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Angela Merkel: "Die Bundesregierung plant eine Entwicklungsoffensive" /Gysi: "Es gibt keinen anderen verantwortbaren Weg für Afghanistan als den Weg des Abzugs der Bundeswehr"

Bundestags-Debatte über die Regierungserklärung zu Afghanistan (im Wortlaut)

Am 27. Januar 2010 gab Bundeskanzlerin Merkel im Bundestag eine Regierungserklärung zum Afghanistan-Einsatz ab. Anlass hierfür war die einen Tag später stattfindende Internationale Afghanistan-Konferenz in London. Über beide Ereignisse haben wir u.a. berichtet: Die Regierungserklärung Merkels am 27. Januar war mit Spannung erwartet worden, weil man sich Aufschluss erhoffte über das Vorgehen und die Vorschläge der deutschen Regierung in London.

Wir dokumentieren die Rede Merkels sowie sämtliche Debattenbeiträge nach dem amtlichen Protokoll in der Reihenfolge der Sprecher/innen:
Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht
18. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 27. Januar 2010


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Ich eröffne die kurz unterbrochene Sitzung wieder und rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zur internationalen Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 in London

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Manfred Zöllmer [SPD])

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ende 2001 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, deutsche Soldaten im Rahmen des internationalen NATO-Einsatzes auf der Grundlage einer Resolution des UN-Sicherheitsrates nach Afghanistan zu entsenden. Das war eine der schwierigsten Entscheidungen, die die damalige Bundesregierung und der Deutsche Bundestag im ganzen letzten Jahrzehnt zu treffen hatten. Leicht gemacht hat es sich damals niemand. Mitgetragen haben diese Entscheidung am Ende die allermeisten in diesem Hohen Haus, und zwar bis heute. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Bundesregierung und unserer Soldaten ganz herzlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nach den Anschlägen des 11. September galt es mitzuhelfen, dem internationalen Terrorismus die Rückkehr an seine wichtigste Heimstatt zu verwehren. Es galt mitzuhelfen, Afghanistan den Weg zurück zu Frieden und Stabilität zu öffnen. Dieser Auftrag hat an seiner Bedeutung und seiner Gültigkeit nichts verloren. Dennoch: Heute, gut acht Jahre später, ist die Bilanz dieses Einsatzes gemischt.

(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es gab manche Fortschritte und zu viele Rückschläge. Außer Zweifel steht: Die internationale Staatengemeinschaft hat das Ziel ihres Einsatzes noch nicht erreicht. Deshalb müssen wir handeln. Frankreich, Großbritannien und Deutschland haben dazu im September letzten Jahres, also noch zu Zeiten der damaligen Bundesregierung der Großen Koalition, die Initiative ergriffen und eine internationale Afghanistan-Konferenz angestoßen. Sie findet morgen in London statt. Unser Bundesaußenminister Guido Westerwelle wird Deutschland dort vertreten. Ich möchte ihm von diesem Ort aus ausdrücklich für die hervorragende Vorbereitung der Konferenz danken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Danken möchte ich genauso dem Verteidigungsminister, dem Innenminister und dem Entwicklungshilfeminister.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In London wird die internationale Staatengemeinschaft beraten, wie die Aufgabe, in Afghanistan für Sicherheit und Stabilität zu sorgen, in den nächsten Jahren Schritt für Schritt in die Hände der Afghanen gelegt werden kann.

Meine Damen und Herren, in London geht es also um nichts weniger als um eine Weichenstellung. Es geht um eine Weichenstellung, die nach meiner Überzeugung über Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes in Afghanistan entscheiden wird. In einem Satz: Es geht um die Entwicklung einer Strategie zur Übergabe in Verantwortung, und zwar einer gemeinsamen internationalen Strategie. Übergabe in Verantwortung – daran müssen wir alles ausrichten: die Zahl der Soldaten und Ausbilder, die Grundsätze des Einsatzes, die regionalen Zuständigkeiten. In diesem Sinne hat die Bundesregierung ein Paket für eine Weiterentwicklung unseres Afghanistan-Einsatzes geschnürt. Gestern habe ich gemeinsam mit den zuständigen Ministern die Partei- und Fraktionsvorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien darüber unterrichtet. Heute nun möchte ich Ihnen in diesem Hohen Haus unser Konzept vorstellen. Es umfasst fünf Punkte:

Erstens. Wir werden die Ausbildung der afghanischen Armee stark forcieren. Sie wird nicht nur wie bisher in den Camps erfolgen; nein, in Zukunft sollen unsere Soldaten gemeinsam mit ihren afghanischen Kameraden für den Schutz der Bevölkerung in der Nordregion sorgen. Diese Aufgabe wird künftig im Zentrum unseres Engagements stehen. Dazu wollen wir – natürlich vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Bundestages – 500 Soldatinnen und Soldaten zusätzlich nach Afghanistan entsenden. Sie sind für Ausbildung, für Begleitung, für den Schutz der Bevölkerung sowie für Führungsleistungen vorgesehen. Durch Umschichtung der Aufgaben im bestehenden Kontingent und durch die zusätzlichen Soldaten können statt heute 280 in Zukunft 1 400 Soldaten in die Ausbildung mit einbezogen werden. Das Kommando in der Region Nord soll auch in Zukunft von Deutschland geführt werden. Weitere 350 Soldaten werden als flexibel eingesetzte Reserve benötigt, insbesondere um auf besondere Situationen, zum Beispiel bei der Absicherung der Parlamentswahlen im Herbst, angemessen reagieren zu können. Sie werden nur – das ist neu – nach Befassung des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages eingesetzt, und zwar jeweils zeitlich befristet und auf die Aufgabe ausgerichtet.

Zweitens. Wir werden die Zahl der deutschen Polizeiausbilder in unserem bilateralen Projekt in diesem Jahr von 123 auf 200 und somit deutlich erhöhen. Damit können wir bis 2012 etwa ein Drittel der neuen Kräfte ausbilden, die laut Aufwuchsplan in die afghanische Polizei aufgenommen werden sollen. Wir werden dabei nicht nur mehr afghanische Polizisten, sondern gezielt auch afghanische Polizeitrainer ausbilden und zusätzliche Polizeiinfrastruktur aufbauen. Darüber hinaus werden wir auch unseren Beitrag zur Europäischen Polizeimission, EUPOL, kurzfristig erhöhen, und zwar von 45 auf 60 Polizeiexperten. Von 2002 bis 2009 haben wir bereits circa 30 000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet. 30 000 von insgesamt 97 000 afghanischen Polizisten – dieser Beitrag Deutschlands kann sich wirklich sehen lassen. Er ist in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Genau diesen Weg – das haben wir heute Morgen auch mit dem Präsidenten Karzai besprochen – werden wir fortsetzen.

Drittens. Die Bundesregierung plant eine Entwicklungsoffensive mit einem Schwerpunkt in unserem Verantwortungsbereich, also im Norden Afghanistans. Unser finanzielles Engagement dazu wird nahezu verdoppelt. Konkret heißt das: Vorbehaltlich der Zustimmung der Haushaltsgremien des Deutschen Bundestages werden wir bis 2013 jährlich statt heute 220 Millionen Euro 430 Millionen Euro in den zivilen Wiederaufbau investieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Damit wollen wir ganz konkrete Ziele erreichen, zum Beispiel für 3 Millionen Menschen mehr Einkommen und Beschäftigung schaffen. Das sind drei Viertel der Bevölkerung in den Schwerpunktprovinzen unseres Verantwortungsbereichs. Wir werden mit diesen Mitteln weitere Straßen bauen – insgesamt 700 Kilometer –, die ganzjährig befahrbar sind. Wir werden neue Lehrer ausbilden. Und wir werden zusätzlich 500 000 Schülern einen Schulbesuch ermöglichen. Das heißt nichts anderes, als dass statt heute 25 Prozent der Kinder zukünftig 60 Prozent der Kinder Zugang zu Schulen haben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir verpflichten uns als Bundesregierung, dem Parlament über die erreichten Fortschritte regelmäßig Bericht zu erstatten.

Viertens. Deutschland beabsichtigt, für den neuen internationalen Reintegrationsfonds jährlich 10 Millio-nen Euro für die kommenden fünf Jahre, also insgesamt 50 Millionen Euro, zur Verfügung zu stellen. Dafür müssen natürlich die Voraussetzungen stimmen. Die Risiken eines solchen Fonds liegen ohne jeden Zweifel auf der Hand, aber ebenso die Chancen. Denn wenn es uns gelingt, mit einem solchen Integrationsfonds mehr Kräfte in Afghanistan zu erreichen, die die Verfassung als Grundlage des politischen Handelns akzeptieren, und regierungsfeindliche Kämpfer zu motivieren, die Waffen niederzulegen und die Gesetze zu respektieren, dann können wir auf diesem Wege Anreize geben, damit diese Menschen auch am Aufbau des Landes mitwirken. Präsident Karzai hat in seiner Inaugurationsrede die Reintegration zu einem Schwerpunkt der Arbeit der neuen Regierung gemacht. Er hat dies auch bei seinen Gesprächen gestern Abend und heute Morgen hier in Berlin noch einmal ganz deutlich unterstrichen. Wir unterstützen diesen Ansatz ausdrücklich.

Fünftens. In London müssen ganz konkrete Ziele vereinbart werden, damit wir gemeinsam mit der afghanischen Regierung präzise überprüfen können, wie weit wir auf dem Weg zu Sicherheit und Stabilität vorangekommen sind. Dazu gehört vor allem eine klare Verabredung, welchen Umfang die afghanischen Sicherheitskräfte in den Jahren 2010 und 2011 erreichen sollen. Wir gehen von insgesamt gut 300 000 Sicherheitskräften aus; das ist die Summe aus Soldaten und Polizisten. Die in London zu vereinbarenden Zielmarken sollten den endgültigen Umfang der afghanischen Sicherheitskräfte darstellen. Dann können wir auch den tatsächlichen Bedarf feststellen und die notwendigen Maßnahmen zur Ausbildung und Ausrüstung ergreifen. Zugleich muss uns die afghanische Regierung einen glaubwürdigen Entwicklungsplan vorlegen und Bereitschaft zu strukturellen Reformen erkennen lassen, um gute Regierungsführung auch auf zentraler und lokaler Ebene zu stärken. Damit es keine Missverständnisse gibt: Wir haben keine Illusionen hinsichtlich bestimmter Demokratievorstellungen nach unseren Kriterien. Solche Vorstellungen wären angesichts der Geschichte und Tradition des Landes wohl auch vermessen. Dennoch müssen wir Mindestanforderungen an die Effizienz und die Legitimität der Institutionen stellen. Korruption muss wirksamer bekämpft werden. Wahlen müssen nach demokratischen Standards ablaufen. Drogenanbau muss intensiver bekämpft werden, und regierungsfeindliche Kräfte dürfen keinen weiteren Unterschlupf außerhalb Afghanistans finden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Um das zuletzt Genannte zu erreichen, muss der Dialog zwischen Afghanistan und den Partnerländern, ganz besonders Pakistan, dringend intensiviert werden. Ohne eine verbesserte regionale Kooperation, insbesondere zwischen Afghanistan und Pakistan, wird es in Afghanistan keinen Frieden geben. Meine Damen und Herren, das sind die fünf Punkte, mit denen Deutschland morgen in die Afghanistan-Konferenz gehen wird. Sie zeigen das Leitmotiv unseres Handelns: Ohne Sicherheit kann es nicht gehen; aber dauerhaft stabilisieren kann Afghanistan nur eine politische Strategie. Ziviler Aufbau und Entwicklung, militärische Ausbildung und Schutz der Bevölkerung, das geht für uns Hand in Hand. Unser Konzept ist eng mit unseren wichtigsten Partnern abgestimmt: mit Frankreich, mit den Vereinigten Staaten von Amerika genauso wie mit Großbritannien.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es denn auch eine militärische Strategie?)

Die internationale Staatengemeinschaft hat eine klare Vorstellung von Sinn und Zweck der Londoner Konferenz. London ist weder eine Geber- noch eine Truppenstellerkonferenz; London ist eine Strategiekonferenz.Ihr Ziel ist es, die Voraussetzungen für die Übergabe in Verantwortung zu schaffen, und zwar gemeinsam mit den afghanischen Autoritäten. Wenn die Umsetzung dieser Strategie gelingt, strebt Deutschland unter den jetzt bekannten Voraussetzungen an, die Übergabe in Verantwortung in einzelnen Distrikten in Nordafghanistan bereits im ersten Halbjahr 2011 einzuleiten. Dann beabsichtigt Deutschland, einzelne Fähigkeiten, die nicht mehr benötigt werden, ab Ende 2011 zu reduzieren. Dann können ab diesem Zeitpunkt gegebenenfalls auch der Gesamtumfang unserer Truppen und die Mandatsobergrenze gesenkt werden. Wir unterstützen das Ziel der afghanischen Regierung, bis 2014 die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen. Aber ich sage an dieser Stelle klar und deutlich: Ein endgültiges Abzugsdatum nenne ich ausdrücklich nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das hielte ich für kontraproduktiv und für falsch. Mehr noch: Gerade wer tatsächlich möchte, dass der Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan nicht unendlich weitergeht, sondern in absehbarer Zeit abgeschlossen werden kann, und zwar erfolgreich, der darf dem manchmal vielleicht emotional ja nachvollziehbaren Impuls, ein solches Abzugsdatum zu nennen, nicht nachgeben. Das ist meine tiefe Überzeugung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb wird die Bundesregierung das auch nicht tun.

Dabei kenne ich die kritischen Fragen so gut wie Sie alle: Engagieren wir uns nicht schon genug in Afghanistan? Lassen wir uns zu sehr von anderen drängen? Können wir dort überhaupt erfolgreich sein? Ich weiß sehr gut, dass gerade die Erhöhung der Zahl der Soldaten von niemandem mit leichtem Herzen beschlossen werden kann. Ich weiß sehr gut, dass wir sie in einen belastenden, in einen gefährlichen Einsatz schicken. Deshalb sind wir es ihnen, den Soldaten, den Polizisten, den zivilen Aufbauhelfern, die wir in diesen gefährlichen Einsatz schicken, ja, wir sind es der gesamten deutschen Öffentlichkeit schuldig, hier und heute ehrlich Rechenschaft abzulegen – Rechenschaft über das, was erreicht wurde, und über das, was nicht erreicht wurde.

Ja, es ist wahr: Der Einsatz dauert länger, und er ist schwieriger, als wir zu seinem Beginn vor gut acht Jahren gedacht haben. Ja, es hat schwere Rückschläge gegeben, die wir so nicht vorausgesehen haben. Und ja, der Einsatz fordert Menschenleben bei unseren Soldaten, bei den Polizisten, bei den zivilen Helfern und in der afghanischen Bevölkerung, Menschenleben, deren Verlust wir inständig gehofft haben nicht beklagen zu müssen. Es gibt Menschen, die auch infolge deutschen Handelns ihr Leben verloren haben oder verletzt wurden, wie dies beim Luftschlag von Kunduz am 4. September des vergangenen Jahres geschehen ist. Die Bundesregierung bedauert dies zutiefst. Die Bundesregierung trauert um jedes unschuldige Opfer.

