU als internationaler Akteur endlich eigene Strategien entwickelt, die man dann mit den USA diskutieren kann. Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung dafür stark macht. Genau das ist jedoch nicht der Fall – weder beim Klimaschutz noch in Afghanistan noch in der Nahostpolitik.

Ich bleibe einmal beim Beispiel Klimaschutz. Vor dem US-Kongress hat die Kanzlerin zu Recht, sage ich wieder, die Vereinbarung verbindlicher Klimaschutzziele in Kopenhagen eingefordert; aber einige Tage zuvor auf dem Europäischen Rat in Brüssel

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das war es etwas anderes!)

hatten Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Ihre Hausaufgaben nicht gemacht; denn gerade eine verbindliche Finanzzusage an die Entwicklungs- und Schwellenländer zur Bewältigung des Klimawandels wurde nicht beschlossen. Das ist das Gegenteil von konsequenter internationaler Klimapolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Beispiel Afghanistan: Auch nach der heutigen Rede der Bundeskanzlerin und Ihrer Rede, Herr Verteidigungsminister, muss man klar sagen: Meiner Meinung nach wird in den USA inzwischen offener über den notwendigen Kurswechsel in Afghanistan diskutiert als hier in Deutschland. Die Zeit drängt; denn die Sicherheitslage verschärft sich und durch die Umstände der letzten Wahlen droht das zarte Pflänzchen der Demokratie zu vertrocknen. Deshalb finde ich – ich will das an dieser Stelle noch einmal sagen –, es geht nicht, dass sich die Frau Bundeskanzlerin heute Morgen hier hingestellt und gesagt hat: Wir warten jetzt erst einmal ab; schauen wir mal. Anfang 2010 gibt es ja die nächste Afghanistankonferenz. Wir winken das Mandat im Dezember erst einmal ohne Veränderung durch.

(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Erzählen Sie uns doch einmal, was Sie wollen!)

Ich meine, Sie müssen jetzt die Reformbereitschaft der US-Regierung nutzen und deutlich machen, was unser Beitrag zum Strategiewechsel ist.

Zum Beispiel Polizeiaufbau: Warum gibt es keine Initiative auf europäischer Ebene,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

2 000 Polizisten dorthin zu schicken, wobei Deutschland einen Beitrag von 500 anbietet? Das ist es, was wir erwarten. Abwarten und Teetrinken ist aus unserer Sicht unverantwortlich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Im Nahen Osten fehlt es meiner Meinung nach ebenfalls an einer klaren gemeinsamen Strategie. US-Präsident Obama hatte in Kairo ja neue Grundlagen für eine Friedensinitiative gelegt; aber Außenministerin Clinton hat durch ihre plötzliche Abkehr von einem Siedlungsstopp gegenüber Netanjahu ein verheerendes Signal gesendet. Das hat Präsident Abbas geschwächt. Ich meine, auch hier muss die EU selbst Verantwortung für eine politische Regelung des Nahostkonflikts übernehmen. Ein Wort zu der Debatte um die Besetzung des Rates der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Voraussetzung dafür, dass Europa international mit gewichtiger Stimme mitreden kann, ist nicht nur ein neuer Ratspräsident und ein neuer EU-Außenminister, sondern auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Sie selbst haben das deutsch-polnische Verhältnis – ich finde das richtig – als Kernanliegen bezeichnet. Sie haben in Polen zugesagt, keine Entscheidung zu treffen, die dem Anliegen der Versöhnung entgegensteht. Wir erwarten jetzt natürlich, dass es Ihnen im Hinblick auf die wichtige Frage der Besetzung des Stiftungsrates gelingt, eine Berufung von Frau Steinbach zu verhindern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Ich möchte mich mit einigen Sätzen an Sie persönlich, Frau Steinbach, wenden. Sie wissen, dass Sie in Polen als Hindernis für die Versöhnung angesehen werden. Ich sage klar, dass ich manche Töne und manche Fotomontagen aus Polen für völlig überzogen und inakzeptabel halte.

