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Zentralrat der Juden in Deutschland gegen "einseitige Verurteilung Israels" - "Jüdische Stimme" kontert: "Zentralrat der Juden in Deutschland ist verantwortungslos"

Dokumentation einer Kontroverse über die Kriegshandlungen Israels im Gazastreifen und in Libanon

Angesichts den massiven Militäraktionen Israels im Gazastreifen (seit Ende Juni) und im Libanon (seit dem 12. Juli 2006) sind erste Stimmen aus der Bundesregierung laut geworden, die das israelische Vorgehen zumindest als "unverhältnismäßig" und völkerrechtlich fragwürdig halten. Das sind zaghafte, aber im Kontext des besonders engen deutsch-israelischen Verhältnisses doch ungewohnte Zwischentöne. Der Zentralrat der Juden in Deutschland nahm solche Abweichungen von der herrschenden Meinung zum Anlass für einen geharnischten Protest (siehe im Kasten die beiden Presseerklärungen vom 14. und 16. Juli 2006). Dies rief wiederum die kritische "Jüdische Stimme", die deutsche Sektion der in zehn Nationen wirkenden "European Jews for a Just Peace-EJJP", auf den Plan. Sie wirft dem "Zentralrat" vor, die harte israelische Kriegspolitik gegenüber den Palästinensern "blind zu unterstützen". Auch diese ausführlichere Stellungnahme dokumentieren wir im vollen Wortlaut.





Presseerklärungen
14.07.2006

Zentralrat weist einseitige Kritik an Israel scharf zurück

Angesichts der eskalierenden Situation im Nahen Osten weist der Zentralrat der Juden in Deutschland eine einseitige Verurteilung Israels scharf zurück. „Die Verantwortung für die aktuelle Situation trägt nicht Israel, sondern die libanesische Regierung, die seit Jahren nicht ihrer Verpflichtung nachkommt, die terroristische Hisbollah aufzulösen", so die Präsidentin des Zentralrats, Charlotte Knobloch.

„Mit der Resolution 1559 aus dem Jahr 2004 wurde die libanesische Regierung aufgefordert, die Milizen aufzulösen und die terroristische Hisbollah-Organisation, die tausende von Raketen an der Grenze zu Israel aufgestellt hat, zu entwaffnen. Es liegt in der Verantwortung der Weltgemeinschaft, die Umsetzung dieser Resolution endlich zu erzwingen", fordert Vizepräsident Dr. Dieter Graumann.

„Diejenigen, die heute so vollmundig und vorschnell Israel ein unangemessenes Vorgehen unterstellen, müssen sich fragen lassen, wie sie reagieren würden, wenn sie selbst unter ständiger Bedrohung durch Raketenangriffe leben müssten. Kein Staat der Welt – auch Israel nicht - kann Raketenterror und Entführung seiner Soldaten vom eigenen Territorium als legitime Mittel zur Durchsetzung politischer Forderungen akzeptieren. Der Staat Israel hat wie jeder Staat der Welt das Recht, sich zu verteidigen", betont der Vizepräsident des Zentralrats, Prof. Dr. Salomon Korn.

„Wir bedauern, dass auch Außenminister Steinmeier in dieser Angelegenheit offenbar mit zweierlei Maß misst. Seine öffentliche Verurteilung der Raketenangriffe auf israelische Zivilisten haben wir bis jetzt vermisst", kritisiert Dr. Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats. „Zu Recht hat Bundeskanzlerin Merkel angemahnt, bei dem Konflikt nicht Ursache und Wirkung zu verwechseln und das Ende der Bedrohung Israels durch die Hisbollah-Milizen gefordert", so Vizepräsident Dr. Graumann.

„Wo war die Verurteilung der libanesischen Regierung, die entgegen der Verpflichtung des Weltsicherheitsrats nach dem Rückzug der Israelis nichts gegen die Anschläge der Hisbollah unternommen hat?" fragt Dr. Graumann und betont: „Wer selbst nicht vom Raketenterror betroffen ist, sollte vorsichtig und zurückhaltend mit guten Ratschlägen oder Verurteilungen, wegen angeblich mangelnder Verhältnismäßigkeit sein." „Manchem Politiker täte es gut, sich vorzustellen, was wäre, wenn G'tt bewahre, in Deutschland täglich Raketen einschlügen", so die Präsidentin des Zentralrats, Charlotte Knobloch.

Berlin, den 14.07.2006


Presseerklärungen
16.07.2006

Zentralrat kritisiert Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul (SPD)

„Unsere Trauer und Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen und Familien der Opfer nach den hinterhältigen Raketenangriffen der Hisbollah und der Hamas in den letzten Wochen, Tagen und Stunden", so die Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch.

