Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Für eine weitere Liberalisierung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs"

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Chicago Council on Foreign Relations

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Chicago Council on Foreign Relations am 26. Februar 2004. Wir haben lediglich den Anfang (Anredefloskeln und Bekenntnis zum Antiterrorkampf) weggelassen.


(...)
Meine Damen und Herren,

zu den Fragen, auf die wir den Menschen - und zwar auch in der transatlantischen Partnerschaft - eine Antwort geben müssen, gehört die nach der Zukunft der Arbeit im Zeitalter der Globalisierung.

Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass globales Wirtschaften und ein freier Welthandel die besten Entwicklungschancen für uns alle bietet. Dies auch, wenn sie durch die grenzenlose Wirtschaft Gefahr laufen, dass ihr Job nach China, Indien oder - im Fall Deutschlands - nach Osteuropa verlagert wird.

Denn eines ist klar:
Die Antwort kann nicht sein, dass wir auf Protektionismus setzen oder versuchen, uns von den Weltmärkten abzuschotten, wenn sie unangenehme Folgen für uns haben.

Statt dessen müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln und verdreifachen, um unsere Vorsprünge zu halten und auszubauen. Durch Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung. Durch eine aktive Innovationspolitik und eine nachhaltige Verbesserung unserer Infrastruktur. Dadurch, dass wir die Wachstumspotentiale in den Zukunftsindustrien - etwa in der Biotechnologie, der Medizin- und Pharmatechnik, der Nano-Technologie oder der Opto-Elektronik - konsequent erschließen.

Die Voraussetzungen dafür sind in unseren beiden Ländern nicht schlecht. Bei den weltmarktrelevanten Patentanmeldungen gehört Deutschland mit den USA und Japan zur Spitzengruppe. Und gleich nach den USA ist Deutschland zweitgrößter Exporteur forschungs­intensiver Waren.

Meine Damen und Herren,
unsere beiden Volkswirtschaften sind in ganz besonderem Maße auf den Welthandel angewiesen.

Kein Land hat im letzten Jahr mehr exportiert als Deutschland. Insgesamt haben wir Waren im Wert von rund 750 Milliarden US-Dollar ausgeführt. Auch wechselkursbereinigt haben wir seit Mitte der neunziger Jahre wieder Weltmarktanteile hinzu gewonnen. Exporte und Importe fallen bei uns mit mehr als zwei Dritteln des Brutto­inlands­produkts ins Gewicht.

Die starke Einbindung der deutschen, aber auch der amerikanischen Wirtschaft in den Welthandel verpflichtet uns, die Rahmenbedingungen stabil zu halten.

Die großen Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft und die Wechselkursschwankungen bereiten uns ernste Sorgen. Europas Leistungsbilanz ist nahezu ausgeglichen. Ersparnisbildung und Sachkapitalinvestitionen halten sich bei uns weitgehend die Waage. Weitere deutliche Verschiebungen im Wechselkursgefüge zu Ungunsten der Euro-Zone machen vor diesem Hintergrund weltwirtschaftlich keinen Sinn. Sie würden vielmehr schaden.

Unsere Länder eint nicht zuletzt die Grundüberzeugung, dass ein freier Welthandel entscheidende Impulse für Wachstum und Beschäftigung gibt. Deswegen treten wir für eine weitere Liberalisierung des Waren- und Dienstleistungsverkehrs ein. Im vergangenen Jahr wurde auf der WTO-Konferenz in Cancún dazu eine große Chance vertan. Wir wollen - gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union -, dass die Verhandlungen so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden.

Die jüngsten handelspolitischen Initiativen der US-Regierung sind ein positives Signal, das ich gerne aufgreife: Wir sollten auf beiden Seiten des Atlantiks, in Europa und in Nordamerika, Exportsubventionen vollständig abbauen. Deutschland ist dazu bereit. Gerade hier, in der Heimat der "Chicagoer Schule" der Nationalökonomie, sollte dieser Vorschlag auf besonderes Interesse stoßen.

Meine Damen und Herren,
in einer globalisierten Weltwirtschaft brauchen wir klare Abgrenzungen der gerichtlichen Zuständigkeiten.