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)

Wenn Ihnen aber das Verhältnis zu Polen und die Aussöhnung wirklich wichtig sind, dann sollten Sie die politische Klugheit und Größe besitzen, selber von einem Sitz im Stiftungsrat Abstand zu nehmen. Das wäre politische Verantwortung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rolf Mützenich das Wort.

Dr. Rolf Mützenich (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Außenpolitik ist keine Bühne für parteipolitische Spielchen. Wir Sozialdemokraten akzeptieren die Regeln, Normen und Institutionen der deutschen Außenpolitik. Wir haben diese Grundsätze mitgestaltet und erweitert. Die Bürgerinnen und Bürger, unsere Partner und Nachbarn können sich in den nächsten vier Jahren auf eine konstruktive Rolle der SPD auch in der Opposition verlassen.

Herr Außenminister Westerwelle, im Gegenzug bitten wir Sie herzlich, die Opposition dort einzubeziehen und zu informieren, wo es angemessen und erforderlich ist. Ich glaube, das gehört zum parlamentarischen Verfahren dazu. Ich wünsche Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine gute Arbeit für unser Land. Darin werden wir Sie bestärken. Dort aber, wo wir Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten feststellen oder Zweifel haben, werden wir diese in den nächsten vier Jahren benennen und Alternativen vorschlagen.

Ich habe eine Anregung: Wir sollten überlegen, ob wir am Anfang eines jeden Jahres eine zentrale Grundsatzdebatte führen könnten, die sich mit den außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen Deutschlands in den nachfolgenden Monaten befasst. Ich glaube nämlich, der Bundestag ist der zentrale Ort, um über diese Fragen zu diskutieren und um von der Bundesregierung Auskunft über die weiteren Schritte zu bekommen. Eine solche parlamentarische Diskussion wäre angemessen und könnte dem manchmal auftretenden öffentlichen Desinteresse an der Außenpolitik entgegenwirken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich will nur drei Punkte benennen, die mir im Koalitionsvertrag aufgefallen sind. Die Frage des Völkerrechts hat als zentrales Thema in der internationalen Politik nicht die Würdigung erhalten, die ich mir gewünscht hätte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

In den letzten Jahren konnten wir in der internationalen öffentlichen Debatte die Tendenz feststellen – gestern hat Russland in diesem Zusammenhang etwas veröffentlicht, was ich nicht gutheiße –, dass das Völkerrecht nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Manchmal wird der internationale Terrorismus als Grund dafür genannt, dass das Völkerrecht nicht eingehalten werden kann. Ich halte das nicht nur für waghalsig, sondern auch für einen Rückschritt in der internationalen Politik. Wenn wir die Fortschritte im Völkerrecht, die nach 1945 erreicht wurden, endgültig über Bord werfen würden, dann hätte der internationale Terrorismus gewonnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Herr Minister, Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören zu den Grundpfeilern deutscher Außenpolitik. Wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass sie Instrumente der Vertrauensbildung und der gemeinsamen Sicherheit sind. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts sind diese Instrumente nicht überflüssig geworden. Ich glaube, die Rüstungsexportkontrolle – das ist eben gesagt worden – gehört genauso dazu. Deswegen brauchen wir, glaube ich, eine politische Kultur der Abrüstung, und wir unterstützen Sie in diesen Fragen.

Sie haben angedeutet – das ist auch im Koalitionsvertrag niedergelegt –, dass Sie die konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle vorantreiben wollen. Ich glaube, das ist gerade mit Blick auf Georgien eine besondere Herausforderung. Deswegen biete ich vonseiten der SPD-Fraktion an: Wir unterstützen Sie sofort bei der Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages. Bringen Sie ihn in den Deutschen Bundestag ein. Dann werden wir als Opposition Sie an dieser Stelle unterstützen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch!)