Wir sehen nicht darüber hinweg: Es herrscht immer noch kein Frieden in diesem leidgeprüften Land. Zerstörung und Tod sind tägliche, bittere Erfahrungen. Unsere Soldaten erleben vor Ort hautnah, was es bedeutet, wenn wir von kriegsähnlichen Zuständen sprechen. Das sollten wir, die hier im fernen, sicheren Berlin debattieren, in keiner Sekunde vergessen. Wir müssen uns der Größe der Aufgabe bewusst sein. Doch sollte uns die Größe dieser Aufgabe entmutigen? Sollte sie etwas daran ändern, dem internationalen Terrorismus entschlossen entgegenzutreten und alles zu tun, um einen neuen 11. September, ein neues Madrid, ein neues London zu verhindern? Ich sage ganz klar: Nein. Die Aufgabe war 2001 richtig, und sie ist es heute genauso.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Manche meinen, Afghanistan sei ein unverständliches Land, weit weg, getrennt von uns durch andere Kulturkreise. Ja, das mag so sein. Dieses Land mag vielleicht tatsächlich weit weg sein, aber was auf dem Spiel steht, das ist ganz und gar nicht weit weg. Wir dürfen nie die Umstände vergessen, die alle Bundesregierungen seit Ende 2001 bis heute zum Afghanistan-Einsatz bewogen haben: dass das von Taliban und al-Qaida beherrschte Afghanistan die Brutstätte des Terrors vom 11. September 2001 war. Ihm folgten weitere Anschläge. Deshalb galt damals und gilt heute: Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des internationalen NATO-Einsatzes war und ist in dringendem Interesse der Sicherheit unseres Landes.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Sigmar Gabriel [SPD])

Ich ergänze ganz ausdrücklich: Eine Haltung nach dem Motto „Sollen doch die anderen, die Amerikaner, die Engländer, die Kohlen aus dem Feuer holen“ ist für mich als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und für die gesamte Bundesregierung unverantwortbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Sigmar Gabriel [SPD])

Deshalb wird es in meiner Regierungsverantwortung einen deutschen Alleingang niemals geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir haben diesen Einsatz gemeinsam beschlossen – in den Vereinten Nationen, in der NATO –, und wir werden ihn mit überarbeiteter Strategie gemeinsam fortsetzen. Wir wollen alles daransetzen, ihn gemeinsam zum Erfolg zu führen. Deswegen wäre ein einseitiger Abzug der Bundeswehr kein Beitrag zur Übergabe in Verantwortung, sondern ein Beispiel für Aufgabe in Verantwortungslosigkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das gilt umso mehr, als doch trotz aller Rückschläge auch Fortschritte zu verzeichnen sind: Gingen 2001 nur 1 Million Kinder von insgesamt rund 10 Millionen afghanischen Kindern zur Schule, davon kein einziges Mädchen, so waren es 2009 immerhin schon 7 Millionen Kinder, davon ein gutes Drittel Mädchen. Oder die Gesundheitsversorgung: Sie hat sich deutlich verbessert; die Kindersterblichkeit ist um 50 Prozent gesunken. Oder die legale Wirtschaft: Der IWF hat in diesem Bereich für das Jahr 2009 ein Wachstum von mehr als 15 Prozent festgestellt. Oder die Infrastruktur: Alle Provinzen in Nordafghanistan sind inzwischen über gut ausgebaute Straßen mit Kabul und den Nachbarstaaten verbunden; 900 000 Menschen im Norden haben oft zum ersten Mal überhaupt Zugang zu Strom und Wasser.

Noch einmal, meine Damen und Herren: Niemand in diesem Haus will hier und heute über die Probleme und Rückschläge den Mantel des Schweigens legen, ich jedenfalls nicht. Es steht außer Zweifel: Die internationale Staatengemeinschaft hat eine Bewährungsprobe zu bestehen. Es ist auch eine Bewährungsprobe für die drei Grundprinzipien, die die deutsche Außenpolitik in der Vergangenheit immer geleitet haben und sie weiter leiten werden – der Dienst für den Frieden, der wehrhafte Rechtsstaat, feste Bündnisse und Partnerschaften. Alle drei Grundsätze galten und gelten immer im Zusammenhang. Die Verteidigung der Menschenrechte hat ihren Preis, und die unserer Sicherheit auch – das ist wahr –, aber ich bin weder bereit, das eine, noch bin ich bereit, das andere aufzugeben. Beides zusammen trägt unser Land.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Genau das ist doch der Grund, warum seit der Konferenz auf dem Petersberg alle Bundesregierungen zu dieser Verantwortung Deutschlands in Afghanistan gestanden haben. Darum geht es auch heute.

Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, wenn es eine Aufgabe gibt, die zu wichtig ist, als dass parteipolitische Interessen den Ausschlag geben dürfen, dann ist es genau diese Aufgabe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In diesem Sinne bitte ich das ganze Hohe Haus um Unterstützung, damit wir unserer Verantwortung für Deutschland und für Afghanistan gerecht werden können.

Herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich eröffne die Aussprache.

Erster Redner ist der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sigmar Gabriel (SPD):

Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Ich finde es nicht ganz einfach, an einem Tag wie heute sofort wieder in den politischen Alltag zurückzukehren. Ich gebe zu, dass mir selbst die notwendige sachliche Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition angesichts der, wie ich jedenfalls finde, sehr bewegenden Gedenkstunde für die Schoah und die Befreiung von Auschwitz hier im Parlament schwerfällt. Im Namen der SPD und der SPD-Fraktion will ich dem Präsidenten und allen, die daran beteiligt waren, ausdrücklich für diese Gedenkstunde danken.

(Beifall im ganzen Hause – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das können Sie auch für uns tun!)

Aber vielleicht ist gerade dieser Tag richtig, um unsere Bereitschaft, auch militärische Mittel bei der Bekämpfung von Terror, Diktatur und Bürgerkrieg einzusetzen, neu zu begründen; denn das ist dringend notwendig. Nicht zuletzt wegen unserer deutschen Geschichte gibt es in unserem Land eine große Skepsis und Ablehnung gegenüber der Verwicklung Deutschlands in bewaffnete Auseinandersetzungen. Eigentlich ist das auch gut so. Trotzdem haben wir uns vor rund neun Jahren entschlossen, an einer solchen Auseinandersetzung nicht nur mit zivilem Wiederaufbau, sondern auch mit bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr teilzunehmen. Wir wissen: Dieser Einsatz war von Anfang an umstritten, und die Skepsis gegenüber und die Ablehnung dieses Einsatzes sind bis zum heutigen Tag gewachsen. Natürlich führen die Anschläge, die Korruption, die Menschenrechtsverletzungen – auch der Regierung Karzai –, die Wahlfälschungen und nicht zuletzt das Bombardement von Kunduz zu Verunsicherungen und zur Ablehnung des Einsatzes.

Was immer wir in einigen Wochen hier im Haus beschließen werden, wir Parlamentarier, die Politikerinnen und Politiker in Deutschland, aber noch mehr unsere Soldatinnen und Soldaten sind in unserer Demokratie auf die Unterstützung unserer Bevölkerung angewiesen. Deshalb müssen wir vor allen Dingen unsere früheren Entscheidungen, unsere heutigen Diskussionen und Beratungen und unsere künftigen Entscheidungen erneut begründen, erklären und öffentlich zur Diskussion stellen. Wir und unsere Soldatinnen und Soldaten dürfen in unserer Bevölkerung nicht noch mehr Rückhalt für den Afghanistan-Einsatz verlieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Dafür gibt es zwei Voraussetzungen. Die erste und für mich wichtigste Voraussetzung ist: Wir müssen aufhören, mit dem Begriff „Krieg“ oder „kriegerische Auseinandersetzung“ so leichtfertig umzugehen wie in den letzten Monaten.

(Beifall bei der SPD)

Jeder hier im Saal kann verstehen, dass die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan und auch unsere Bevölkerung fragen: Was, bitte, ist das, was wir dort erleben, anderes als ein Krieg? Wer Zustimmung in der Bevölkerung erreichen will, muss der Versuchung widerstehen, leichtfertig mit dem Wort „Krieg“ umzugehen, nur um den Eindruck zu erwecken, er verstehe die Menschen und Soldaten. Wer Zustimmung will, der muss erklären, um was es in Afghanistan wirklich geht und worin der Unterschied zum tatsächlichen Krieg im Irak besteht.

(Beifall bei der SPD)

Es geht bei der Frage, ob wir das, was in Afghanistan stattfindet, Krieg nennen oder nicht, nicht nur um eine juristische Definition, wie der Bundesverteidigungsminister gelegentlich meint. Es geht im Kern um unser Verständnis vom Zusammenleben der Völker, vom Völkerrecht und um die Zivilisierung und strikte Bindung militärischer Operationen an Entscheidungen der Vereinten Nationen. Niemand außer den Vereinten Nationen soll nach unserer Auffassung das Recht haben, militärische Mittel einzufordern, um Menschen vor Diktatoren, Terroristen oder Völkermördern zu schützen.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist aber neu!)

Wer für diese Zivilisierung militärischer Operationen eintritt, wer für diese strikte Bindung streitet und sie Schritt für Schritt fester in der Völkergemeinschaft verankern will, der darf das, was in Afghanistan stattfindet, nicht in die Nähe eines Krieges rücken. Denn die Vereinten Nationen führen dort keinen Krieg, und unsere Soldatinnen und Soldaten sind dort keine Krieger.

(Beifall bei der SPD)

Wer die Zustimmung unserer Bevölkerung zu dieser militärischen Beteiligung oder zu künftigen militärischen Beteiligungen Deutschlands auf Grundlage von Entscheidungen der UN gewinnen will, der darf diese UN-Mission eben nicht in die Nähe des Krieges rücken. Wenn die Vereinten Nationen militärische Hilfe anfordern, tun sie dies gerade in Afghanistan nicht zum Zwecke des Krieges. Im UN-Einsatz sind Soldatinnen und Soldaten, jedenfalls nach unserem Verständnis, eher so etwas wie Weltpolizisten dort, wo die normalen polizeilichen Mittel versagen und nicht wirken.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Friedensengel, oder was? – Weitere Zurufe von der LINKEN)

– Ich verstehe, dass Sie an dieser Stelle eine andere Haltung haben. Ich habe sie immer respektiert, weil ich verstanden habe, dass eine Partei, deren Bekenntnis zu ihren Vorläuferorganisationen jeden Krieg der Sowjetunion gerechtfertigt hat, jetzt ausschließlich pazifistisch sein will. Ich verstehe, dass das der Grund für Ihre pazifistische Haltung ist.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dagmar Enkelmann[DIE LINKE]: Keine Ahnung!)

– Ich weiß nicht, warum Sie Zwischenrufe machen. Endlich äußert mal jemand Verständnis für Sie, und dann sind Sie damit auch nicht einverstanden.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das war doch kein Verständnis!)

Wer generell Nein sagt, wie es zum Beispiel Ihre Partei tut, der hilft letztlich denen, die diese strikte völkerrechtliche Bindung von militärischer Gewalt an ein Mandat der Vereinten Nationen noch nie gewollt haben und diesen Fortschritt im Völkerrecht politisch bekämpfen. Sie helfen damit denjenigen, die entweder weiter zur Privatisierung militärischer Gewalt beitragen wollen oder nationale Alleingänge beim Einsatz militärischer Interventionen für richtig halten. Das ist nicht unser Weg.

(Beifall bei der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie denken nicht mal über Alternativen nach!)

Wir können nicht die Einhaltung des Völkerrechts einfordern und dann nicht bereit sein, dem Völkerrecht auch Nachdruck zu verleihen. Das eine ist so falsch wie das andere: von Krieg zu reden oder kriegerische Einsätze zu beschwören, wo es um den Schutz vor Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus geht, oder die hehren Grundsätze zur Stärkung des Völkerrechts und der UN zu beschweren, ihr aber die Mittel zu verweigern, das Völkerrecht auch durchzusetzen. Wer von Krieg redet, wird an Zustimmung für den Einsatz in Afghanistan verlieren und missachtet, Herr Bundesverteidigungsminister, die Leistungen, die unsere Soldatinnen und Soldaten dort erbringen, außerordentlich.

(Elke Hoff [FDP]: Was?)

Es lässt sich leicht im Deutschen Bundestag darlegen, dass der Schutz der Zivilisten bei jeder militärischen Aktion Vorrang haben muss. Dies umzusetzen, ist aber außerordentlich schwer. Dennoch hat es die Bundeswehr, haben es die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, bis auf den Einsatz in Kunduz, in Afghanistan in hervorragender Weise getan.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das?)

Wir brauchen keine Militarisierung der Sprache, um die Menschen psychologisch an mehr zivile Opfer zu gewöhnen, sondern wir brauchen die deutliche Distanz zu Forderungen nach robusteren Mandaten und kriegerischen Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan.

(Beifall bei der SPD)

Herr zu Guttenberg, niemand hat in den letzten Wochen so viel über den deutschen Afghanistan-Einsatz geredet wie Sie. Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob der Verteidigungsminister und seine Militärs die deutsche Außenpolitik definieren und nicht der nach der Verfassung zuständige Außenminister. Wir haben uns die ganze Zeit gefragt: Was sind denn nun die Konsequenzen aus dieser Form von Kriegssemantik, die den Verteidigungsminister von Talkshow zu Talkshow trug? Herr zu Guttenberg, noch am 9. Januar dieses Jahres haben Sie erklärt, dass dem Afghanistan-Einsatz die Klarheit eines nicht internationalen Krieges fehle. Aus Ihrer Sicht fehlt es der Bundeswehr also an einer sicheren rechtlichen Grundlage für diesen Einsatz; damals ging es Ihnen ja genau darum. Ich frage Sie: Wenn es wirklich Ihre Ansicht ist, dass für die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan keine sichere Rechtsgrundlage vorhanden ist, warum haben Sie dem Deutschen Bundestag dann einen Monat zuvor ein Mandat vorgelegt, das genau diese Forderungen von Ihnen nicht enthalten hat? Warum?

(Beifall bei der SPD)

Herr zu Guttenberg, wenn Sie dem Bundestag schon im Dezember 2009 ein aus Ihrer Sicht falsches Mandat vorgelegt haben, warum bringen Sie nicht jetzt eine Vorlage, die eine andere rechtliche Grundlage für den Afghanistan- Einsatz vorsieht, in den Bundestag ein? Kein Wort davon in der Regierungserklärung der Kanzlerin.

Herr zu Guttenberg, Sie haben sich in den letzten Monaten, je nach öffentlicher Stimmung, mal vor die Soldaten gestellt und sich mal hinter ihnen versteckt. Mal Kampftruppen, mal keine, mal waren die Bomben auf Kunduz gerechtfertigt, dann wieder nicht, mal sollten wir Krieg führen, jetzt wohl eher doch nicht – immer schön hart am Wind der jeweiligen Medienlage und immer im Konjunktiv; denn festlegen wollten Sie sich nie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir verstehen jetzt besser, was der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Schneiderhan, Ihnen vorgehalten hat, als er sagte, Sie seien jemand, der „vorschnell formuliert“. Von all den Forderungen nach robusteren Mandaten, von dem Bekenntnis zum Krieg und zu mehr Kampftruppen bleibt nun nichts übrig. Wir begrüßen diesen Wechsel. Wir haben den Eindruck, es handelt sich nicht so sehr um einen Strategiewechsel in Afghanistan als vielmehr um einen Strategiewechsel in Ihrer eigenen Bundesregierung. Wir begrüßen das ausdrücklich, Frau Dr. Merkel.

(Beifall bei der SPD)

Wir begrüßen in diesem Zusammenhang auch, dass sich die USA endlich der schon länger existierenden deutschen Strategie angeschlossen haben: Endlich steht auch bei den US-Truppen der Schutz der Zivilbevölkerung im Mittelpunkt aller Einsätze. Das ist ein Erfolg des Wechsels von Bush zu Barack Obama, und es ist ein Wechsel zu einer Strategie, die den Auftrag der Bundeswehr schon immer bestimmt hat.

Was wir nicht begrüßen, Frau Bundeskanzlerin, ist, dass Sie uns Ihre Überlegungen nach wochenlangem Schweigen erst gestern, kurz vor der Londoner Afghanistan- Konferenz, vorgelegt haben. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir mussten heute lesen, dass Ihr Außenminister die Verbündeten, beispielsweise die amerikanische Außenministerin, erst gestern, kurz vor Beginn der Londoner Afghanistan-Konferenz, sozusagen mit einem Last-Minute-Ticket, über die neue Afghanistan-Strategie informiert hat.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er wollte ja nur sagen, dass er mit ihr telefoniert hat!)

So gewinnt man keine Verbündeten für die eigene Strategie. Da muss man sich nicht wundern, wenn man am Ende am Katzentisch sitzt.

(Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur weil die Kanzlerin mit Obama telefoniert hat, wollte er das sagen!)