Zunehmende Sorge bereiten mir deshalb Fälle, in denen sich Gerichte für zuständig erklären, obwohl weder Kläger, Beklagter noch der Sachverhalt eine echte Beziehung zum Gerichtsort aufweisen. Wenn nationales Recht immer öfter exterritorial angewandt wird, würde dies im Ergebnis zu einem echten Stolperstein für alle global operierenden Unternehmen werden. Gerade in einer weltweit vernetzten Wirtschaft müssen Streitfälle dort entschieden werden, wo sie tatsächlich hingehören. Das heißt dort, wo sich der rechtliche Schwerpunkt des Falles befindet.

Ich sage das wohlwissend, dass wir in den USA und in Deutschland unterschiedliche Rechtskulturen haben. Es wird deshalb womöglich nicht ganz leicht sein, eine Lösung zu finden.

Aber die Erfahrungen mit Konfliktlösungen in der Vergangenheit und die große Verbundenheit in den weltwirtschaftlichen Zielen sollten uns auch hier den Weg weisen.

Meine Damen und Herren,
aus unserer Geschichte und Geographie ergibt sich, dass nicht nur Deutschlands Politik, sondern auch unsere Wirtschaft in erster Linie auf Europa orientiert ist. Das ist im übrigen auch im Interesse der transatlantischen Partnerschaft.

Ein wirtschaftlich starkes Europa, das Stabilität exportieren kann, ist ein wesentlicher Faktor für die internationale Sicherheit. Aber ein solches Europa ist auch ein vorzügliches Beispiel für die Überwindung von Unfreiheit und Feindschaft - und für das gemeinsame Gewinnen von Zukunft.

Wir haben gemeinsam einen großen und freien Binnenmarkt geschaffen und uns auf eine gemeinsame Währung geeinigt, den Euro.

Die Fortschritte in Europa - zum Beispiel die vereinbarte Öffnung der Energiemärkte - werden die Wettbewerbsfähigkeit und die Dynamik auf diesem Binnenmarkt weiter erhöhen.

Am 1. Mai 2004, weniger als 15 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, werden zehn Länder, die meisten aus Mittel- und Osteuropa, der Europäischen Union beitreten. Damit überwinden wir endgültig den Eisernen Vorhang, der unseren Kontinent in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts getrennt hat.

Natürlich kostet das Kraft und zusätzliche Anstrengungen, gerade für Deutschland. Aber es lohnt sich - nicht nur, aber auch wirtschaftlich.

Mit 450 Millionen Menschen, die mehr als ein Viertel des Weltsozialprodukts erarbeiten, wird der europäische Wirtschaftsraum zu einem der stärksten Binnenmärkte der Welt. Dadurch verbessern wir die Voraussetzungen für mehr Wettbewerb, mehr Produktivität und mehr Wohlstand.

Deutschland in der Mitte des zusammenwachsenden Kontinents kann von dieser Entwicklung ganz besonders profitieren.

Meine Damen und Herren,
wir müssen auf die Globalisierung unserer Wirtschaft - aber auch auf den demographischen Wandel in unseren Gesellschaften reagieren. Unsere Strukturen - vor allem auf dem Arbeitsmarkt und bei der sozialen Sicherung - müssen auf die damit verbundenen Veränderungen an der ökonomischen Basis eingestellt werden.

Diesen Prozess haben wir in Deutschland mit den Reformen der Agenda 2010 begonnen. Wir werden unseren Sozialstaat, der ein vorzüglicher Garant für Teilhabe, Sicherheit und sozialen Frieden ist, so umgestalten, dass er auch für künftige Generationen bezahlbar und damit funktionsfähig bleiben kann.

Dazu gehört die gezielte Förderung jedes einzelnen - auch wenn er seinen Job verloren hat oder in Not geraten ist. Aber dazu gehört auch, dass wir mehr Flexibilität und Selbständigkeit einfordern. Das entspricht übrigens unserem Leitbild von einer sozialen, offenen Gesellschaft, die von Selbstbestimmung, aber auch von Solidarität geprägt ist.

Meine Damen und Herren,
die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen haben ein stabiles Fundament.

Deutschland ist Amerikas stärkster Wirtschaftspartner in Europa. Für die USA sind wir mit Abstand der wichtigste Absatzmarkt auf dem Kontinent. Jahr für Jahr gehen US-Exporte im Wert von mehr als 50 Milliarden Dollar nach Deutschland.

Umgekehrt sind die USA auch für Deutschland der bei weitem wichtigste Handelspartner außerhalb Europas. Bei den Direktinvestitionen sind die USA erste Wahl.