Herr Außenminister, Sie haben im Wahlkampf und während Ihres USA-Besuchs erfreulicherweise die Bedeutung der nuklearen Abrüstung hervorgehoben. Ich habe gesagt, wir unterstützen das. Ich bedaure ein bisschen, dass Sie in Washington leiser aufgetreten sind als auf den deutschen Marktplätzen während des Wahlkampfs. Aber ich glaube, dass es an dieser Stelle einen breiten Konsens im Deutschen Bundestag gibt, die Abrüstung und Rüstungskontrolle voranzutreiben.

Ich würde Sie nur gerne daran erinnern, dass es notwendig wäre, gerade mit unseren Partnern in Europa in den nächsten Wochen und Monaten über etwas zu diskutieren, was Präsident Obama im Dezember vorlegen wird, nämlich eine neue Nuklearstrategie der USA. Ich glaube, sie wird in den europäischen Ländern ganz unterschiedlich bewertet. Deswegen wäre es gut, wenn der deutsche Außenminister im Vorhinein versuchte, einen möglichen Dissens in Europa über die US-amerikanische Nuklearstrategie zu verhindern. Wenn ich am Anfang gesagt habe – ich komme zum Schluss –

(Zuruf von der CDU/CSU: Genau! – Heiterkeit)

– diese Überheblichkeit geht mir gegen den Strich, aber das ist ein anderer Punkt –

(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Wir haben verstanden!)

– nein –, dass die deutsche Sozialdemokratie Sie auch in der Opposition in den kommenden vier Jahren bei den wichtigen Fragen der Außenpolitik unterstützt, so will ich nur daran erinnern, dass das auch bei uns nicht immer unumstritten war. Vor 50 Jahren hat Herbert Wehner im Deutschen Bundestag eine wichtige außenpolitische Rede gehalten und gesagt, dass die Sozialdemokratie die Institutionen und die Verträge Deutschlands für die Außenpolitik anerkennt. Das hat Handlungsspielraum eröffnet.

Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die heute noch in der Außenpolitik abseitsstehen, sich möglicherweise diese Erfahrungen zunutze machen und in den nächsten vier Jahren dazulernen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Erika Steinbach das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Erika Steinbach (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einige Sätze zu unserem sehr geschätzten Nachbarland Polen: Glücklicherweise ist Warschau nicht ganz Polen. Überall dort, wo die deutschen Vertriebenen tagtäglich hinfahren – nicht mit der Faust in der Tasche, sondern mit offenem Herzen –, gibt es ein wunderbares deutsch-polnisches Miteinander.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dort, wo deutsche Politiker hinfahren, gibt es Aversionen gegen diesen Teil der deutschen Bevölkerung. Das muss man deutlich sagen.

(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Nein! Nicht gegen Vertriebene gibt es Aversionen!)

Die Verantwortung dafür liegt in weiten Teilen bei Einzelpersonen dieses Hauses.

(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Nicht gegen Vertriebene gibt es Aversionen! – Hans- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Gegen Frau Steinbach!)

Gestern jährte sich der Fall der Mauer zum 20. Male. Es ist schon wahr, was der Kollege Arnold Vaatz sagte, nämlich dass aus den Reihen der Opposition dazu wenig zu hören war. Ich weiß noch, wie erschrocken mancher Sozialdemokrat vor 20 Jahren gewesen ist, weil die Mauer gefallen war. Der Wunsch war bei vielen ein völlig anderer.

(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist ja wirklich das Hinterletzte! – Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist unglaublich!)

Zu den drei Ministerbereichen kann man heute deutlich sagen: Alle drei haben mit Menschenrechten zu tun. Deshalb war auch der gestrige Tag für mich sehr bemerkenswert. Einige der farbenfrohen Dominosteine nämlich, die aus diesem Anlass symbolisch zum Einsturz gebracht wurden – symbolisch für das Eindrücken der Mauer durch die Menschen in der DDR –, waren von Schülern und Künstlern aus Südkorea und Zypern geschaffen worden. Beides sind Länder, in denen es heute noch Mauer und Stacheldraht gibt. Es ist auch ein Symbol, dass sich diese Menschen die Einheit wünschen.