Die zweite wichtige Voraussetzung dafür, dass die Zustimmung für eine deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz wieder wächst, ist, dass wir bei der Stabilisierung in Afghanistan realistische Ziele haben und sie mit einer Abzugsperspektive auch für die deutschen Soldatinnen und Soldaten verbinden. Das steht im Mittelpunkt der Forderungen und der Haltung der SPD. Wir wollen einen realistischen Fahrplan für den Abzug unserer Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan. Wir wollen die Schritte dieses Abzugsfahrplans verbinden mit einer ebenso realistischen Perspektive für die Gewährleistung der Sicherheit in Afghanistan durch afghanische Sicherheitskräfte und wachsende Investitionen in den zivilen Aufbau des Landes. Das steht im Zentrum unserer Überlegungen. Man findet in Ihrer Regierungserklärung eine Menge, bei der man den Eindruck haben kann, dass das auch bei Ihren Überlegungen im Mittelpunkt steht.

Für die SPD ist diese Haltung nicht neu. Es gab bereits früher Vorstöße, aus der Erstarrung der Auseinandersetzung in Afghanistan herauszukommen und die Logik der bewaffneten Konfrontation nach und nach aufzubrechen. Als der damalige Vorsitzende der SPD, Kurt Beck, die innerafghanische Versöhnung unter Einbeziehung moderater Taliban gefordert hat, nannte der damalige außenpolitische Sprecher der Union, Herr von Klaeden, diesen Ansatz erbärmlich.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)

Der damals ebenfalls für Außenpolitik zuständige Herr zu Guttenberg sagte zu diesem Vorschlag, dass niemand je einen vernünftigen Taliban getroffen habe. Inzwischen vermittelt er den Eindruck, er sei der Erfinder der Idee, Gesprächsbereitschaft gegenüber allen Konfliktparteien in Afghanistan zu zeigen.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir haben Kurt Beck nicht gestürzt!)

Überhaupt ist es so, dass die konservative Regierung bis zu der heutigen Regierungserklärung der Kanzlerin einen langen Weg hinter sich hat. Im Dezember erklärte der deutsche Außenminister Westerwelle, er wolle nicht zu einer reinen Truppenstellerkonferenz fahren. Ich habe das nicht als Angriff auf die USA oder andere Verbündete verstanden, Herr Westerwelle. Mein Eindruck war, Sie wollten damit dafür sorgen, dass in Ihrer eigenen Bundesregierung die Stimmen, die nach einer Aufstockung der Kampftruppen rufen, endlich ein Ende haben. In dieser Hinsicht hat der Sicherheitsexperte der CSU, der Kollege Uhl, vorgedacht, als er im Dezember ein deutlich robusteres Afghanistan-Mandat gefordert hat. Genauso hat sich der Stellvertreter von Frau Merkel, Herr Wulff, geäußert. Und heute? Heute erklärt die Bundeskanzlerin im Namen der Bundesregierung: Es werden keine zusätzlichen Kampftruppen nach Afghanistan geschickt;

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: 850!)

stattdessen werden innerhalb des Kontingentes Kampfeinheiten zugunsten von mehr Ausbildung umgeschichtet. Zum guten Schluss erklären Sie, dass Sie selbstverständlich alles dafür tun wollen, dass die afghanische Regierung dabei unterstützt wird, spätestens ab 2015 keine internationalen Streitkräfte mehr an bewaffneten Einsätzen zu beteiligen, also auch nicht die Bundeswehr.

Frau Bundeskanzlerin, wir halten die Strategie, die Sie damit betreiben, für die richtige Strategie, wenn es darum geht, realistische Abzugsperspektiven bis 2015 voranzutreiben. Wir wollen Sie dabei unterstützen, aber wir sind nicht sicher, ob die Strategie tatsächlich in der gesamten Bundesregierung angekommen ist. Gestern gab es fünf Pressekonferenzen, die Sie und Ihre Minister abgehalten haben. Ich bin nicht sicher, ob Ihre Strategie nachhaltig bei den vier Ministern, die auch eine Pressekonferenz abgehalten haben, angekommen ist; denn trotz all der Äußerungen vom gestrigen Tage rumpelt es erheblich. Auf der einen Seite erklärte der Außenminister auf seiner gestrigen Pressekonferenz:

Wir wollen im Jahr 2011 auch den Abbau unseres eigenen Kontingents beginnen, und wir wollen im Jahr 2014 die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an Afghanistan schaffen.

Auf der anderen Seite äußerte sich der Bundesverteidigungsminister auf seiner Pressekonferenz wie folgt:

Also, zunächst, was die Abzugsperspektive anbelangt, so ist das Jahr 2011 mit Sicherheit eines, das in gewissen Teilbereichen Möglichkeiten zulassen kann.

(Heiterkeit bei der SPD)

Herr zu Guttenberg, à la bonne heure! Sie sind wahrlich ein Meister des Konjunktivs.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es reicht aber nicht aus, entschlossen dreinzuschauen; man muss auch wollen, was die Kanzlerin sagt, und darf nicht das Gegenteil beschreiben.

(Beifall bei der SPD)

Frau Bundeskanzlerin, Ihr Auftrag ist es, solche realistischen Ziele für den deutschen Einsatz zu definieren und Ihrem Bundesverteidigungsminister beizubringen, was das bedeutet. Wir brauchen dringend qualitative und quantitative Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg unseres Engagements in Afghanistan. Diese Kriterien sollten nicht von Regierungen festgelegt, vorgestellt und überprüft werden, sondern am besten von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern.

(Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])

Hier geht es zum Beispiel um folgende Fragen: Wie viele Polizisten und Soldaten wollen wir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgebildet haben? Wie soll die Armutsbekämpfung aussehen? Welche Fortschritte wollen wir beim zivilen Wiederaufbau machen? – Erst die kontinuierliche Überprüfung solcher Ziele macht für das Parlament, aber auch für die deutsche Öffentlichkeit nachvollziehbar, ob unser Afghanistan-Einsatz gerechtfertigt ist und ob wir die richtigen Mittel einsetzen oder nicht.

(Beifall bei der SPD)

Das Wichtigste, Frau Bundeskanzlerin: Das Ganze muss dazu dienen, dass die Bundeswehr und alle internationalen Streitkräfte Afghanistan wieder verlassen, ohne die Sicherheit und Stabilität des Landes zu gefährden.

Unser Ziel ist es, 2011 – parallel zum schrittweisen Rückzug der US-Streitkräfte – mit dem Rückzug zu beginnen. Wir wollen alles tun, um die afghanische Regierung zu unterstützen, die selbst erklärt hat, dass sie 2014/2015 keine internationalen Streitkräfte mehr für bewaffnete Konflikte im Land haben will. Das ist der Grund für uns, zu sagen: Lasst uns ein Abzugsdatum im Korridor zwischen 2013 und 2015 wählen, damit die afghanische Regierung weiß, dass wir es mit einer Begrenzung unseres Militäreinsatzes in Afghanistan ernst meinen.

(Beifall bei der SPD)

Frau Bundeskanzlerin, wir sind nicht überzeugt davon, dass wir für diese Strategie 850 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten brauchen. Darüber werden wir hier im Deutschen Bundestag sicherlich noch heftig diskutieren. Aber unabhängig von der Frage, wie viele Soldatinnen und Soldaten am Ende benötigt werden: Eine Zustimmung der SPD zu einem veränderten Afghanistan-Mandat hängt entscheidend davon ab, ob ein klares Datum 2011 für den Beginn des schrittweisen Abzugs der Bundeswehr festgelegt wird, ob Sie qualitative und quantitative Ziele für den Afghanistan-Einsatz entwickeln und überprüfen lassen, ob die geplanten Truppenaufstockungen zwingend und zeitlich klar begrenzt sind, und ob Sie eine Beendigung der Beteiligung der Bundeswehr an bewaffneten Einsätzen im Zeitraum 2013 bis 2015 nachvollziehbar herbeiführen können.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Nein! Haben sie gerade gesagt! Das ist gerade abgelehnt worden!)

Die SPD hat im letzten Herbst mit dem Zehnpunkteplan von Frank-Walter Steinmeier die Debatte um den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan begonnen. Wenn die Bundesregierung diesen zehn Punkten folgt, wird sie unsere Zustimmung bekommen. Damit geben wir den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten und allen zivilen Aufbauhelfern eine klare Perspektive für die Grundlage ihrer Arbeit; wir geben den Soldatinnen und Soldaten eine klare Perspektive für die Beendigung ihres Aufenthalts in Afghanistan.

Wir wissen, dass es notwendig sein kann, in einer Welt, in der Diktatoren, Fanatiker, Kriegsherren und Terroristen uns und andere bedrohen, auch militärische Mittel einzusetzen. Trotzdem ist es am Ende nicht unser eigenes Leben, das wir gefährden, wenn wir Politiker über solche Einsätze entscheiden. Es könnte aber immer auch das Leben unserer eigenen Söhne und Töchter gefährden. Deshalb ist es gut, wenn wir es uns schwer machen, solche Einsätze oder ihre Fortsetzung zu beschließen.

Deshalb ist es wichtig, den Männern und Frauen in solchen Einsätzen, die auf unseren Befehl oder, wenn es sich um zivile Hilfskräfte für den Wiederaufbau handelt, auf unsere Bitte dort hingehen, auch für ihren Mut und ihre Tapferkeit zu danken und ihnen immer wieder unter Beweis zu stellen, dass wir einerseits die Grundlagen des Einsatzes gewissenhaft prüfen und andererseits, wenn wir entscheiden, den Einsatz fortzusetzen, auch fest hinter ihrer Arbeit stehen.

(Beifall bei der SPD)

Ich danke natürlich all denen, die sich an dem Einsatz beteiligen, aber ich danke auch denen, die sich kritisch zum deutschen Militärengagement äußern. Was wären wir für ein armseliges Land, wenn wir nicht auch die kritische Einmischung und das Hinterfragen unserer Entscheidungen begrüßen würden!

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist wahr!)

Schon deshalb danke ich der Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, die jüngst eine kluge und differenzierte Predigt gehalten hat; sie war jedenfalls klüger und differenzierter als die Äußerungen mancher ihrer Kritiker.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wer, wenn nicht die Kirchen und die Religionsgemeinschaften dieser Welt, hat das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht, mehr Fantasie für den Frieden einzufordern?

Die SPD steht zum deutschen Engagement in Afghanistan und auch zum Einsatz der Bundeswehr im Auftrag der UN. Das sage ich auch im Bewusstsein, dass in meiner Partei über nichts so engagiert und mit so heißem Herzen gestritten wird wie über Militäreinsätze. Auf nichts ist die SPD mehr stolz als darauf, dass wir spätestens seit dem Ersten Weltkrieg militärische Mittel in die Hände der internationalen Staatengemeinschaft legen wollen, damit kein einzelner Staat darüber entscheidet und damit militärische Mittel die Ultima Ratio bleiben, um die Freiheit und die Sicherheit von Menschen zu schützen.

Für mich ist klar: Ohne die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, in den Krieg gegen Hitler-Deutschland einzutreten, wäre der Krieg am Ende nicht so schnell vorbei und wären noch Millionen Tote mehr zu beklagen gewesen. Ich sage das auch im Bewusstsein des heutigen Gedenktages, der an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erinnert. Manchmal sind Militäreinsätze zwingend.

Für die SPD waren und sind seit nun fast 150 Jahren die Fragen hinsichtlich Krieg und Frieden niemals taktische Fragen. Wir haben uns bei der Beantwortung dieser Fragen nie daran orientiert, ob unsere Antworten gerade in die aktuelle politische Landschaft passten oder ob wir uns einen politischen Vorteil erhofften.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

– Ich darf einmal daran erinnern: Sie waren es, die im Jahre 2001 gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gestimmt haben. Sie haben damals gesagt: Wir können das nicht machen, weil wir sonst Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstützen. – Sie waren es, die aus innenpolitischen Gründen der Notwendigkeit dieses Einsatzes widersprochen haben. Lachen Sie also mal nicht so laut!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und Sie sind stolz auf diese Entscheidung! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt gar nicht! – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Wer schreibt denn Ihre Reden?)

– Es gibt ein altes Sprichwort: Ein getretener Hund bellt. Ich scheine offensichtlich Ihre Erinnerung geweckt zu haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben das nicht an taktische Erwägungen geknüpft.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nein, natürlich nicht!)

– Wenn wir das getan hätten, dann hätten wir dem Afghanistan-Einsatz nach dem Regierungswechsel nicht zugestimmt. Sie können von uns doch nicht erwarten, dass wir jedem Unsinn, der in der Zeit zwischen dem Regierungswechsel und der heutigen Regierungserklärung gemacht wurde, öffentlich Beifall zollen. Wir sind gegen zusätzliche Kampftruppen, wir sind für einen Beginn des Abzugs im Jahre 2011, wir sind für eine Beendigung.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Auf einmal! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Dann müssen Sie das ablehnen!)

Wir sagen das klar, weil wir glauben, dass wir den Einsatz damit legitimieren. Das ist der Grund, warum wir darüber reden.

(Beifall bei der SPD – Dr. Hans-Peter Friedrich[Hof] [CDU/CSU]: Sie brauchen eine Rückzugsstrategie für Ihre Rede!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Gabriel!

Sigmar Gabriel (SPD):

Die Prinzipien, an die wir uns auch jetzt halten, lauten: Der Einsatz militärischer Mittel bleibt die Ultima Ratio. Natürlich will die SPD zu ihrer internationalen und auch zu ihrer deutschen Verantwortung stehen. Eine Verlässlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik ist für Deutschland unverzichtbar. Niemand würde auf uns hören, wenn wir uns erratisch und nach aktueller Stimmungslage verhalten würden. – All das muss dazu beitragen, das Versprechen gegenüber der deutschen Bevölkerung und den Angehörigen der Bundeswehr einzulösen, dass wir in Afghanistan nicht auf Dauer militärisch engagiert sein wollen und dass wir all unsere Mittel und Instrumente, die wir einsetzen, dem Ziel unterzuordnen haben, die Sicherheit in Afghanistan durch afghanische Soldaten und Polizeikräfte zu gewährleisten und die Soldatinnen und Soldaten aus bewaffneten Kampfeinsätzen nach Deutschland zurückzuholen. Das ist das Ziel sozialdemokratischer Politik. Wenn auch Sie dieses Ziel verfolgen, finden Sie unsere Zustimmung. Wenn Sie es infrage stellen, dann haben Sie unsere Zustimmung nicht zu erwarten.

(Anhaltender Beifall bei der SPD – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Sie verfolgen das nicht! Das haben sie gerade gesagt!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Andreas Schockenhoff.

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU):

Herr Kollege Gabriel, Sie haben gerade behauptet, die CDU/CSU habe 2001 gegen eines der ISAF-Mandate gestimmt. Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist vielmehr, dass die CDU/CSU von Beginn des Einsatzes an jedem ISAF-Mandat zugestimmt hat.

(Beifall bei der LINKEN: Umso schlimmer!)

Es gab eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Zusammenhang mit dem Mandat für die Operation Enduring Freedom. Auch hier hat die CDU/CSU nicht gegen das Mandat gestimmt. Wir haben uns aber damals der Stimme enthalten, weil Sie die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verknüpft haben. Ich will Ihnen Gelegenheit geben, Ihre falsche Behauptung zurückzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sigmar Gabriel (SPD):

Herr Kollege, ich habe auf Zwischenrufe hinsichtlich taktischen Verhaltens in der Innenpolitik mit der Bemerkung reagiert, dass man Einsätze der Bundeswehr nicht mitgetragen hat. Das haben Sie nach Ihrer eigenen Aussage damals aus innenpolitischer Taktik nicht getan.

(Lachen bei der CDU/CSU)

– Nichts anderes haben Sie gemacht.

Abgesehen davon unterscheidet uns im Wesentlichen, dass wir wissen, was völkerrechtlich in Ordnung ist und was nicht.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Wir erinnern uns gut daran, dass Sie und auch Ihre damalige Fraktionsvorsitzende damals nicht genug dafür werben konnten, den völkerrechtswidrigen Krieg im Irak zu legitimieren. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir wissen, was völkerrechtlich richtig ist, und wir verstoßen nicht gegen das Völkerrecht, wie Sie es damals getan haben.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Peinlich! Peinlich!)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Rainer Stinner (FDP):

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als das Afghanistan-Engagement im Jahr 2001 von SPD und Grünen begonnen wurde, wusste jeder von uns und vor allen Dingen von den beiden damals tragenden Parteien, dass es sich um ein langfristiges Engagement handeln würde.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht! Halbes Jahr, wurde gesagt!)