„Besonders hinterhältig, ja fast schon antisemitisch ist ein Kommentar im WDR von Jürgen Hanefeld, wo die legitime israelische Verteidigung nun zum angeblichen „Überfall auf den friedfertigen Staat Libanon" umgeschrieben wird, meint Knobloch. „Völlig unerwähnt bleibt oftmals, dass die israelische Bevölkerung schon seit Monaten, vom Libanon aus, unter ständigem Raketenbeschuss existieren muss. Bleibt zu wünschen, dass die unermüdlichen Bemühungen der Bundesregierung zum Erfolg führen werden", so Knobloch zuversichtlich.

„Antiisraelische Propaganda in deutschen Medien ist leider keine Seltenheit und verwundert angesichts der Vorlagen aus der Politik nicht", so Vizepräsident Dr. Dieter Graumann kritisch. „Die Äußerungen von Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) im heutigen Tagesspiegel und anderer SPD-Volksvertreter, wonach die Handlungen Israels schlicht „völkerrechtswidrig" seien, entspringen den üblichen antiisraelischen Reflexen gerade dieser Politikerin. Wieczoreks Äußerungen entbehren zudem auch jeder moralischen und inhaltlichen Grundlage", so Graumann.

„Völkerrechtlich war es die Verpflichtung der Weltgemeinschaft – dazu gehört auch Deutschland - und der libanesischen Regierung, mit der UNO Resolution 1559 aus dem Jahr 2004, die Milizen im Libanon aufzulösen und die terroristische Hisbollah zu entwaffnen. Nicht nur hat Israel seinen Teil der Resolutionsverpflichtung erfüllt, sondern auch seit dem fast tatenlos, im Vertrauen auf die Garantien der Weltgemeinschaft, zugesehen, wie hunderte Raketen aus dem Südlibanon israelische Bürger in Angst und Schrecken versetzt und Schäden angerichtet haben", meint Graumann. „Das einzige was hier völkerrechtswidrig war, ist die Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft - auch Deutschlands, die eigenen UNO-Resolutionen nicht umzusetzen und das weiß Frau Wieczorek-Zeul sehr genau", so Graumann.

„Angesichts der erfreulichen Solidarität in der Bundesregierung für die Verteidigungshaltung der Israelischen Regierung, sollte der Parteivorsitzende der SPD, Ministerpräsident Kurt Beck sich überlegen, ob eine solche Entwicklungshilfeministerin im Namen der Sozialdemokraten noch tragbar ist", meint Dieter Graumann.

Vizepräsident Professor Dr. Salomon Korn, bekräftigt unterdessen die Forderung der Israelischen Regierung, nach Einbeziehung des aktuellen Konfliktes im Nahen Osten in die laufenden Verhandlungen der westlichen Staatengemeinschaft mit dem Mullah-Regime in Teheran. „Die scharfen Drohungen aus Damaskus und Teheran gegen Israel zeigen einmal mehr, was schon bekannt war, Syrien und Iran sind aktiv in den Terror der Hamas und Hisbollah verstrickt", meint Korn.

Berlin, den 16. Juli 2006



EJJP: Zentralrat der Juden in Deutschland verantwortungslos

Wider die Kriegshandlungen Israels im Gazastreifen und in Libanon

Stellungnahme zur Presseerklärung des Zentralrats der Juden in Deutschland

Ungeachtet der Frage, ob die Entführung israelischer Soldaten oder das Abfeuern von Quassamraketen auf israelische Ortschaften angesichts der Absperrung und Besatzung des Gazastreifens durch Israel legitim sind oder nicht und jenseits einer Klärung der Schuld an der gegenwärtigen Situation, nimmt die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost zu den gegenwärtigen Vorgängen im Gazastreifen und in Libanon wie folgt Stellung: Die Angriffe der israelischen Armee gegen die Zivilbevölkerung, die Zerstörung von Elektrizitätswerken, Flughäfen, Brücken, Straßen und anderen Einrichtungen der lebensnotwendigen Infrastruktur sind unverhältnismäßig und inakzeptabel. Ohne die Intervention der Regierungen der internationalen Völkergemeinschaft drohen die gegenwärtigen Kriegshandlungen Israels zu einem Flächenbrand zu eskalieren, der die gesamte Region erfassen könnte. Noch ist es möglich, umzukehren. Noch kann ein Weg zu einem dauerhaften Frieden eröffnet werden.