Der 9. November 1989 ist der Triumph der Freiheit über die Knechtschaft in der DDR, eine Knechtschaft, die die Menschen in diesem Teil Deutschlands seit 1933 in zwei unterschiedlichen Diktaturen in nahtloser Folge erdulden mussten, von denen sie menschenfeindlich und eisern beherrscht sowie ihrer Menschen- und Freiheitsrechte beraubt worden sind. Der 9. November 1989 ist aber auch ein Kontrapunkt zum 9. November 1938, wo den Menschen in Deutschland und darüber hinaus drastisch vor Augen geführt wurde, dass die Würde des Menschen nicht unantastbar ist. Der eine 9. November gibt Anlass zur Freude, der andere zu tiefer Trauer. So war es für uns alle eine große Freude, dass gestern Vertreter so vieler Länder anwesend waren und mit uns diesen Freiheitstag gefeiert haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich fand die Bild-Zeitungszeile „Tränen der Freude“ so anrührend, weil viele Tausend Menschen tapfer im strömenden Regen ausgeharrt haben. Es ist ein Tag wiedergewonnener Menschenrechte, der weit über Deutschland hinausreicht. Dass die erste Generaldebatte am Tag nach diesem wunderbaren Jubiläum stattfindet, ist eine, wie ich meine, gute Fügung.

Ich freue mich, dass der Koalitionsvertrag sich ausdrücklich zu den Menschenrechten bekennt und vieles postuliert. Unter anderem steht darin:

Die Glaubwürdigkeit Deutschlands steht in direktem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten für die Menschenrechte in der Außen- und Entwicklungspolitik. Ihre Einhaltung ist das Fundament für demokratische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung jedes Landes.

Die Bundeskanzlerin hat schon in den letzten vier Jahren gezeigt, dass die Menschenrechte bei ihr einen höheren Stellenwert haben als in den Jahren zuvor. Ich freue mich, dass das ausdrücklich im Koalitionsvertrag wieder niedergeschrieben ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag:

… Gedanken- und Meinungsfreiheit und die Freiheit von Diskriminierung sind unveräußerliche Prinzipien unserer Menschenrechtspolitik.

Menschenrechtspolitik ist darin aber nicht nur für Deutschlands Politik nach außen formuliert, sondern auch für unser deutsches Innenleben. Besonders begrüße ich die Aussagen zu den Freiheitsrechten, die unter anderem lauten:

Wir werden die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger schützen und die Bürgerrechte stärken.

Weiter heißt es:

Wir wollen eine Gesellschaft mit Freiraum für Selbstbestimmung, für Kreativität und für ein neues Miteinander.

Auf dieses neue Miteinander freue ich mich nicht nur als Bundestagsabgeordnete der Regierungskoalition, sondern auch als Präsidentin eines Opferverbandes in einem Ehrenamt. Die Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik nach außen steht und fällt mit dem Handeln in Deutschland selbst. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass sich ein gutes Miteinander und Vertrauen zu anderen Ländern durch menschenrechtswidrige Opfergaben zulasten eigener Bürger und Organisationen erkaufen ließe. Das lässt sich damit nicht erkaufen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Respekt lässt sich so nicht gewinnen.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt das denn?)

– Dann hören Sie einfach zu, Frau Roth.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe zugehört!)

– Es geht weiter. Ich bin nicht fertig. Schließlich ist meine Redezeit noch nicht zu Ende.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin mal gespannt!)

Es ist die Aufgabe deutscher Politik – auch deutscher Menschenrechts- und Außenpolitik –, die Traumata Millionen deutscher Vertreibungsopfer, mit denen viele von uns tagtäglich konfrontiert werden, in unseren Nachbarländern zu erklären und verantwortungsvolles Handeln gegenüber den Opfern in aller Welt anzumahnen, aber auch selbst hier im Land zu praktizieren. Hertha Müller hat am vorigen Sonntag in der Frankfurter Paulskirche aus ihrem Buch Atemschaukel gelesen und geschildert, wie die Menschen in den Lagern geknechtet wurden.