– Ihr damaliger Parteikönig, Herr Ströbele, Außenminister Fischer, hat damals in der Debatte über das Mandat am 20. Dezember 2002 gesagt:

Man muss aber ehrlich hinzufügen: Es wird lange dauern.

Man müsse wissen, dass es ein sehr langfristiges Engagement wird. Das hat Ihr Herr Fischer hier gesagt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Gabriel, Sie haben sich heute in einem großen Teil Ihrer Rede am Kriegsbegriff abgearbeitet. Ich darf Sie daran erinnern, was Ihr damaliger Parteivorsitzender und Bundeskanzler Schröder am 22. Dezember 2001 in einer Afghanistan-Debatte im Deutschen Bundestag gesagt hat. Ich zitiere wörtlich:

Im Deutschen Bundestag ist über die Frage, ob es verantwortbar sei, sich an Kriegshandlungen zu beteiligen – in welcher Form auch immer –, wie nicht anders zu erwarten, sehr heftig gestritten worden. Es sind viele Argumente ausgetauscht worden. Zum Beispiel wurde gesagt, dass Krieg immer auch Unschuldige trifft. Das ist wahr. Aber das Problem, dem wir uns heute stellen müssen, ist: Die Abwesenheit von demokratisch legitimierter Gewalt hat viel, viel mehr Unschuldige getroffen, hat sie rechtlos gemacht, zumal Frauen und Kinder.

Er fährt fort:

Krieg trifft Unschuldige. Das ist keine Frage. Aber das Beispiel Afghanistan zeigt: Nur mithilfe militärischer Gewalt konnte verhindert werden, dass auch in Zukunft Unschuldige unendlich leiden müssen.

Es sind also nicht die jetzige Bundesregierung und der jetzige Verteidigungsminister, die den Kriegsbegriff in die Debatte eingeführt haben, sondern es war Ihr Parteivorsitzender, dem Sie damals auf breiter Ebene zugejubelt haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Herr Gabriel, Ihr Gedächtnis ist sehr kurz. Erwarten Sie aber nicht, dass unseres ähnlich kurz ist. Herr Schockenhoff hat darauf hingewiesen, dass Sie die Afghanistan-Debatte falsch memoriert haben. Auch wir haben dem ISAF-Einsatz zugestimmt. Wegen der Verknüpfung mit der Vertrauensfrage haben wir damals in der Tat nicht sofort zugestimmt, wohl aber einige Jahre später. Bitte gehen Sie in die Archive und vor allen Dingen in sich!

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Aber das war ein bisschen undurchsichtig bei Ihnen!)

Der Parteivorsitzende der SPD verbreitet nun wohlfeile Vorschläge an die politische Klasse bzw. die Bundesregierung. Ich darf Sie daran erinnern, sehr geehrter Herr Gabriel, dass Ihre Regierungszeit von 1998 bis 2009 gedauert hat und dass Sie zuerst den Bundeskanzler und dann vier Jahre den Außenminister gestellt haben.Nun stellen Sie sich hierhin und werfen der Bundesregierung vor, dass in Afghanistan nicht die notwendigen Fortschritte gemacht worden seien.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Habe ich gar nicht gemacht!)

Herr Gabriel, Ihnen kann ich nur das alte Sprichwort zurufen: Der beste Beweis für das Können ist das Tun. – Sie haben es jahrelang nicht getan. Diese Bundesregierung packt es endlich an und tut das Richtige.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir haben von der Bundesregierung erwartet, dass sie mit eigenen, konsistenten und alle Bereiche umfassenden Vorschlägen nach London geht. Diese Erwartung ist erstmals erfüllt worden. Auch das ist neu, Herr Gabriel. Sie haben immer von vernetzter Sicherheit gesprochen. Die jetzige Bundesregierung tut diesbezüglich erstmalig etwas. Wir können deutlich erkennen, dass alle vier beteiligten Ressorts gemeinsam mitgearbeitet haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Bundesregierung hat sich auch nicht von dem logisch richtigen Weg abbringen lassen: zuerst Ziele definieren, dann Strategien als Wege zu den Zielen festlegen und schließlich über die Mittel reden. Sie, Herr Gabriel, haben primär über die Zahl der Soldaten und Abzugsdaten gesprochen. Das sind Resultanten, Ergebnisse einer vorherigen Zieldefinition und einer Strategiefestlegung. Das kommt am Ende und nicht am Anfang. Deshalb hat die Bundesregierung in ihrem Vorgehen recht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Alle vier Ressorts haben unter Federführung des Auswärtigen Amtes eindeutig und stark mitgewirkt. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben dafür dem Außenminister – zu Recht – herzlich gedankt. Ich möchte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, für Ihre Regierungserklärung danken, die vollumfänglich unsere Zustimmung gefunden hat. Das haben Sie sicherlich am Beifall gemerkt.

Lassen Sie mich auf ein Element ausführlich eingehen: den Integrationsfonds. Herr Karzai hat heute genauso wie die internationale Gemeinschaft und alle anderen Vernünftigen auf der Welt gesagt: Ohne den Versuch, die Hardcore-Taliban von den Mitläufern zu trennen, und ohne den Versuch, Tausende, Zehntausende bzw. Hunderttausende wieder in die Gesellschaft eines „normalen“ Afghanistans zu integrieren, wird es nie und nimmer Frieden in diesem Land geben können. Deshalb ist die jetzige Initiative richtig. Sehr geehrter Herr Gabriel, jeder weiß, dass das schwierig werden wird. Keiner glaubt, dass wir jetzt mit Geldscheinen Taliban fangen können. Jeder weiß, dass dadurch Nichtmitläufer nicht benachteiligt werden dürfen. Keiner glaubt, dass es sinnvoll ist, der afghanischen Regierung einfach 350 Millionen Euro zu geben und ihr zu sagen: Nun macht mal schön! – Nein, wir alle wissen, dass es sehr schwierig wird. Aber wir wissen genauso wie Herr Karzai und Vertreter vieler anderer Länder, dass das unmittelbar notwendig ist.

Die zivile Unterstützung wird sehr deutlich ausgeweitet, genauso wie die Polizei. Ich habe keine Zeit mehr, darauf im Einzelnen einzugehen, weil Sie, Herr Gabriel, mich gezwungen haben, auf Sie einzugehen. Nur so viel: Wir von der FDP-Fraktion haben seit Jahren ein solches Konzept gefordert. Wir haben es jetzt. Auf die Frage „Wird jetzt alles gut in Afghanistan?“ kann ich aber nur antworten: Natürlich wird jetzt nicht alles gut. Das weiß jeder von uns. Aber wir haben mit diesem Konzept die Chance, zu Frieden und Entwicklung in diesem Land beizutragen. Wir haben die Chance, unser Gesicht international zu wahren. Wir haben die Chance, unsere Interessen zu vertreten. Deshalb unterstützen wir das Konzept der Bundesregierung. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):



Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, welche Gründe gibt es eigentlich für den Krieg in Afghanistan? Diese Frage steht, auch wenn Sie, Herr Gabriel, den Krieg nicht Krieg nennen wollen, obwohl Bomben geworfen werden und millionenfach geschossen wird. Das ist nichts anderes als Krieg, Herr Gabriel.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Sie, Frau Bundeskanzlerin, erklären erstens den Kampf gegen den Terrorismus zum Ziel. Die Terroristen waren und sind in der al-Qaida organisiert. Deren Lager in Afghanistan sind zerstört, die Finanzströme stillgelegt. Al-Qaida operiert jetzt von Pakistan und anderen Ländern aus. Wenn Sie ernsthaft glauben, Terrorismus mit Krieg bekämpfen zu können, müssten Sie Afghanistan unverzüglich verlassen und in anderen Ländern Krieg führen, aber das ohne Ende, weil es dann immer irgendwelche Wechsel der Terroristinnen und Terroristen gäbe.

Nur, mit Krieg kann man niemals wirksam Terrorismus bekämpfen;

(Beifall bei der LINKEN)

im Gegenteil, man erzeugt neuen Terrorismus. Im Krieg sterben immer Unbeteiligte, Unschuldige, am Kunduz nun eindeutig auch durch die Bundeswehr. Diese haben Angehörige, haben Freundinnen und Freunde, bei denen Hass entsteht. So gelingt es den Bin Ladens dieser Erde, immer wieder neue Terroristinnen und Terroristen zu rekrutieren. Einen Bin Laden kann niemand von uns verhindern; aber dass er so viele für Gewaltakte gewinnen kann, das könnte man verhindern, aber niemals mit Krieg.

(Beifall bei der LINKEN)

Hauptursache des globalen Terrorismus ist die Ungerechtigkeit des Westens gegenüber der Dritten und der muslimischen Welt. Statt Ausweitung des Krieges auf den Jemen und auf Somalia wären Friedenslösungen wichtig: für Afghanistan, für den Irak, für Somalia, für den Jemen und für den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina. Nur mit einem gerechten Welthandel, mit größerer, nicht selbstnütziger Entwicklungshilfe, mit einer anderen Toleranz zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen lässt sich dem Terrorismus der Boden entziehen, aber eben nicht mit Krieg.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Ziel soll zweitens darin bestehen, die Taliban zu bekämpfen. Die Taliban sind aber keine internationalen Terroristen, wenngleich sie den Terroristen von al-Qaida erlaubt haben, sich in Afghanistan auszubilden. Die Taliban haben keine internationalen Ziele, schon gar keine terroristischen, sondern sie wollen ein bestimmtes Regime in Afghanistan wieder errichten, das uns allen nicht gefällt.

Präsident Karzai versucht, mit bestimmten Taliban einen politischen Ausgleich zu finden; anders geht es auch nicht. Wenn Sie im Unterschied zu Minister zu Guttenberg ernsthaft glauben, eine demokratische Kultur europäischer Prägung in Afghanistan installieren zu können, werden Sie mit Ihrem Krieg genauso scheitern. Alle Versuche, die Kultur und Struktur des Landes militärisch zu verändern, sind gescheitert. Das gilt für den britischen Versuch, für den sowjetischen Versuch und für den jetzigen Versuch der NATO.

(Beifall bei der LINKEN)

Indirekt und wahrscheinlich eher unbewusst bestätigt dies Hans-Ulrich Klose von der SPD, indem er sagt, dass neun Wochen nach dem Abzug der NATO-Truppen gegenwärtig die alte Taliban-Herrschaft wieder installiert wäre. Mit anderen Worten: Er sagt, dass der neunjährige Krieg diesbezüglich völlig sinnlos war, weil er demnach nichts an Strukturen geändert hat.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sagen drittens, dass es Ihnen um den zivilen Aufbau gehe, der nur militärisch abgesichert werden müsse, solange keine ausreichende eigene afghanische Sicherheitsstruktur vorhanden sei. Die Organisation der UNO, die UNDP, hat über den zivilen Aufbau in Afghanistan folgenden Bericht vorgelegt, den Sie, Frau Bundeskanzlerin, leider nur einseitig wiedergegeben haben. Zunächst werden Verbesserungen festgestellt. Beim Zugang zur Grundschule gibt es einen Anstieg von 54 auf 60 Prozent der Kinder. Nach neun Jahren Krieg von 54 auf 60 Prozent der Kinder! Bei der Alphabetisierung gibt es einen Anstieg von 34 auf 36,5 Prozent der Bevölkerung. Die Kindersterblichkeit ist von 257 auf 191 bei 1 000 geborenen Kindern reduziert worden. Der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner mit Zugang zu Wasser ist von 23 auf 41,4 Prozent angestiegen.

Dann beschäftigt sich der UN-Bericht mit Verschlechterungen und stellt fest: Der Prozentsatz der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ist von 33 auf 42 Prozent angestiegen. Die Unterernährung betrifft nicht mehr 30, sondern 39 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Der Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu sanitären Einrichtungen erlebte einen Rückgang von 12 auf nur noch 5,2 Prozent. Die Zahl der Menschen, die in Slums leben, beträgt nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen. Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen stieg von 26 auf 47 Prozent an. Mohnfelder zur Gewinnung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar.

Zusammengefasst heißt das, dass sich die Situation trotz einiger Fortschritte letztlich nicht verbessert, sondern deutlich verschlechtert hat. Die Hauptrichtung war nie der zivile Aufbau; denn die USA setzen zehnmal so viel Geld für die Finanzierung des Krieges wie für die Entwicklungshilfe ein. Deutschland setzt viermal so viel Geld für den Krieg wie für die Entwicklungshilfe ein. Es gibt sechs afghanische Organisationen der Zivilgesellschaft, die von der Afghanistan-Konferenz in London wörtlich Folgendes fordern – ich darf zitieren, Herr Präsident –:

Die Entwicklung Afghanistans muss durch Afghanen erfolgen und rechenschaftspflichtig gegenüber den afghanischen Bürgerinnen und Bürgern sein. Die Entwicklungshilfe sollte nicht mit militärischen Zielen verbunden werden. Hilfe ist keine Waffe.

(Beifall bei der LINKEN)

Dieser Forderung schließt sich die Fraktion Die Linke in vollem Umfang an.

Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagen es nicht, aber viele vermuten, dass es Ihnen, viertens, auch um ökonomische Ziele geht. Es gab langjährige Verhandlungen der USA mit den Taliban über den Bau einer Erdgasleitung von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan. Mehr Unabhängigkeit von Russland war und ist ebenso das Ziel wie gigantische Profite. Während eines Krieges kann man keine Erdgasleitung bauen. Selbst solche Strategen brauchten irgendwann ein Ende des Krieges. Im Übrigen darf doch aber noch darauf hingewiesen werden, dass solche Motive für Kriege nicht nur höchst unmoralisch, sondern auch eindeutig völkerrechtswidrig sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Zusammenfassend gibt es also keinen anderen verantwortbaren Weg für Afghanistan und für Deutschland als den Weg des Abzugs der Bundeswehr, und zwar ohne Bedingungen, vollständig und sofort, das heißt noch in diesem Jahr, verbunden mit einer deutlichen Aufstockung der Mittel für den zivilen Aufbau.

(Beifall bei der LINKEN)

Nur wenn ein solcher ziviler Aufbau stattfindet, nur wenn die Menschen eine neue und höhere Lebensqualität erfahren, kann man sie so stark motivieren, dass sie diskriminierende, kulturell unerträgliche Herrschaftsstrukturen wie die der Taliban so sehr ablehnen, dass sie nicht, schon gar nicht dauerhaft, wieder installiert werden können.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt er wieder mit der Selbstbefreiung der unterdrückten Völker!)

Die Afghaninnen und Afghanen können sich nur selbst befreien. Dabei können wir helfen, aber wir können dies niemals militärisch erzwingen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bundesregierung geht weiterhin einen völlig falschen Weg. Die Aufstockung der Zahl der Soldaten, egal welche Motive Sie angeben, führt zu einer Verschärfung und nicht zu einer Verbesserung der Situation. Die SPD unterstützt das wie gewohnt und verkündet zusammen mit einigen aus der Regierung – andere in der Regierung sehen das offenbar anders – als neue Entscheidung, dass sie dann, wenn die USA mit einem Truppenabzug 2011 beginnen, ebenfalls damit beginnen wollen, wobei kein Termin für das Ende des Abzugs genannt wird. Die Logik, erst aufzustocken, um dann mit dem Abzug zu beginnen, ist zwar nicht nachvollziehbar; aber wenn das neu ist, dann heißt das, dass diese Vertreter der Regierung und der SPD bisher der Meinung waren, länger als die USA in Afghanistan zu bleiben. Das erscheint mir doch mehr als erstaunlich. Im Übrigen bleibt Folgendes unerklärbar: Wenn in neun Jahren die Ausbildung von Armee und Polizeinicht gelungen ist, sodass laut Hans-Ulrich Klose die alte Taliban-Herrschaft neun Wochen nach Abzug der Truppen der NATO wieder etabliert wäre, wie wollen Sie dann innerhalb eines Jahres das zustande bringen, was Ihnen in neun Jahren nicht gelungen ist?