Die Geschichte Israels und Palästinas belegt seit 1948 unmissverständlich: Ein dauerhafter Frieden kann durch Krieg und Zerstörung nicht erzielt werden. Jeder Waffengang brachte bisher nur Blutvergießen sowie den Verlust bitter benötigter Ressourcen. Das Ergebnis: Leid und Hass auf beiden Seiten.
  • Es ist an der Zeit, dass die internationale Gemeinschaft, allen voran die EU-Regierungen und die USA, sich besinnen und, ehe es zu spät ist, die israelische Regierung zwingen, von einem Kriegspfad abzukehren, der schon jetzt außer Kontrolle geraten ist.
  • Es ist an der Zeit, dass die Vereinten Nationen - anstelle bloßer Lippenbekenntnisse - endlich Schritte einleiten, die geeignet sind, das Leben und Überleben von Millionen Menschen in der Region wirksam zu schützen.
  • Es ist an der Zeit, dass die Regierungen Europas alle politischen und wirtschaftlichen Mittel, einschließlich Sanktionen einleiten, um die israelische Regierung zu Verhandlungen mit der gewählten Regierung der Palästinenser zu bewegen.
  • Es ist an der Zeit, dass die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, die vorgibt, aus historischen Gründen eine besondere Verantwortung für die sechs Millionen in Israel lebenden Juden wahrnehmen zu wollen, konstruktive Beiträge zum jeweiligen Schutz sowohl der israelischen als auch der palästinensischen Bevölkerung einleitet. Die stattdessen praktizierte Waffenbruderschaft mit der israelischen Armee, die Lieferung von Waffen zu Test- und Einsatzzwecken schürt das Feuer. Sie verstößt zudem gegen die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, die Waffenlieferungen in Kriegsgebiete aus eben diesem Grund strikt untersagt.
Wir kritisieren den Zentralrat der Juden in Deutschland, der in einer am 14. Juli verbreiteten und vor allem an den Außenminister gerichteten Erklärung, die "einseitige Kritik an Israel scharf zurückweist". In dieser Erklärung wird die Politik der israelischen Regierung blind unterstützt. Das halten wir für verantwortungslos. Der Zentralrat kann in dieser Frage nicht im Namen aller in Deutschland lebenden Juden sprechen.

Wir kritisieren den stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, der der Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul(SPD) angesichts ihrer Einlassung im Berliner Tagesspiegel vom 16. Juli "antiisraelische Reflexe" vorgeworfen hat. Wer wie Herr Graumann indirekt sogar den Rücktritt einer Politikern fordert, hätte die Pflicht, die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass die von ihr geäußerte Kritik und Besorgnis ausdrücklich beide Seiten in den Blick nimmt, die israelische und die palästinensische. Anderenfalls macht er sich schuldig, bloße Propaganda zu betreiben.

Eine Beilegung der Feindseligkeiten, die zur aktuellen Eskalation geführt haben sowie eine vertragliche Übereinkunft zu eine dauerhaft tragfähige Lösung hängen maßgeblich davon ab, dass die Regierung Israels ihre Weigerung aufgibt, mit der gewählten Regierung Palästinas zu verhandeln. Der Hauptdruck der internationalen Gemeinschaft muss daher gegen Israels Politik gerichtet sein, die unter Missachtung einschlägiger Bestimmungen des internationalen Rechts allein auf militärische Gewalt setzt.

Der Aufbau der Vereinten Nationen nach der Niederschlagung der Naziherrschaft im Jahre 1945, die Verkündung der UN-Charta und das Regelwerk des Internationalen Rechts hatten von Anbeginn einen einzigen Zweck: Zu verhindern, dass ein Volk sich über ein anderes erhebt, es geringschätzig behandelt, unterdrückt oder terrorisiert und sicher zu stellen, dass ein einzelner Staat die Territorialgrenzen des ihm zugeschriebenen Geltungsbereichs nicht eigenmächtig überschreiten oder gar einen Krieg gegen einen anderen Staat entfachen darf. Diese wichtigsten Errungenschaften der Menschheit werden nicht nur gefährdet, sondern regelrecht preisgegeben, wenn die internationale Gemeinschaft nicht umgehend einen Weg findet, Israel dazu zu bringen, alle bereits verabschiedeten UN-Resolutionen anzuerkennen, sich auf Verhandlungen mit der gewählten Regierung Palästinas einzulassen und auf einen Vertrag hinzuwirken, der die friedliche Koexistenz mit einem künftig an der Grenze Israels von 1967 zu errichtenden Staat Palästina sowie mit allen anderen Anrainerstaaten garantiert.

Die Jüdische Stimme, ist die deutsche Sektion der in zehn Nationen wirkenden European Jews for a Just Peace und versteht sich als Teil der internationalen Solidaritätsbewegung, die Palästina in seinem Kampf für Selbstbestimmung und die Widerstands- und Friedensbewegung in Israel unterstützt.

Wir sind hier und anderswo immer noch zu wenige.
Bitte verbreiten Sie diesen Aufruf. Bitte helfen Sie mit, einen Flächenbrand in Nahost abzuwenden. Noch ist Zeit.


Berlin, 17. Juli 2006


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