Vizepräsidentin Petra Pau:

Kollegin Steinbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Erika Steinbach (CDU/CSU):

Nein, das möchte ich nicht. Danke schön. – Der Goethe-Preisträger Raymond Aron hat in der Frankfurter Paulskirche auch uns Deutschen ins Stammbuch geschrieben, und zwar vor einem Auditorium, das ihm gut zuhörte:

Der Charakter und die Selbstachtung einer Nation zeigen sich darin, wie sie mit ihren Opfern der Kriege und mit ihren Toten umgeht.

Raymond Aron hat recht. In dieser Frage gab es jahrelang Defizite in der deutschen Politik. Bis heute hat noch kein deutscher Außenminister – deshalb, Herr Außenminister, ist es eine Aufgabe auch für Sie – an den Massengräbern deutscher Zivil- und Lageropfer einen Kranz niedergelegt, nicht bei den 2 116 Toten des Massengrabes von Marienburg, nicht bei den Opfern der polnischen Lager Lamsdorf oder Potulitz, nicht bei den Massengräbern in der Tschechischen Republik oder in Ex- Jugoslawien in Gakowa oder in Rudolfsknad. Deshalb begrüße ich den Satz der Präambel des Koalitionsvertrages, der da lautet:

Es heißt, aus den Fehlern zu lernen und ihre Wiederholung zu verhindern.

Menschenrechte, meine lieben Freunde, sind unteilbar. Unseren Nachbarländern zu vermitteln, dass sie auch für deutsche Opfer gelten, ist unverzichtbarer Teil einer ungeteilten Menschenrechtspolitik nach innen und nach außen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Sascha Raabe.

Dr. Sascha Raabe (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aller guten Dinge sind drei. Das ist jetzt meine dritte Legislaturperiode; ich bin seit 2002 dabei und war immer im entwicklungspolitischen Ausschuss. Seitdem habe ich schon an vielen Debatten zu diesem Thema teilgenommen. Heute ist aber schon eine etwas skurrile Situation; denn normalerweise hätte ich jetzt gar nicht zu einem Entwicklungsminister sprechen können, sondern es hätten hier nur Herr Westerwelle und der Verteidigungsminister gesessen. Hinten hätten noch nicht einmal Mitarbeiter des Entwicklungsministeriums Platz genommen, sondern vielleicht ein Abteilungsleiter des Auswärtigen Amts, der ein bisschen Zuständigkeit für Entwicklungsarbeit gehabt hätte. Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet die Partei, die in den Koalitionsverhandlungen das Ministerium abschaffen wollte, nun den Entwicklungsminister stellt. Das ist ein schlechter Witz, und das werden wir in der Öffentlichkeit deutlich machen.

(Beifall bei der SPD)

Was die personelle Besetzung betrifft, Herr Niebel, bei allem Respekt: Es gibt auch andere Minister, die in ein Amt kommen – Sie selbst sagten es –, Anfänger sind und sich dann bewähren. Aber ich hatte vorhin in der Zwischenfrage schon gesagt, dass jemand, der die letzten Monate damit verbracht hat, Stammtische zu bedienen

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)

und zum Beispiel Lehrer, die wir in Deutschland brauchen, gegen Lehrer, die in Afrika genauso dringend gebraucht werden, auszuspielen, und der immer wieder sagt, dass Steuergelder verschwendet werden, wenn man Geld nach Afrika gibt, sich aber heute als Minister als Anwalt der Ärmsten der Armen darstellt, unglaubwürdig ist. Das zeigt, wie wenig Ihnen in Wirklichkeit diese Arbeit wert ist. Aber den Dienstwagen und den Posten wollten Sie natürlich haben. Deshalb sind Sie Minister geworden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU)