(Beifall bei der LINKEN)

Daran können nicht einmal Sie selbst glauben.

Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben kein Konzept. Sie stocken die Zahl der Soldaten auf und wissen nicht, wie Sie die Situation endlich beherrschen können, wie die Soldaten aus Afghanistan herauskommen können. Ihnen fehlt der Mut, wie ihn Länder wie Kanada und die Niederlande gezeigt haben bzw. beginnen zu zeigen, den USA und anderen NATO-Partnern einfach und deutlich zu sagen: Wir ziehen die Bundeswehr ab; wir halten den Krieg für das falsche Mittel; wir wollen den Afghaninnen und Afghanen wirksam, das heißt zivil helfen. Wenn Sie diesen Mumm bewiesen, Frau Bundeskanzlerin Merkel, dann könnten Sie diesbezüglich positiv in die Geschichte eingehen. Wenn Sie den USA aber nur hinterherrennen, schaden Sie nicht nur Afghanistan, sondern auch unserem Land.

Die einzige Fraktion im Bundestag, die schon immer klar gegen diesen Krieg gesprochen hat und dabei bleiben wird, das ist die Fraktion Die Linke.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ceterum censeo!)

Darauf, Herr Gabriel, bin ich stolz.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich ein paar einleitende Worte zu dem Verfahren sagen, mit dem dieses Konzept dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist; ich glaube nämlich, dass es bemerkenswert ist. Oft klagen Parlamentarier, dass sie sich zu wenig eingebunden fühlen. Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußenminister, Herr Verteidigungsminister, man schaue sich die vergangenen Tage und Wochen an. Ich fand es gut, dass über dieses Konzept nicht öffentlich, in großen Talkshows oder Interviews, Auskunft gegeben worden ist, sondern genau an den Orten, an die der Fachdiskurs gehört, etwa in das Vorfeld der parlamentarischen Beratungen, zum Beispiel auf die Tagung der renommierten Körber-Stiftung vergangene Woche, Herr Bundesaußenminister. Richtig war auch, die Obleute, die Fraktionsvorsitzenden und die Ausschüsse zeitnah und nicht öffentlich zu informieren, sodass zuerst an diesen Orten darüber diskutiert wurde, wie wir mit Afghanistan weiter verfahren. Man muss wirklich sagen: An dieser Stelle ist das Parlament so eng wie selten eingebunden worden. Vor diesem Hintergrund danke ich der Regierung für diesen klaren und vernünftigen Kurs.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)

Im Übrigen möchte ich auf Folgendes verweisen: Vorschläge, die von allen Fraktionen, insbesondere von unseren Kollegen der SPD, von Herrn Erler und Herrn Mützenich, frühzeitig in den vergangenen Debatten hier geäußert worden sind, sind aufgenommen worden, zum Beispiel, dass wir vor der Afghanistan-Konferenz im Parlament über die Frage der Zukunft Afghanistans diskutieren. Allein das ist richtig. Wir werden in zwei Wochen, wenn die Afghanistan-Konferenz vorbei ist, im Parlament über die Ergebnisse dieser Konferenz in London diskutieren. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Vorschläge der Opposition und des Parlaments insgesamt sehr ernst genommen werden.

(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist eine Selbstverständlichkeit!)

Dieser Hinweis ist erlaubt: Wir wünschen uns, dass die Regierung mit dem Parlament auch bei anderen Themen so umgeht. Dieses Musterbeispiel sollte zu einer Selbstverständlichkeit für den Umgang zwischen Parlament und Regierung werden.

Es ist vorhin die Frage gestellt worden, warum wir in Afghanistan sind. Ich habe, Herr Kollege Gysi, allerdings nicht ganz verstanden, warum Sie uns hierfür ökonomische Motive unterstellen wollen. Ich habe es wirklich nicht verstanden.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das glaube ich gerne, dass Sie das nicht verstanden haben!)

Es ist aber festzuhalten, dass die Bundeskanzlerin und auch wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer deutlich gemacht haben, warum wir da sind. Es ist kein Selbstzweck, in Afghanistan zu sein, sondern es liegt in unserem ureigensten Interesse, unsere Interessen, die Interessen Deutschlands und die Interessen der Menschen in Deutschland, auch in Afghanistan zu verteidigen. Wir machen es uns nicht einfach und kommen nicht mit starken Sprüchen daher.

An die Adresse der SPD gerichtet möchte ich dagegen sagen: Die von Ihnen für Ihre Afghanistan-Strategie in den letzten Jahren gelieferten Begründungen beruhten immer auf sehr starken Worten. Zunächst einmal sprachen Sie von der „uneingeschränkten Solidarität“, was auch immer das bedeuten sollte,

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem haben Sie doch zugestimmt!)

und brachten es dann auf die einfache Formel: Deutschland werde am Hindukusch verteidigt. Davon wollen Sie heute offenbar nichts mehr hören. Vor diesem Hintergrund haben wir ganz bewusst einen anderen Weg gewählt und gemeinsam mit der Regierung ein geschlossenes Konzept entwickelt und eine große Konzeption auf den Weg gebracht, mit der wir einerseits deutlich machen, dass unsere Interessen gewahrt werden sollen, aber andererseits auch die Zukunft Afghanistans in den Mittelpunkt stellen.

Warum sind wir in Afghanistan? Wir sind da, um zu verhindern, dass Afghanistan dauerhaft zu einem der großen Umschlagplätze für den internationalen Terrorismus wird. Alle Gesprächspartner, die wir in den vergangenen Tagen aus Afghanistan hier hatten, haben uns bestätigt, dass die Fäden nahezu aller relevanten internationalen fundamentalistischen Terrororganisationen teilweise in Afghanistan selbst oder in unmittelbarer Nachbarschaft in Pakistan zusammenlaufen. Allein schon, dass wir verhindern wollen, dass Afghanistan dauerhaft als Terrorbasis bzw. Umschlagplatz des Terrors etabliert wird, rechtfertigt unser Engagement.

Ich glaube aber, dass es viel wichtiger ist, dass wir den Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans, den wir in den vergangenen Jahren schon geleistet haben, weiterhin leisten.

(Zuruf von der LINKEN)

Seit 2002 ist unser Engagement immer mit Schwierigkeiten verbunden gewesen, aber trotzdem sehr ausgewogen gewesen. Eine unserer Befürchtungen ist zwar, dass die Lücke zwischen militärischem und zivilem Engagement an manchen Stellen zu groß geworden ist, aber diese Lücke wird – das vollziehen wir mit dem vorliegenden Konzept – jetzt geschlossen. Indem wir das zivile Engagement massiv erhöhen, machen wir deutlich, welche strategische Ausrichtung wir in den nächsten Jahren verfolgen wollen.

Wenn gesagt wird, in Afghanistan laufe alles schlecht, halte ich dagegen und sage: Das stimmt nicht. Wir haben heute, wie gesagt, im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages die Gelegenheit gehabt, mit Präsident Karzai darüber zu diskutieren. Die SPD hat auf ihrer Fachtagung am vergangenen Freitag die Gelegenheit genutzt, mit dem früheren Außenminister und jetzigen Sicherheitsberater Spanta intensiver darüber zu diskutieren. Dabei wurde uns doch gerade bestätigt, dass das Engagement erfolgreich war.

Schauen Sie sich allein einmal an, wie massiv sich das Rollenverständnis der Frauen innerhalb Afghanistans trotz der schwierigen gesellschaftlichen Situation verbessert hat. Das ist aus meiner Sicht beachtlich und sollte nicht unerwähnt bleiben. Vor dem Hintergrund, dass zu Zeiten der Taliban-Herrschaft keine Frau eine Universität und kein Mädchen eine Schule betreten durfte, halte ich es nach wie vor für erwähnens- und lobenswert, festzustellen, dass die Situation heute ganz anders ist.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dazu braucht man Militär?)

Ein großer Erfolg ist auch, dass im Auswärtigen Dienst der afghanischen Regierung der Frauenanteil heute 18 Prozent beträgt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Und wenn Sie in Berlin einen Ansprechpartner der afghanischen Regierung telefonisch sprechen wollen, dann rufen Sie nicht irgendjemanden an, sondern Sie rufen eine Frau an, nämlich die Geschäftsträgerin. Auch das halte ich für bemerkenswert. Was, glauben Sie – Herr Kollege Klose hat das an anderer Stelle ja schon oft gesagt –, würde als Allererstes zurückgedrängt, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft dort nicht mehr engagieren würde? Das Hauptziel der Taliban wäre doch – da bin ich mir sicher – in erster Linie, die Rolle der Frauen wieder zurückzudrängen und die Erfolge, die auf diesem Gebiet erreicht worden sind, zunichte zu machen.

Wir haben die Situation – die Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme deutlich darauf hin –, dass 11 000 Unterrichtsräume für 500 000 Schülerinnen und 25 000 Lehrer unter deutscher Führung entstanden. Heute gehen rund 7 Millionen Kinder zur Schule; davon sind 35 Pro-zent Mädchen. Das ist ein großer Erfolg; auch solche Erfolge sind in Afghanistan zu verzeichnen. 600 Kilometer Straße sind gebaut worden. 250 000 Haushalte in Nord-afghanistan sind an Bewässerungsanlagen angeschlossen. Auch der Optimismus, den die Afghanen in ihrer Gesellschaft selber spüren, sollte erwähnt werden. Eine Umfrage von ARD, BBC und dem amerikanischen Sender ABC macht deutlich, dass 70 Prozent der Afghanen optimistisch in die Zukunft blicken.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Allein deshalb sollten wir diese Debatte mit einer großen Ernsthaftigkeit führen. Denn ich bin mir sicher, dass viele Menschen in Afghanistan diese Debatte und die strategische Diskussion in Deutschland genau verfolgen. Die Hoffnung, die viele Menschen in Afghanistan in uns setzen, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Unsere Ziele sind klar umrissen: Wir wollen den Terror vor Ort bekämpfen, eine Stabilisierung der Region insgesamt erreichen, einen Beitrag zur Stabilisierung Pakistans, einer schwierigen Atommacht, leisten, die Menschen- und Frauenrechte dauerhaft durchsetzen, ein funktionierendes Rechtssystem etablieren und die wirtschaftliche Prosperität unterstützen, sodass Afghanistan auf Dauer auf eigenen Beinen stehen kann.

Ich glaube, dass wir einen ausgewogenen Beitrag leisten. Deshalb will meine Fraktion den Vorschlägen der Regierung zustimmen. Ich halte diesen Beitrag deshalb für ausgewogen, weil er alle Ansätze – das zivile Engagement, das militärische Engagement, das polizeiliche Engagement – umfasst und damit eine dauerhafte Perspektive unseres Engagements gewährleistet.

Wir haben eine Abzugsperspektive genannt. Insofern möchte ich meinen Vorredner ein Stück weit korrigieren: Niemand von uns hat jemals gesagt, dass es in unserem Interesse liegt, ewig in Afghanistan zu bleiben. Aber Sie haben auch in früheren Zeiten gesagt, dass es absolut falsch wäre, Afghanistan kopflos zu verlassen. Angesichts der Chuzpe, mit der die Taliban selber über unsere Debatte urteilen, erinnere ich Sie gerne an Ihre eigenen früheren Äußerungen. In vielen Medien und in vielen Gesprächen wird der Ausspruch eines Taliban-Führers zitiert, der zu US-Diplomaten lächelnd gesagt haben soll: Ihr habt alle Uhren, wir haben alle Zeit.

Wenn Sie jetzt ein konkretes Datum für den endgültigen Abzug nennen, dann wiegen Sie die Taliban noch mehr in Sicherheit. Sie werden sich kurzfristig zurückziehen; aber die Gefahr ist sehr groß, dass sie nach kurzem Abwarten gestärkt wieder hervorkommen und damit unser entwicklungspolitisches Engagement zunichtemachen werden.

Deshalb gibt es mit uns keinen kopflosen Abzug aus Afghanistan. Vielmehr wollen wir unser Engagement mit einer realistischen Abzugsperspektive verbinden. Dafür haben wir klare Konditionen genannt.

< (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ändert an den Problemen gar nichts!)

Meine Damen und Herren, mein Dank in dieser Debatte – das möchte ich deutlich erwähnen – gilt nicht nur unseren Soldatinnen und Soldaten und deren Angehörigen, sondern auch den Diplomatinnen und Diplomaten, die vor Ort für die Bundesrepublik und in unserem Interesse im Einsatz sind, den Entwicklungshelfern, den Polizisten und letztendlich auch – ich glaube, dass ein großer Teil von Ihnen diese Debatte gespannt verfolgt – den Angehörigen der Personen, die sich in Afghanistan engagieren und die zu Recht einfordern, dass wir uns ernsthaft mit der Perspektive des Abzugs und eines erfolgreichen Einsatzes, für den unsere Menschen dort vor Ort einstehen, beschäftigen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat nun die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ganz fokussiert auf das Thema, um das es eigentlich geht, nämlich die Londoner Konferenz und eine neue Strategie für Afghanistan, konzentrieren.

Die Situation ist schwierig. Wir haben darüber gestern eine erste lange und sehr ruhige und sachliche Diskussion in unserer Fraktion geführt. Ich glaube, man kann unser mehrheitliches Gefühl angesichts der internationalen, auch deutschen Diskussion durchaus mit den Worten beschreiben: Jetzt ist Licht, allerdings in viel Schatten.

Ich will nicht negieren, Frau Bundeskanzlerin, dass es hier positive Elemente gibt. Trotzdem muss ich sagen, dass Ihre Rede eben hinreichend unbestimmt war.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben viele Fakten und Zahlen genannt, haben aber nicht die Frage beantwortet, wie Sie die Vergangenheit beurteilen. Auch dazu haben Sie zwar Zahlen – hier Prozentzahlen, da Prozentzahlen – genannt. Von Herrn Gysi bin ich das gewöhnt; er liest hier halbjährlich den gleichen Text vor. Immer wieder Zahlen! Es geht aber um folgende Fragen: Haben wir das Gefühl, grundsätzlich die richtige Strategie gewählt zu haben? Auf welcher Basis und mit welcher Philosophie soll es in Zukunft weitergehen? Eine Antwort darauf hat gefehlt. Ich habe von Ihnen bezüglich des bisherigen Einsatzes positive Worte gehört. Im Ticker wurde Herr Westerwelle dahin gehend zitiert, dass alles gescheitert sei.

(Zuruf des Bundesministers Dr. Guido Westerwelle)

– Dann machen Sie eine Gegendarstellung. – Ich sage Ihnen: An dieser Stelle gibt es unterschiedliche öffentliche Positionierungen.

Im Vorfeld der Londoner Konferenz wollen wir nicht einfach trockene Zahlen hören, sondern wissen: Wie sind die Zielmarken, in Neudeutsch: die Benchmarks? Bis wann soll wer was erfüllt haben? Egal ob es uns, andere Staaten oder die Regierung des Präsidenten Karzai betrifft. Eine Lehre aus der Vergangenheit ist für uns, dass darauf eine Antwort gefunden werden muss. Nur wenn diese Fragen beantwortet werden, wird das Ziel von Karzai, 2014 selbstständig für Sicherheit zu sorgen, überhaupt erreicht werden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir hätten eigentlich auch erwartet, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie etwas zur Evaluierung der bisherigen Einsätze sagen. Sie sagen so schön: 30 Polizisten haben wir ausgebildet.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: 30 000!)

– Was habe ich gesagt?

(Zurufe von der CDU/CSU: 30!)

– Entschuldigung. 30 000 stimmt. – Aber die Frage ist doch: Sind diese Polizisten jetzt effizient eingesetzt? Ist die Struktur zum Beispiel gegen Korruption ausgerichtet und verhindert sie, dass ein Großteil dieser Leute zu den Taliban überläuft, nachdem die westliche Staatengemeinschaft sie ausgebildet hat? Eine Evaluierung im Hinblick auf diese Fragen würde mich interessieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich hätte in all diesen Debatten über die Zukunft gerne auch gehört, ob es nicht nur heute, sondern grundsätzlich eine andere Vorgehensweise im Umgang mit dem Bundestag gibt, was die Zielstellung der Afghanistan-Politik und die Vorlage regelmäßiger Zwischenberichte angeht.

Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute über eine neue Strategie und deren Umsetzung, die der afghanische Präsident Karzai in seiner Antrittsrede im November mit der Zielstellung 2014 angekündigt hat. Das ist eine Strategie der nationalen Versöhnung. Jetzt geht es darum, dass die internationale Staatengemeinschaft sagt: Wir unterstützen dies und leisten unseren Beitrag dazu.

Es gibt aber Grundsatzfragen, die Sie nicht einmal angetippt haben, Frau Merkel. Sie sprachen über das Reintegrationsprogramm, das ein Kern des Programms der nationalen Versöhnung von Karzai ist. An dieser Stelle muss man aber die Frage stellen – eine Antwort darauf muss gefunden werden –: Wo sind die roten Linien, die Karzai hier und da andeutet und die da heißen: Verhinderung von Gewaltbereitschaft, Entwaffnung und das Ziel, dass man sich auf dem Boden der afghanischen Verfassung befinden und sich an die universellen Menschenrechte halten muss? Das allein sind aber nur warme Worte. Wir müssen auch sicherstellen, dass dies umgesetzt wird, und von Karzai die Formulierung von Kriterien verlangen.

Mir reicht nicht aus, dass einfach gesagt wird, wir könnten Hunderttausende unideologische junge afghanische Männer mit dem Angebot von Geld und Land, also mit wirtschaftlichen Perspektiven, aus Pakistan zurückholen. Man muss klar hinzufügen, was mit den anderen geschieht. Denn für die einen ist dies ein Finanzierungsprogramm. Zur nationalen Versöhnung gehört aber auch, mit den ehemals Gewaltbereiten zu reden, sie zurückzuholen und ihnen Asyl zu gewähren. Wo genau ist eigentlich die rote Linie, um zu verhindern, dass aus den investierten 500 Millionen Euro nur ein Rückführungsprogramm oder sogar ein Rückkaufprogramm wird, dessen negative Wirkungen man überhaupt nicht absehen kann? Dazu haben Sie geschwiegen, Frau Merkel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie soll das denn gehen und wie wäre das Verfahren, wenn es solche Rückkehrprogramme gäbe und man einzelnen Provinzen mehr Selbstständigkeit zugestehen würde? Wie soll denn dann das Spannungsverhältnis, das zwischen der Geltung der universellen Menschenrechte und der in der afghanischen Verfassung postulierten Scharia herrscht, in der Realität umgesetzt werden? Das alles sind Fragen, die sich an dieser Stelle ergeben.

Ich hatte die Freude, gestern Herrn Karzai zu treffen und von Ihnen gestern früh informiert zu werden. Weil das alles hinreichend unbestimmt ist, stelle ich mir die Frage: Wie soll Korruption in Zukunft bekämpft werden? Die Aussage, Afghanistan brauche ein Backing der Staatengemeinschaft und davon ziemlich viel, reicht mir auch nicht aus. Wir wollen von der afghanischen Regierung wissen, wie sie das Geld tatsächlich in den Aufbau des Landes investiert, wie das strukturell funktionieren soll.

Es macht Sinn, Karzai mit seiner Regierungserklärung und der Art seines Versprechens an sein Volk zu unterstützen. Er will fünf Bereiche weiterentwickeln und verspricht, die Bemühungen so zu organisieren, dass man Ende 2014 fertig sei. Wir können das unterstützen. Aber mir ist es egal, ob die einen sagen, wir unterstützen das, und die anderen sagen, wir brauchen ein Abzugsdatum. Zwischen dem 31. Dezember 2014 und dem 1. Januar 2015 liegt nur eine juristische Sekunde. Insofern: Regen Sie sich untereinander doch nicht darüber auf! Machen wir uns lieber Gedanken darüber, wie wir Afghanistan konkret unterstützen können.

Ich will zu drei Punkten etwas sagen, zu dem, was die neue Strategie ausmachen soll:

Für den zivilen Wiederaufbau sind Mittel von 210 Millionen Euro vorgesehen. Das macht Hoffnung. Das ist ein Wort, aber mehr auch nicht. Noch bin ich zurückhaltend, weil schon oft versprochen wurde, man wolle Gelder anders implementieren, aber es nie gemacht wurde. Ich sage Ihnen – auch nach der letzten Legislaturperiode – ehrlich: Wir wollen sehen, dass gezielt in die Entwicklung der ländlichen Räume Geld investiert wird, dass es aufgelegt wird und dort auch ankommt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD])

Ich hoffe, dass wir nach dem Rückzug vieler Organisationen nicht zu spät sind.

Wir begrüßen es, dass die Kanzlerin in der Art von Abkehr und Distanzierung zum Angriff im Kunduz sagt: weg vom offensiven Vorgehen, hin zu einer Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz. Dieser Satz war längst überfällig. Das falsche Verhalten in der Vergangenheit hat uns einen Untersuchungsausschuss beschert, der nicht überflüssig ist. Ich hoffe, Frau Merkel, Sie machen gegenüber dem Kommandeur McChrystal endlich deutlich, dass Sie das verstanden haben; intern sagen Sie das ja auch. Wenn Sie verstanden haben, dass es um Ausbildung und Schutz gehen soll, dann muss es jetzt an der Zeit sein, sich ehrlich zu machen. Man muss sich sehr genau überlegen: Wofür haben wir bisher Geld ausgegeben? War es effizient? Haben wir unsere Versprechungen eingehalten?

Zum Thema Polizei. Sie haben immer versprochen, einen Schwerpunkt bei der zivilen Aufbauoffensive, auch beim Polizeiaufbau, zu setzen. Wo ist der? Sie haben schon einmal 120 Polizeikräfte für EUPOL und 60 Polizeikräfte für bilaterale Polizeiarbeit versprochen. Derzeit sind allerdings gerade mal 123 Polizeikräfte im Einsatz. Die Ankündigung, auf 200 Polizeikräfte aufzustocken, gab es längst. Sie kündigen als Schwerpunkt der Aufbauoffensive etwas an, wo wir doch in der Vergangenheit schon immer darauf gewartet haben, dass die alte Ankündigung realisiert wird. Das ist keine Polizeiaufbauoffensive.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden sehr genau beobachten, wie Sie diese Offensive angehen wollen, wie Sie das, bis hin zum Partnering, beim Aufbau in den Distrikten gewährleisten wollen. Unsere Forderung war bisher, 500 Ausbilder bei der Polizei einzusetzen. Zum Thema Bundeswehr. Ich glaube, das ist eine Mogelpackung. Es gab eine Art Stammeskonflikt zwischen den Regierungsministern. Es ging um die Frage, wie stark die Bundeswehrkapazität ausgebaut werden soll. Nun passiert Folgendes: Zusätzlich zu den 280 Aus-bildern, die es schon gab, hat man nach effizienten Kontrollen und langem Suchen intern 620 gefunden. Nun will man noch 500 Soldaten zusätzlich. Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden auch in der Ausschussarbeit sehr genau beobachten, wo überflüssige und falsche Einsätze stattfinden. Der Tornadoeinsatz mit bis zu 100 Soldaten macht militärisch keinen Sinn. Auch hier gäbe es Umbaumöglichkeiten, Frau Merkel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine letzte Anmerkung zur Bundeswehr: Ein Plus von 350 „flexiblen“ Soldaten kann ich nicht akzeptieren. Wir haben in unserem bisherigen Kontingent von 4 500 Soldaten längst Flexibilität drin. Frau Merkel, wir können nicht akzeptieren – ich habe eine, zwei Nächte darüber geschlafen und mit vielen geredet –, dass wir hier einfach für diese oder jene Aufgabe, für die Wahlen, für Übergänge und das Auswechseln von Truppen, sicherheitshalber die Zahl 350 verabschieden. Wenn davon, wie Sie hier gerade sagten, zum Beispiel bei den Wahlen einige eingesetzt werden sollen, soll sich der Verteidigungsausschuss zuvor damit befassen. Ich sage Ihnen ganz klar: Wir wollen keine Zum-Beispiel-Einsätze der Bundeswehr. Die Entscheidung ist immer konkret im Plenum zu treffen. Deshalb werden wir uns jeden einzelnen Antrag von Ihnen sehr kritisch und genau ansehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Fazit: Es gibt zwar Licht bei viel Schatten, aber jetzt gilt es, die Londoner Ergebnisse abzuwarten. Wir wollen konkrete Schritte und Transparenz für die Zukunft. Wir wollen wissen, wie eine Politik der Versöhnung in etwa funktionieren kann, ohne dass es zum Beispiel bei der Umsetzung der Menschenrechte zu massiven Brüchen und Rissen kommt. Jetzt muss es um einen wirklichen Vorrang des Zivilen gehen, um einen wirklichen Vorrang von Ausbildung und Schutz unter Wahrung der Menschenrechte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Elke Hoff (FDP):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich meinen persönlichen Respekt für Ihre Regierungserklärung zollen, weil Sie sehr deutlich gemacht haben, wie die Eckpunkte der neuen Strategie dieser Bundesregierung im Vorfeld der Londoner Konferenz aussehen. Ich glaube, dass jeder, der richtig zugehört hat, genau erkennen konnte, mit welchen neuen Ausrichtungen diese Bundesregierung nach London fährt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich habe auch mit sehr großer Aufmerksamkeit den Worten der Kollegen Gabriel und Gysi zugehört. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle empfehlen: Fahren Sie doch gemeinsam mit Frau Käßmann nach Afghanistan. Schauen Sie sich die Situation vor Ort an.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und wenn die Reise abgelehnt wird?)

– Fahren Sie noch einmal hin und schauen Sie sich die Situation noch einmal an. Dann würden Sie, glaube ich, über die Problematik, die dort vor Ort herrscht, wesentlich konkreter und wesentlich realistischer reden können, als Sie das heute hier getan haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Realismus im Bundeswehrcamp? Na super!)

Ich hatte heute den Eindruck, dass, mit Ausnahme einer Fraktion, in diesem Haus bezüglich der strategischen Ausrichtung der Bundesregierung für die Londoner Afghanistan-Konferenz an vielen Stellen eine Übereinstimmung zum Vorschein kommt, wenn sich der parteipolitische Pulverdampf verzieht. Wir haben zum ersten Mal deutlich gemacht, dass der Primat der Politik in diesem Einsatz wieder die Oberhand gewinnt. Ich halte das für sehr wichtig. Wir haben viele Forderungen, die in den vergangenen Jahren im Parlament stets wiederholt worden sind – mehr Aufbau von Polizei, mehr zivile Unterstützung, mehr Übergabe von Verantwortung an die afghanische Regierung, mehr Schutz der Bevölkerung –, in diese Strategie implementiert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich hatte heute an vielen Stellen der Diskussion den Eindruck, dass wir mit rückwärtsgerichteten Termini arbeiten. Der Punkt, an dem wir heute sind, bedeutet für mich einen Aufbruch. Wir zeigen eine Perspektive für Afghanistan, aber auch eine Perspektive für die internationale Gemeinschaft auf. Man sollte hier nicht den Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung die Probleme in Afghanistan alleine lösen kann. Es war eine internationale Kraftanstrengung. Es ist eine internationale Kraftanstrengung. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir in London noch einmal allen Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten deutlich machen, dass das auch weiterhin eine internationale Kraftanstrengung ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Gysi, Sie haben heute hier Zahlen vorgetragen, um zu unterlegen, dass sich die Situation in Afghanistan nicht signifikant verbessert hat.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aus dem UN-Bericht!)

Sie haben dabei aber eines außer Acht gelassen: Die Rückführung von Millionen von Flüchtlingen aus den benachbarten Ländern Pakistan und Iran ist eine große Belastung, die dieses Land zusätzlich zu den Folgen des Bürgerkrieges zu tragen hat, bzw. es ist eine unmittelbare Folge aus dem Bürgerkrieg. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf diese Strukturen aus. Man sollte nicht so tun, als sei die Präsenz der internationalen Gemeinschaft in den letzten Jahren vollkommen umsonst gewesen.

Dies ist eine komplexe und komplizierte Region. Ich bin dankbar, dass heute auch das Thema Pakistan angesprochen worden ist. Es wird viel zu wenig zur Kenntnis genommen, dass Pakistans Regierung unter anderem mit militärischen Anstrengungen ebenfalls versucht, Stabilität in der Region herbeizuführen. An dieser Stelle sind sehr viele Todesopfer zu beklagen, auch unter den Soldaten und den Polizisten. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ein sehr herzliches Dankeschön an die pakistanischen Entscheidungsträger zu richten; denn letztendlich profitieren auch wir bei unserem Einsatz und Engagement in Afghanistan davon.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben heute die Frage gehört: Warum ist erst eine Truppenaufstockung notwendig, um die Zahl dann zurückzuführen? Wenn ich dieser neuen Strategie den Schutz der Zivilbevölkerung und die Übergabe in Verantwortung als wesentliche Punkte zugrunde lege, bedeutet das, dass ich in den bevölkerungsstarken Regionen Sicherheit herstellen und gleichzeitig die afghanische Armee ausbilden muss, um diese in die Lage zu versetzen, die Aufgaben der Sicherheitskräfte eines souveränen Landes zu erfüllen. Insofern ist das vollkommen logisch; das ist überhaupt nicht unlogisch. Das sieht man, wenn man sich einmal etwas intensiver mit den Einzelheiten dieser strategischen Überlegungen befasst.

Ich möchte hier weiterhin zum Ausdruck bringen, dass ich das notwendige Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Bundeswehr in dem Bereich habe. Wir werden in Zukunft eine große Verantwortung bei der Führung des Regionalkommandos Nord haben. Ich wünsche mir, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, dass Sie, um die Ziele zu erreichen – Stärkung des zivilen Wiederaufbaus, mehr Übergabe in Eigenverantwortung, Schutz der Zivilbevölkerung –, den Einsatz unserer Bundeswehrsoldaten auf der Basis dieses neuen Mandates mittragen. Ich wiederhole das an dieser Stelle und danke all den besonnenen Kolleginnen und Kollegen in den anderen Fraktionen dafür, dass sie diesen Weg mitgehen wollen.

Ich bin der Meinung, dass die zeitlichen Ziele, über die wir heute gesprochen haben, durchaus zu erreichen sind. Aber wenn wir unsere eigene Strategie nicht unterstützen, wenn wir nicht an sie glauben und wenn wir schon von vornherein unseren zivilen Aufbauhelfern, den Diplomaten und den Soldaten dem Grunde nach sagen, dass wir nicht so ganz dahinterstehen oder nicht so ganz davon überzeugt sind, dann frage ich mich, wo die Menschen, die das vor Ort umsetzen sollen, die Motivation hernehmen sollen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich glaube, dass in Zukunft ein wesentlicher Punkt der diplomatischen und politischen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft sein wird, die afghanische Regierung dabei zu unterstützen, als souveräner Staat die Versöhnung, die ihre Aufgabe in ihrem Land ist, zu erreichen. Das wird schwierig werden. Das wird viel Geduld bedürfen. Wir werden hier sicherlich viele – ich sage es einmal salopp – Kröten zu schlucken haben. Aber am Ende jeder militärischen Mission muss es eine politische Lösung geben. Wir sind zum ersten Mal gemeinsam in einer so realistischen Bewertung der Lage angekommen, dass ich der Überzeugung bin, dass wir hier mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung in den nächsten vier bis fünf Jahren zu wesentlich besseren Ergebnissen kommen werden als in den vergangenen acht Jahren.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Ernst-Reinhard Beck.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Gabriel, vorneweg möchte ich sagen: Ich glaube, es ist nicht ganz seriös, das, was man selbst acht Jahre lang nicht geschafft hat, was einem acht Jahre lang nicht gelungen ist, den Nachfolgern in dieser Form anzuhängen.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Das machen wir gar nicht!)

Schlicht und ergreifend bis vor vier Monaten hat Ihr Außenminister hier Verantwortung getragen. Diese rückwärtsgewandte Geschichte ist schwer erträglich.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Ich habe Ihnen keinen Vorwurf gemacht!)