Ich sehe gerade den Kollegen Außenminister lächeln. Ich erinnere mich, dass ich in den wenigen Jahren, die ich diesem Hohen Hause angehöre, an Generaldebatten über den Haushalt teilgenommen habe, in die Herr Westerwelle als Fraktionsvorsitzender der FDP eingestiegen ist und in denen er als allererstes zum Haushalt, wohlgemerkt, gesagt hat, der Haushalt sei ganz schlimm, weil Millionen an China und Indien verschwendet würden. (Zuruf von der FDP: Das hat kein Mensch gesagt!) Immer wieder kam das Argument, es würden Steuergelder an Länder verschwendet, die es aber in Wirklichkeit bitter nötig hatten. Man hat so getan, als würden wir der Regierung Mittel geben, die diese unsinnig verwendet. Es wurde aber gar nicht hingeschaut, dass es darum ging, Klimaschutz, Umweltschutz und Energieeffizienz zu verbessern. Wenn wir jetzt, kurz vor dem Gipfel in Kopenhagen, nicht verstehen, dass wir auch darauf achten müssen, dass wir in Ländern, die über 2 Milliarden Einwohner haben, Anreize für Energieeffizienz und dafür schaffen, dass dort mit Rohstoffen sparsam gehaushaltet wird, dann können wir den Schutz des Weltklimas ganz abschreiben.

Deswegen sage ich: Schluss mit dem Populismus! Lassen Sie uns sowohl die Klimaprobleme als auch die Probleme der Entwicklungszusammenarbeit endlich einmal ernst nehmen. Dann können wir vielleicht irgendwann zusammenkommen, Herr Entwicklungsminister.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Der Koalitionsvertrag – ich will ihn an einer Stelle fair bewerten – hat einen entwicklungspolitischen Abschnitt, der zum Teil sehr stark die Handschrift unseres ehemaligen Koalitionspartners, der Union, trägt. Dieser Abschnitt enthält durchaus Sätze, die wir, die SPD, und unsere Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul mitgetragen haben; allerdings steht im Abschnitt zur Außenwirtschaftspolitik zum Teil das genaue Gegenteil davon. Da ist es einfach unglaubwürdig, zu sagen, man wolle Entwicklungsländern wirtschaftlich Hilfe zur Selbsthilfe leisten; schließlich sorgt man gleichzeitig dafür, dass alle Schutzzölle eingerissen werden, wodurch die Märkte mit Agrarprodukten aus Europa und aus den USA überschwemmt werden, ohne dass sich die Kleinbauern, die jetzt schon größte Schwierigkeiten haben, ihre Produkte zu verkaufen, dagegen schützen können.

Auf diesen Tagesordnungspunkt folgt die Landwirtschaftsdebatte; Frau Ministerin Aigner ist schon da. Frau Aigner, Sie haben in Europa nicht verhindert, dass zum Beispiel für Milchpulver aus Europa Exportsubventionen gezahlt werden. Ihre Politik ist nicht kohärent. Mit Ihrer Handelspolitik reißen Sie das wieder ein, was wir in vielen Jahren mühsam aufgebaut haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich möchte ferner ansprechen, dass wir, das deutsche Parlament, den Menschen auf der Welt versprochen haben, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit bis 2010 auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu steigern; bis 2015 sollen sie auf 0,7 Prozent gesteigert werden.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das hättet ihr doch mit Rot-Grün schon machen können! Da habt ihr runtergefahren!)

Das ist in Europa gemeinsam vereinbart worden, und die Kanzlerin hat zu diesem Ziel immer wieder gestanden. Wir werden beim Haushalt 2010 genau hinschauen, ob das seinen Niederschlag findet. Ich frage mich, wie Sie, die FDP, das erreichen wollen, wenn Sie ankündigen, von den CO2-Emissionserlösen solle nichts dafür verwendet werden.