Wenn Sie etwas zum Konzept gesagt hätten, wäre das etwas anderes. Aber Sie haben damit im Grunde Ihre eigene Regierungszeit mit schlechten Noten versehen.

(Sigmar Gabriel [SPD]: Was habe ich Ihnen vorgeworfen?)

Das will ich am Anfang sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Natürlich, der Afghanistan-Einsatz dauert länger, ist schwieriger und auch teurer, als wir es uns am Anfang vorgestellt haben; das ist richtig. Aber, Frau Kollegin Künast, die Frau Bundeskanzlerin hat sich hier sehr klar geäußert und über ein Fünfpunkteprogramm unter der Überschrift „Übergabe in Verantwortung“ gesprochen. Ich glaube, das ist in der Tat ein Programm, das dem Konzept der vernetzten Sicherheit wirklich Rechnung trägt, eine Strategie, die auch nach vorne gerichtet ist.

Sie sprachen den Dreiklang von Ausbildung, Schutz und Präsenz in der Fläche an. Dieser Dreiklang wird den Herausforderungen in einer angepassten Sicherheitslage gerecht. Die Erhöhung der Zahl der Militärausbildervon derzeit 280 auf circa 1 400 wird dazu führen, dass wir die Zielgröße der afghanischen Armee schneller erreichen.

Frau Künast, das ist keine Mogelpackung. Im Rahmen der Verstärkung der Ausbildung stocken wir die Zahl von derzeit 500 auf. Das spielt auch mit Blick auf die Führungsfähigkeit eine Rolle, nämlich dann, wenn 2 500 amerikanische Soldaten in den Norden entsandt werden. Sie stoßen sich oft an der Zahl 350.

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur an den 350!)

Ich gehe davon aus, dass die Zahl 350 an die Obergrenze angepasst wird. Das würde dann einem Plus von 850 entsprechen.

(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sagen Sie es doch!)

– Herr Kollege Nouripour, das ist auch im Verteidigungsausschuss zu klären. Bisher war ein solcher Schritt angesichts der Obergrenze überhaupt nicht notwendig. Ich kann nicht verstehen, warum das ein Weniger sein soll. Ich glaube, das, was die Bundesregierung an dieser Stelle vorschlägt, ist ein Mehr an parlamentarischer Mitbestimmung. Das muss ich in aller Klarheit sagen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Verbesserung des Schutzes der afghanischen Bevölkerung wird die Rahmenbedingungen des zivilen Aufbaus optimieren. Schließlich soll die Präsenz in der Fläche den Kontakt zur Bevölkerung verbessern. Ich sage ganz klar: Präsenz in der Fläche kann im Grunde nur heißen, in ausgewählten kritischen Distrikten gemeinsam mit den afghanischen Soldaten, die wir selber ausbilden, den Schutz der Bevölkerung mit der Ausbildung der Soldaten zu verbinden. Das ist das neue und richtige Konzept. Ich glaube, diese Dreisäulenlösung wird für die Zukunft tragfähig sein. Jedes Element für sich genommen hatte bereits in der Vergangenheit seinen Platz, wenn es um Aufbau und Sicherheit ging.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich betonen: Dass der neue Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung keinerlei Berührungsängste mit der Bundeswehr hat, lässt mich auch hoffen,

(Beifall bei der FDP – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

dass wir unsere Anstrengungen beim zivilen Aufbau verstärken und den Menschen dort, wo wir Verantwortung tragen, wo auch unsere Soldaten sind, nicht nur das Gefühl vermitteln, dass es besser wird, dass sie jetzt besser leben, dass das, was wir wollen, auch bei den Menschen ankommt, sondern dass wir auch Tatsachen schaffen. Ich meine, dass es durchaus richtig ist, den Schwerpunkt in der Region des Nordens zu setzen.

Die afghanische Armee auszubilden, ist richtig. Dabei helfen in unserem Verantwortungsbereich auch 2 000 amerikanische Soldaten, die schwerpunktmäßig ausbilden und dem deutschen Kommando unterstellt sind. Zeitgleich wird die Anwesenheit der Amerikaner dazu beitragen, eine Fähigkeitslücke im Norden zu schließen, nämlich bei der Luftbeweglichkeit im deutschen Verantwortungsbereich. Dadurch, dass die Amerikaner jetzt 50 Hubschrauber bei uns stationieren, wird auch die Fähigkeit verbessert, im Bereich der medizinischen Versorgung, etwa bei MEDEVAC, eine Lücke zu schließen. Transport und Beweglichkeit werden wesentlich verbessert.

Eine Bemerkung zur Polizeiausbildung. Frau Künast, Sie haben völlig recht, wenn Sie monieren, dass manches, was wir uns vorgenommen haben, noch nicht erreicht ist. Es ist auch richtig, dass wir Zwischenziele formulieren. Wir müssen uns immer wieder fragen: Wie weit sind wir noch von ihnen entfernt? Dennoch ist klar, dass die Polizeiausbildung jetzt mit verstärkten Anstrengungen angegangen wird; das liegt in deutscher Verantwortung. Ich glaube, dass durch eine solidarische Anstrengung der 16 Bundesländer, die dafür verantwortlich sind – das geschieht ja nicht par ordre de mufti vonseiten der Bundesregierung –, eine entscheidende Verbesserung erzielt wird.

Im Übrigen rege ich an, auch die Konzeption von EUPOL zu überdenken. EUPOL berät nur afghanische Ministerien und afghanische Behörden. Wäre nicht ein Teil dieser 200 Polizisten, die von europäischen Ländern gestellt werden, besser aufgehoben, indem sie zur Verstärkung der Ausbildung vor Ort eingesetzt werden?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Dass für die Reintegration von Taliban viel Geld fließt, hat viele Vorwürfe nach sich gezogen. Ich rege an, zu überlegen, die afghanischen Soldaten und Polizisten, die von uns ausgebildet werden, zumindest für eine bestimmte Zeit besser zu bezahlen. Sozial abgesicherte Sicherheitskräfte sind weniger anfällig für Geldzuwendungen von anderer Seite. Auch hier wäre das Geld gut investiert, wenn man wirklich Versöhnung herbeiführen will.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Die massive Aufstockung der Zahl der Ausbildungskräfte, die Verdopplung der Mittel für den zivilen Aufbau, die Umkehr in Richtung einer etwas defensiveren Strategie, das sollte der Opposition erlauben, dem veränderten Mandat für den Afghanistan-Einsatz auch in Zukunft zuzustimmen.

Ich habe Signale erkannt, dass sich die Grünen ihrer Verantwortung für diesen Einsatz, den sie einmal mitgetragen haben, weiter bewusst sind. Auch wenn mir Frau Künast jetzt nicht zuhört, werbe ich bei der Opposition um Zustimmung; ich sehe nämlich, dass durchaus Bereitschaft da ist. Man sollte diesem Konzept die Zustimmung nicht versagen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Unsere Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr benötigen die Rückendeckung des gesamten Parlaments. Im Namen des Parlaments sind sie in den Einsatz geschickt worden. Je größer die Unterstützung in diesem Parlament ist, desto besser. Das ist wichtig.

Ich komme zu einem weiteren Punkt. Ich glaube, dass wir auch bei dem neuen Mandat die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Bundeswehr neu definieren müssen. Herr Gabriel, ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren, ob der Begriff „Krieg“ angemessen ist; es wäre natürlich interessant, einmal seriös darüber zu diskutieren. Aber wenn wir uns einig sind, dass wir in Afghanistan einen nicht internationalen militärischen Konflikt haben, dann muss, meine ich, das humanitäre Völkerrecht und nicht die deutsche Strafprozessordnung zur rechtlichen Grundlage für den Einsatz unserer Soldaten werden. Diese Rechtssicherheit sind wir unseren Soldaten schuldig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Ich erinnere daran, und ich bitte darum, dass wir die im Koalitionsvertrag festgelegte Forderung nach der Einrichtung einer zentralen Staatsanwaltschaft zügig in Angriff nehmen. Wir dürfen die Angehörigen der Bundeswehr, die im Einsatz ohnehin erheblichen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sind, nicht mit zusätzlichen Bürden belasten.

Mit der neuen Strategie gewinnen wir Initiative und Gestaltungskraft zurück. Sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Erfolg. Als souveräner Staat in einem sicheren Umfeld leben zu können, ist nicht selbstverständlich; gerade wir Deutschen haben dies erfahren. Heute ist es an uns, Afghanistan diese Möglichkeit zu eröffnen. Dem dient dieser Vorschlag, dem dient dieses Konzept.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, weil er heute das erste Mal in seiner neuen Funktion der Diskussion in diesem Hohen Hause beiwohnt, den neuen Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wieker, herzlich willkommen zu heißen und ihm für die schwierigen Aufgaben, die er vor sich hat, viel Erfolg und viel Glück zu wünschen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Ich hatte in der Vergangenheit, vor allem in den letzten Wochen, die Möglichkeit, mit vielen Soldatinnen und Soldaten zu sprechen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Afghanistan, auch in Kunduz. Wenn man sie fragt: „Was wünscht ihr euch von der Politik?“, ist die Antwort: Wir wünschen uns von der Politik mehr Ehrlichkeit.

Jetzt schaue ich mir an, was uns vorliegt, und frage mich: Gibt es diese Ehrlichkeit? Allein bei der Frage nach mehr Soldaten sehe ich sie an drei Stellen nicht. Die erste: Natürlich gibt es in bestimmten Bereichen Bedarf. Ich will das in der knappen Zeit nicht ausführen; aber natürlich brauchen wir mehr Stabsoffiziere in Masar-i-Scharif, und wir brauchen mehr Sicherheit in Kunduz.

Aber bevor man aufstockt, muss man eine Evaluation vornehmen. Das hat meine Fraktionsvorsitzende bereits gesagt, das hat aber auch Herr Guttenberg schon gesagt: Als er noch nicht Minister war, hat er die Einsetzung einer Evaluationskommission gefordert. Es wäre höchste Zeit für eine Evaluation, nicht nur darüber, was in Afghanistan schiefläuft, sondern auch darüber, was in Afghanistan richtig gelaufen ist, damit man auch das der Öffentlichkeit präsentieren kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube im Übrigen, dass das ein deutlich besserer Weg ist, die deutsche Öffentlichkeit von bestimmten Notwendigkeiten zu überzeugen, Kollege Gabriel, als zu sagen: Der Kriegsbegriff ist nicht realitätstauglich; es ist also egal, ob da Krieg herrscht oder nicht, wir sparen das aus. Ich glaube, man kann unserer Öffentlichkeit mehr zumuten; die Deutschen vertragen mehr, wenn sie wissen, dass man ihnen die Wahrheit sagt, und man sagt, warum man bestimmte Dinge tut.

Ein zweiter Punkt, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob wir es hier mit Ehrlichkeit zu tun haben, ist die Frage der Alternativen. Wir haben Alternativen, die aber nicht geprüft werden, etwa den von uns so genannten Vollmer-Plan, den General Vollmer, der Commander im Regional Command North, bereits im letzten Jahr vorgestellt hat. Der Plan sieht die Ausbildung von 2 500 afghanischen Polizisten im Raum Kunduz vor, die wir bezahlen. Die Kosten dafür belaufen sich auf 9 Millionen Dollar; das ist verhältnismäßig wenig. Die Ausbildung könnte schnell vollzogen werden. Der Plan ist von der neuen Regierung abgelehnt worden, wäre aber eine wunderbare Alternative, der man sich annehmen könnte.

Ich erinnere mich auch an die Beschlussfassung zum Einsatz von Tornados im Jahr 2007. Deren Nutzen beispielsweise für die Soldaten in Kunduz ist gleich null. Im Mandatstext stand, dass dafür 500 Soldaten gebraucht werden. Das entspricht der Zahl von 500 zusätzlichen Soldaten, die Sie jetzt beschließen wollen.

In diesem Zusammenhang komme ich zur dritten Stelle, an der mir die Ehrlichkeit fehlt – Kollege Beck hat es gesagt; ich bin froh, wenn wir darüber reden können, ob man das nicht hineinschreiben kann –: Es ist nicht wirklich redlich, 350 Soldaten als Reserve für Wahlen und für Kontingentwechsel aufzuführen. Wir haben schon bei den letzten beiden Aufstockungen über die Argumente dafür gesprochen. Da hat man uns immer gesagt: Wir brauchen einen Puffer für Kontingentwechsel. Minister Jung selbst hat gesagt – ich habe die Zitate hier vorliegen –, dass man den Puffer sowieso nicht ausschöpfen werde. Drei Monate später waren wir an der Mandatsobergrenze angelangt. Das wird auch hier der Fall sein. Herr Minister, ich wette mit Ihnen, dass Sie spätestens im Herbst herkommen und sagen werden: Wir haben den Puffer von 350 Soldaten ausgeschöpft.

Wenn wir ehrlich sind, sprechen wir also über 850 Soldaten. Zur Ehrlichkeit würde auch gehören, zu sagen: Vielleicht müssen wir hier in wenigen Wochen oder Monaten die AWACS beschließen. Wir werden dann auch wie beim letzten Mal den Einsatz von 300 Soldaten beschließen sollen. Wir alle wissen, dass 300 Soldaten zu viel sind; 150 würden reichen. 150 plus 350 plus 500 macht 1 000 Soldaten; das ist die Zahl, die Guttenberg ursprünglich wollte, nicht die Zahl, die Herr Westerwelle wollte. Sie tricksen mit den Zahlen herum. Das ist Parteienspiel und wird der Ernsthaftigkeit, die die Kanzlerin vorhin gefordert hat, nicht gerecht, auch nicht der Ehrlichkeit, die die Soldatinnen und Soldaten brauchen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selten zuvor haben wir so ausführlich, in so breiter Öffentlichkeit und so engagiert über Afghanistan debattiert wie in den letzten Wochen. Ich finde, das war dringend notwendig. Wir brauchen einen Strategiewechsel, nicht nur für Afghanistan, sondern auch für die Weise unserer Diskussion über Afghanistan.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sie auch! Da haben Sie recht!)

Die Zeit der Parolen ist vorbei. Viel zu lange haben wir uns mit Parolen beschäftigt – „unverbrüchliche Solidarität“ mit den USA; „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ –, anstatt über die Strategie zu diskutieren. Ich freue mich, dass wir nun endlich zu einer schonungslosen Analyse der Lage vor Ort kommen,

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Schonungslos war das?)

dass man zu einer klaren Sprache findet und die Dinge so benennt, wie man sie vor Ort vorfindet.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deswegen begrüße ich es, dass Bundesminister zu Guttenberg ausdrücklich von „kriegsähnlichen Zuständen“ spricht, weil er damit deutlich macht,

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Welch klare Analyse! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Strategie!)

dass wir klären müssen, auf welcher Rechtsgrundlageunsere Soldaten vor Ort im Einsatz sind.

(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist nicht geklärt!)

Damit wird auch deutlich, dass wir unseren Soldaten Rückendeckung für ihren Einsatz in Afghanistan geben müssen, den wir beauftragen; denn sie erwarten zu Recht Verständnis für ihren Einsatz bei ihrem Auftraggeber, dem Bundestag.

Wir müssen uns auch selbst darüber klar werden: Wer Fakten verklärt oder nicht klärt, stellt auch nicht die richtigen Fragen und kann nicht zu den richtigen Antworten kommen. Herr Gabriel, die Elaborate, die Sie vorhin zum Thema Vereinte Nationen vorgetragen haben, waren völlig neben der Sache. Wir streiten uns nicht über die Rechtsgrundlage dieses Einsatzes. Auch uns sind die Resolutionen der Vereinten Nationen bekannt; aber diese Resolutionen klären nicht die Frage, ob das konkrete Handeln eines Bundeswehrsoldaten vor Ort nach deutschem Strafrecht oder nach Völkerrecht zu beurteilen ist.

Ich finde, diese Frage kann man nicht den Staatsanwälten überlassen, die ja nur am grünen Tisch entscheiden können. Das ist auch für die Staatsanwälte eine Zumutung.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tun Sie doch! Sie haben es doch nicht entschieden!)