Dieses Versprechen haben Sie nicht nur 80 Millionen Deutschen gegeben – viel mehr Deutsche, als Sie denken, sind in kirchlichen Einrichtungen organisiert; sie arbeiten ehrenamtlich in Eine-Welt-Läden; sie engagieren sich in kleinen Hilfsorganisationen oder an Schulen für arme Menschen –, sondern auch 3 Milliarden Menschen, die von weniger als 2 Dollar pro Tag leben, und 1 Milliarde Menschen, die jeden Tag vom Hungertod bedroht ist. Wenn Sie das Versprechen nicht einhalten, in den Haushalt für das nächste Jahr 0,51 Prozent Mittel für Entwicklungszusammenarbeit einzustellen, dann ist das angesichts der Anzahl der Menschen, denen Sie es gegeben haben, die größte Wahllüge, die es in der Geschichte dieser Republik je gegeben hat.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was haben Sie vereinbart? Sie haben nichts gemacht unter Rot-Grün!)

Wir werden genau hinschauen. In diesem Sinne werden wir Ihnen eine feurig-kritische Opposition sein. Ich glaube, das haben Sie auch nötig.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Schluss dieser sehr intensiven Debatte steht noch einmal das Thema Menschenrechte auf der Tagesordnung. Ich möchte einfach darauf hinweisen, dass der Deutsche Bundestag vor elf Jahren einen sehr richtungweisenden Beschluss über das gefasst hat, was Menschenrechtsarbeit ist, nämlich eine Arbeit, die kohärent durch alle Politikfelder geht, die in allen Politikfeldern zu betrachten ist. Ich meine, an dieser Tatsache sollten wir den Koalitionsvertrag messen.

(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das steht drin!)

Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Neben den vielen Dingen, die in diesem Koalitionsvertrag stehen und deren Einhaltung wir überprüfen werden, ist für mich die größte Enttäuschung, dass darin zu menschenrechtlichen Themen, die auch in Deutschland relevant sind – angesichts der kurzen Redezeit beziehe ich mich ausdrücklich darauf –, so gut wie gar nichts steht. Das, was darin steht, ist völlig unzureichend.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen.

Frau Steinbach hat – wie ich finde, zu Recht – diese Diskussion eröffnet, indem sie gesagt hat: Menschenrechte sind unteilbar; sie sind universell, und sie gelten entsprechend Art. 1 des Grundgesetzes – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – für alle Menschen, die in Deutschland leben. Darauf möchte ich jetzt noch einmal hinweisen. Im Koalitionsvertrag steht eine ganze Menge über Strategien im Ausland. Ich verweise nur einmal auf das, was dort zu Afrika steht – das ist nur ein kleiner Abschnitt; ich dachte eigentlich, der Kollege Fischer hätte ein größeres Standing in seiner Fraktion; mehr hat er aber nicht zustande gebracht –: Man muss Afrika dabei unterstützen, sich selbsttragend mit Flüchtlingsströmen auseinanderzusetzen und die damit verbundenen Probleme zu lösen. Das ist richtig. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden. Aber, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nun einmal auch Menschen in Afrika, denen wir Unterstützung geben müssen, weil sie in ihren Ländern – das haben wir ein Stück weit mitzuverantworten – nicht mehr leben können. Daran, wie wir mit diesen Menschen umgehen, bemisst sich auch der Wert von Außenpolitik, von Sicherheitspolitik und von Menschenrechtspolitik. Da muss man sich dann auch Fragen stellen.