Wir, der Deutsche Bundestag, müssen dazu Stellung nehmen, weil wir bei diesem Einsatz die Auftraggeber sind.

(Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Aber das tun Sie nicht!)

Deswegen finde ich es richtig, wenn wir beim nächsten Mandat dahin kommen könnten, dass wir eine Aussage dazu treffen,

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Da bin ich ja einmal gespannt!)

dass wir diese Auseinandersetzung in Afghanistan als einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt verstehen und deswegen nicht deutsches Strafrecht, sondern Völkerrecht Grundlage der Beurteilung des Handelns unserer Soldaten vor Ort ist. Genau das ist die Rechtssicherheit, die unsere Soldaten brauchen, und es ist schlicht inakzeptabel, dass diese Fragen bis heute, also auch im neunten Jahr des Einsatzes, noch offen und nicht beantwortet sind. Wir müssen sie bei nächster Gelegenheit beantworten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die ursprüngliche Zielvorstellung, die mit diesem Einsatz in Afghanistan verbunden war, eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu schaffen, hat sich als reichlich naiv erwiesen. Es kann nur um eines gehen, nämlich darum, dieses Land so zu stabilisieren, dass wir die Verantwortung für die Sicherheit in afghanische Hände geben können.

Dazu brauchen wir einen vernetzten Ansatz; das war bisher schon Konsens. Ich glaube, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass auch die Bundesregierung in den eigenen Reihen bisher ihre liebe Not mit dem vernetzten Ansatz hatte. Deswegen finde ich es wichtig, dass wir im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbart haben, die ressortübergreifenden Anstrengungen innerhalb der Bundesregierung stärker zu bündeln. Dieses Versprechen wird jetzt eingelöst.

Erstmals liegt uns eine Strategie vor, die von allen beteiligten Ressorts gemeinsam erarbeitet worden ist, mit der klare Zielvorstellungen dafür gegeben werden, was wir in Afghanistan erreichen wollen, mit der genau beschrieben wird, welche Beiträge wir dazu leisten wollen, und durch die auch ein Zeitrahmen genannt wird, in dem wir diese Erfolge erreichen wollen. Genau so und in dieser Reihenfolge muss es gehen. Deswegen ist dies der richtige Ansatz.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu der Debatte über ein mögliches Ende des Abzugs will ich nur Folgendes sagen: Bisher waren wir uns darüber einig, dass mit einem Enddatum den Falschen in die Hände gespielt wird. Herr Steinmeier, auch wenn Sie heute nicht reden durften, darf ich daran erinnern, dass Sie in Ihrem Zehnpunkteplan vom September letzten Jahres gesagt haben: Wir müssen die Grundlagen für den Abzug aus Afghanistan bis 2013 schaffen. – Darin stimme ich Ihnen zu. Gleichzeitig haben Sie aber gesagt:

Eine konkrete Jahreszahl könnte in Afghanistan von den Falschen als Ermutigung verstanden werden.

Genau so ist es, und weil sich das seit September 2009 nicht geändert hat, ist es richtig, kein Enddatum zu nennen. Ich habe aber Sympathie dafür, ins Auge zu fassen, dass wir dann mit dem Abzug beginnen, wenn auch die Amerikaner 2011 damit beginnen wollen. Zumindest dieses Ziel sollten wir uns setzen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei unserem Engagement in Afghanistan und bei dem gesamten Einsatz der internationalen Gemeinschaft fehlt mir bislang, dass wir uns mit der afghanischen Regierung auf klare Ziele verständigen; denn es hilft doch nichts, wenn sich die internationale Gemeinschaft anstrengt, man aber den Eindruck gewinnen muss, dass auf afghanischer Seite eher passiv zugesehen wird.

Ich begrüße es, dass sich Präsident Karzai in seiner Antrittsrede kürzlich sehr klar geäußert hat. Ich darf diese zwei Sätze zitieren:

Innerhalb der nächsten drei Jahre möchte Afghanistan militärische Operationen in vielen unsicheren Gebieten des Landes selbst führen und durchführen. Entschlossen wollen wir uns dafür einsetzen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte in den nächsten fünf Jahren fähig sind, überall im Land die Führung zu übernehmen und Sicherheit und Stabilität zu garantieren.

Ich finde, wir sollten die afghanische Regierung hier beim Wort nehmen. Deswegen ist es richtig, dass wir für die Ausbildung und die Ausstattung der afghanischen Armee und Polizei deutlich höhere Beiträge erbringen, als das bisher der Fall war.

Ferner begrüße ich es, dass wir in militärischer Hinsicht in vielen Details einen Strategiewechsel vornehmen – Bundesminister zu Guttenberg hat dies bereits im Einzelnen erläutert –: Die Ausbildung der afghanischen Soldaten wird künftig im Feld stattfinden, die Schnelle Eingreiftruppe wird zu einer Ausbildungs- und Schutztruppe umgewandelt, und die Wiederaufbauteams in den Provinzen werden mit einem neuen Fokus auf den Wiederaufbau umstrukturiert. Auch das ist ein klares Signal dafür, dass wir uns stärker an den tatsächlichen Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung ausrichten.

Ich vermisse in Afghanistan greifbare Erfolge bei der Bekämpfung des Drogenanbaus, beim Aufbau von Verwaltung und Justiz und bei der Bekämpfung von Korruption und Kriminalität. Ich finde, wir müssen darüber mit der afghanischen Regierung sehr deutliche Worte sprechen. Wir müssen zumindest versuchen, dafür Sorge zu tragen, dass unsere Hilfe nicht als ein Beitrag zur Stabilisierung der derzeitigen Amtsinhaber missverstanden wird oder gar zur Aufrechterhaltung korrupter Strukturen missbraucht werden kann.

Deswegen ist es notwendig, dass die afghanische Regierung sich selbst die vereinbarten Ziele zur Aufgabe macht und sich auch dafür einsetzt, dass die afghanische Bevölkerung selber ein Interesse an der Stabilisierung des Landes und am Gelingen des politischen Prozesses entwickelt. Ohne den eigenen Willen der Afghanen werden alle Bemühungen von außen nicht erfolgreich sein können. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber eine Schule, die wir aufbauen, kann auch sehr schnell wieder vergammeln, wenn sie nicht vom eigenen Willen der Bevölkerung getragen wird, diese Schule aufrechtzuerhalten.

Wir können nur die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Afghanen eine Chance zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung bekommen. Letztlich müssen die Afghanen diese Chance selbst ergreifen. Ich finde, wir sollten mit einer klaren Strategie und klaren Vorgaben für die afghanische Regierung dabei ein bisschen nachhelfen.

Ich wünsche der Bundesregierung viel Erfolg bei der Afghanistan-Konferenz morgen in London.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion.

Holger Haibach (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selten war in einer Debatte im Deutschen Bundestag so oft wie heute die Rede von Ehrlichkeit und Offenheit, die immer wieder eingefordert werden. Dazu will ich drei Vorbemerkungen machen, die mir wichtig erscheinen.

Erstens. Es wird sehr häufig gesagt – das ist auch heute in der einen oder anderen Intervention angeklungen –, es sei in Afghanistan nichts passiert, es sei dort nichts gut. Abgesehen davon, dass es schlichtweg falsch ist – das beweisen die Zahlen –, ist diese Aussage, glaube ich, auch nicht fair und anständig; denn diejenigen, die das sagen, meinen zwar die Politik, aber letzten Endes ist es ein Schlag ins Gesicht aller Soldatinnen und Soldaten, aller Diplomatinnen und Diplomaten und aller Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, die in Afghanistan seit Jahren einen sehr gefährlichen Job sehr gut erledigen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Nein, das ist nicht wahr! Ihre Entscheidung ist ein Schlag ins Gesicht der Soldatinnen und Soldaten!)

Deswegen kämpfe ich immer gegen solche Äußerungen.

Zweitens ist von Herrn Gabriel kritisiert worden, dass sich die Information des Parlaments gestern auf die Fraktions- und Parteivorsitzenden beschränkt habe. Ich glaube – darauf hat der Kollege Mißfelder schon hingewiesen –, es hat in der Frage von Auslandseinsätzen der Bundeswehr selten so ein offenes Verfahren gegeben wie in diesem Fall. – Das ist das eine.

Das andere ist: Dass ausgerechnet Herr Gabriel dies gesagt hat, finde ich sehr bemerkenswert. Wenn ich mich recht entsinne, war Herr Schröder früher SPD-Parteivorsitzender und damit der Amtsvorgänger von Herrn Gabriel. Herr Schröder ist doch dafür bekannt, dass er die Leitlinien deutscher Außenpolitik zwar über die Marktplätze der Republik gerufen, aber nicht im Parlament verkündet und diskutiert hat.

(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Er hat im Gegensatz zu Ihnen Nein zum Einsatz im Irak gesagt! Wo waren Sie denn damals?)

Insofern glaube ich, dass auch an dieser Stelle ein bisschen Zurückhaltung von Ihrer Seite angebracht ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Als dritter Punkt ist mir in der Debatte, wenn wir über Offenheit und Ehrlichkeit sprechen, Folgendes aufgefallen: Es wird immer wieder gesagt, wir müssten viel mehr über das zivile Engagement reden, wir müssten viel mehr im zivilen Bereich machen und wir bräuchten viel mehr Geld. Die Medienberichterstattung der letzten Tage zeigt, dass es um eine einzige Frage geht: Um wie viele zusätzliche deutsche Soldaten in Afghanistan geht es auf der Londoner Konferenz? Ich finde, das muss man bei dieser Gelegenheit sagen, weil es eigentlich um etwas anderes geht. Wir alle haben immer betont, dass London keine reine Truppenstellerkonferenz sein darf. Das Konzept, das die Bundesregierung heute vorgelegt hat, zeigt auch deutlich, dass zumindest wir einen anderen Ansatz verfolgen.

Ich denke, dass wir gerade über die entwicklungspolitischen Aspekte noch einmal sprechen müssen. Zunächst einmal ist es wichtig, zu betonen, dass es diese Bundesregierung war, die schon in diesem Jahr die Mittel für den zivilen Aufbau in Afghanistan auf über 140 Mil-lionen Euro erhöht hat, und dass wir uns vorgenommen haben, die Mittel insgesamt auf über 400 Mil-lionen Euro aufzustocken. Das hat keine andere Bundesregierung vor uns gemacht. Ich halte das in dieser Zeit für ein goldrichtiges Zeichen. Wir müssen hier einen klaren Schritt tun. Neben der finanziellen Frage bedeutet das aber auch, dass wir die richtigen Strukturen schaffen und sagen müssen, was wir mit dem Geld eigentlich erreichen wollen. Aus meiner Sicht gibt es hier drei entscheidende Bereiche. Der erste ist das Thema Sicherheit, der zweite das Thema Entwicklung und der dritte das Thema Regierungsfähigkeit.

Sicherheit bedeutet nicht nur Sicherheit für unsere Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, sondern zuerst und vor allem auch Sicherheit für die Menschen in Afghanistan. Denn wir wissen – das ist ein altbekannter Satz –: Ohne Sicherheit gibt es keine Entwicklung, genauso wenig wie es ohne Entwicklung Sicherheit geben kann. All diejenigen, die sagen, die Bundeswehr müsse, wenn es geht, sofort raus aus Afghanistan, müssen erklären, wie sie die Sicherheitsfrage beantworten wollen. Ich glaube, sie haben dafür keine Lösung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann lesen Sie doch unseren Antrag!)

Wenn ein Entwicklungshilfeminister sagt, er habe keine Scheu vor einer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr, dann finde ich das prinzipiell nicht verwerflich. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich finde es richtig, weil es eine Zusammenarbeit geben muss. Es geht nicht darum – so wird es manchmal dargestellt –, die Unterschiede zu verwischen; das darf nicht sein. Aber es muss klar sein, dass es eine solche Zusammenarbeit geben muss.

Der zweite Punkt ist das Thema Entwicklung. Bis heute gibt es eine ungelöste Frage, nämlich die nach dem Drogenanbau. Der Drogenanbau stellt eines der größten Probleme nicht nur für Afghanistan, sondern auch für uns dar. Es geht hier auch um unsere eigenen Interessen. Welche Interessen haben wir in dieser Angelegenheit? Ich gebe zu, dass es bislang niemandem gelungen ist, hier eine vollständig befriedigende Lösung zu finden; denn der Drogenanbau ist offensichtlich noch immer lukrativer als beispielsweise die Erzeugung von Lebensmitteln. Wir müssen noch sehr viel darüber nachdenken, wie wir an dieser Stelle vernünftig weiterkommen.

Das Dritte ist – das halte ich ehrlich gesagt für das Wichtigste, was wir noch schaffen müssen – die Frage nach der Regierungsfähigkeit. Über 400 Millionen Euro in die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan zu investieren, ist keine ganz einfache Aufgabe, vor allen Dingen dann nicht, wenn keine Strukturen vorhanden sind, die das absorbieren können. Die Frage nach der Absorptionsfähigkeit ist ganz wichtig. Deshalb ist es richtig, dass die neue Strategie der Bundesregierung darauf setzt, noch mehr in die ländlichen Räume zu gehen und noch mehr in den Aufbau von Strukturen zu investieren, die in der Lage sind, ein Gebiet zu verwalten sowie mit zu gestalten und zu entscheiden, was unter anderem mit deutschem Geld passieren soll. Das halte ich für ganz entscheidend. Wir reden immer darüber, dass die Afghanen ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen sollen. Wir reden immer darüber, dass sie über ihr Land selbst bestimmen sollen. Aber dazu gehört, dass wir sie bei der Entscheidung, was vor Ort in welchen Projekten gemacht wird, tatsächlich unterstützen und dass wir sie beteiligen. Der Provincial Development Fund zum Beispiel bietet dazu sehr gute Möglichkeiten. Die Erkenntnis, dass Afghanistan ein Land ist, das nie eine sehr starke Zentralgewalt gekannt hat und immer sehr provinziell und nach Stämmen aufgestellt war, lässt sich in der nun vorgelegten Strategie sehr gut wiederfinden. Das bedeutet nicht die Delegitimation der Zentralregierung. Vielmehr wird auf die historischen Gegebenheiten dieses Landes Rücksicht genommen. Wir wollen keinen Kolonialstaat aufbauen; Afghanistan soll sich vielmehr nach eigenen Regeln entwickeln. Das ermöglichen wir mit dem Plan der Bundesregierung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir über Abzugsdaten reden, dürfen wir nie vergessen, dass es wichtig ist, nicht die falschen Signale zu setzen. Es ist richtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wann deutsche Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan zurückkommen können. Aber wir müssen die Dinge vom Ende her betrachten; das wurde schon deutlich. Ein Abzug kann nur dann wirklich sinnvoll sein, wenn eine selbsttragende Sicherheit und vernünftige Strukturen vorhanden sind. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Sicherheit, sondern auch im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts, die Bildung und die Infrastruktur. Ich wehre mich gegen ein konkretes Abzugsdatum; denn wenn ein konkretes Abzugsdatum genannt wird, dann ist es für diejenigen, die andere Interessen in diesem Land haben, relativ einfach, abzuwarten und zu sagen: Wir warten, bis die Bundeswehr bzw. die internationalen Truppen weg sind. Dann übernehmen wir wieder das Kommando im Land. – Das halte ich auf jeden Fall für falsch, auch deshalb, weil wir es denjenigen, die mit uns zusammenarbeiten wollen, ein gutes Stück schwieriger machen; denn wenn sie wissen, dass der Schutz durch die internationalen Truppen begrenzt ist, aber nicht dadurch, dass selbsttragende Sicherheit vorhanden ist, sondern dadurch, dass es innenpolitische Debatten in den Ländern der Truppensteller gibt, dann tun wir ihnen keinen Gefallen, sondern lassen sie am Ende des Tages allein. Das sollten wir nicht tun. Genau deshalb meine ich, dass die Regierung hier ein sehr tragfähiges Konzept vorgelegt hat.

Danke sehr.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/519. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.

Quelle: Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 18. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 27. Januar 2010 (Plenarprotokoll 17/18), S. 1521-1544; www.bundestag.de


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