Wir haben – das finde ich gut – mit dem EU-Vertrag auch eine Grundrechtecharta verabschiedet. Das heißt, in allen Ländern der EU bis auf die Tschechische Republik, Polen und Großbritannien gelten Grundrechte unmittelbar. Das ist ein Riesenfortschritt. Dass das erreicht worden ist, ist unter anderem ein Verdienst der vorherigen Bundesregierung. Dafür auch noch einmal einen ganz herzlichen Dank! Wenn man das aber ernst nimmt, dann muss man sich schon einmal die Frage stellen: Wie gehen eigentlich dieses Europa und insbesondere das größte Land in diesem Europa damit um, dass Menschen aus Afrika, denen vor Ort nicht geholfen werden kann, Sicherheit für ihr Leben, für ihre Ernährung und für ihre Gesundheit irgendwo anders suchen? Diesen Menschen zu helfen ist, wie ich denke, auch eine Aufgabe deutscher Menschenrechtspolitik. Ob es uns gelingt, ein vernünftiges und faires Asylverfahren für alle einzuführen, ist auch ein Punkt, an dem wir uns messen lassen müssen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Dabei geht es dann auch um die Frage, wie wir mit den Leuten umgehen, die hier sind. Ich habe sehr wohl gelesen – ich weiß, das fällt nicht in Ihr Ressort, aber es ist doch sehr spannend –, dass man sich bemüht, eine zeitnahe Lösung des sogenannten Bleiberechtsproblems bei denjenigen, die unter die sogenannte Altfallregelung fallen, herbeizuführen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, das hätten Sie schon seit langem haben können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir lassen Menschen in Unsicherheit, in Angst und Sorge um ihre Existenz, und Sie sagen jetzt: Wir kümmern uns um eine zeitnahe Lösung. Sie können ganz sicher sein: Sie werden von unserer Fraktion in absehbarer Zeit eine klare Lösung vorgelegt bekommen. Dabei kann man sich nicht darauf beschränken, die Stichtagsregelung um ein Jahr zu verschieben. Ich weiß doch ganz genau: In einem Jahr ist die Krise nicht beendet, in einem Jahr sind die Probleme für diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt so, wie sie jetzt sind, vielleicht sogar noch schlimmer. Deshalb brauchen wir eine Altfallregelung, bei der im Gesetz Menschenrechtsaspekte berücksichtigt werden und die damit diesen Namen auch verdient. Daran werden wir Sie messen, aber wir werden selber auch entsprechende Vorschläge einbringen. Wir sind sehr gespannt, was dabei herauskommt. Gerade an dieser Stelle muss sich unter dem Aspekt der Menschenwürde die deutsche Menschenrechtspolitik messen lassen.

Wir haben viele internationale Vereinbarungen unterschrieben. Wir sind dabei, noch weitere Vereinbarungen zu unterschreiben. All das, was Sie, Herr Außenminister, bezüglich nuklearer Abrüstung und zum Fortschaffen von Atomwaffen von deutschem Boden gesagt haben, ist zwar richtig, aber – ich bin dem Kollegen Nouripour sehr dankbar, dass er das hier einmal klargemacht hat – die wirklichen Risiken für Menschen in anderen Kontinenten stellen kleine und leichte Waffen dar. Ich fordere Sie auf, die Prüfung eines vernünftigen Abkommens zur Verhinderung des Exports von kleinen und leichten Waffen, die in den Vereinten Nationen gerade läuft, ernst zu nehmen. Durch diese Waffen sterben Hunderttausende von Menschen. Solche Abkommen muss Deutschland mit auf den Weg bringen. Hierfür sollten Sie sich in Kontinuität zur alten Bundesregierung einsetzen. Das wäre meine herzliche Bitte an Sie.

Ein letzter Punkt liegt mir noch auf dem Herzen: Ich war sehr froh darüber, dass im Koalitionsvertrag die Bemerkung steht, dass man den Vorbehalt gegenüber der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen aufheben will. Ich bin zunächst einmal sehr froh darüber, dass Sie endlich akzeptieren, dass es einen solchen Vorbehalt gibt. Ich kann mich noch an Debatten erinnern, bei denen hier gesagt wurde, einen solchen Vorbehalt gebe es überhaupt nicht. Jetzt wurde festgestellt, dass es ihn gibt. Ich kann Ihnen nur sagen, auch daran werden wir Sie messen. Sie werden noch in diesem Jahr einen Antrag von uns auf den Tisch bekommen, in dem wir fordern, die Vorbehalte zurückzunehmen. Dann können Sie beweisen, dass Sie es an dieser Stelle ernst meinen. Das wäre ein guter Fortschritt in der deutschen Menschenrechtspolitik, insbesondere zugunsten von Kindern.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau:

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.

* Quelle: Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 3. Sitzung, Berlin, Dienstag, den 10. November 2009 (Plenarprotokoll 17/3); www.bundestag.de/dokumente/protokolle/plenarprotokolle/17003.pdf

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