Deutsche Unternehmen haben hier mehr als 350 Milliarden Dollar investiert und sie beschäftigen mehr als eine drei Viertel Million Mitarbeiter.

Auf der anderen Seite sind die USA der größte ausländische Investor in Deutschland. Fast eine halbe Million Arbeitnehmer in Deutschland verdienen ihr Geld bei US-Unternehmen. Erst in der letzten Woche hat die Amerikanische Handelskammer in Deutschland durchaus bemerkenswerte Ergebnisse ihrer alljährlichen Umfrage vorgestellt. Danach äußern sich die Mehrzahl der in unserem Land aktiven US-Unternehmen sehr positiv über ihr Engagement in Deutschland.

Das ist natürlich - ich sage das in aller Bescheidenheit - auch eine Folge unserer Reformpolitik:
  • Wir haben Bürger und Unternehmen steuerlich kräftig entlastet. Anfang 2005 werden die Steuersätze noch einmal sinken.
  • Die Steuerquote in Deutschland gehört mittlerweile zu den niedrigsten in Europa. Unsere Steuersätze sind international wettbewerbsfähig.
  • Wir haben die Beiträge zur Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung stabil gehalten.
  • Stabile Preise und niedrige langfristige Zinsen machen einen weiteren Teil der guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland aus.
  • Die Lohnstückkosten entwickeln sich - gerade im internationalen Vergleich - schon seit geraumer Zeit ausgesprochen moderat.
So hat Deutschland in den letzten Jahren vermehrt ausländische Direktinvestitionen angezogen - und das trotz eines weltweiten Rückgangs.

Viele amerikanische Unternehmen haben diese Vorteile erkannt und genutzt:
  • Dow Chemical zum Beispiel betreibt im Osten Deutschlands eines seiner weltweit produktivsten Chemiefabriken.
  • Das gleiche gilt für General Motors mit ihrem hochmodernen Automobilwerk in Thüringen.
  • Das Investitionsvorhaben von AMD - Advanced Micro Devices - wird die Region Dresden zum bedeutendsten Zentrum für Mikro-Elektronik in Europa machen.
Die Bundesregierung will es erleichtern, dass interessierte Investoren sich optimal über die Investitionschancen in Deutschland informieren und Kontakte knüpfen können. Wir haben deshalb die Agentur "Invest in Germany" als Anlaufstelle eingerichtet. Und wir haben einen international bekannten Manager gewinnen können, diese Initiative "Invest in Germany" im amerikanischen Raum zu vertreten.

Viele von Ihnen werden ihn kennen: Es ist Jürgen Weber, ehemals Vorsitzender des Vorstands und jetzt des Aufsichtsrats der Lufthansa AG. Ich freue mich ganz besonders, dass Jürgen Weber heute hier ist.

Meine Damen und Herren,
wir können die wirtschaftlichen Beziehungen nicht losgelöst von den politischen Problemen in der Welt betrachten. Ohne politische Stabilität und Sicherheit kann es kein dauerhaftes Wachstum und keinen freien Welthandel geben, von dem alle profitieren.

Andererseits kann die Wirtschaft einen erheblichen Beitrag leisten, Konflikte zu entschärfen und Wege zur friedlichen Entwicklung zu ebnen.

Deshalb ist es gut, dass Präsident Bush als Gastgeber des diesjährigen Weltwirtschaftsgipfels die Themen Wachstum und Sicherheit zum Schwerpunkt unserer Gespräche gemacht hat. Und ich begrüße es ausdrücklich, dass Ihre Regierung den G-8-Gipfel intensiv mit der Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten befassen will und dazu Vorschläge gemacht hat.

Der deutsche Außenminister hat diese Vorschläge auf der Münchner Sicherheitskonferenz ergänzt. Er hat auf die Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Komponente - etwa durch die Schaffung einer großen Freihandelszone - hingewiesen.

Mir liegt daran, dass wir den notwendigen Prozess der Modernisierung, Demokratisierung und Stabilisierung in dieser Krisenregion gemeinsam mit Partnern in der Region selbst auf den Weg bringen. Wir dürfen dabei den eigentlichen Nahostkonflikt - den Streit zwischen Israelis und Palästinensern - weder ausklammern, noch dürfen wir zulassen, dass dieser Konflikt andere Perspektiven ausschließt oder verhindert.

Die Lösungslinien für diesen Konflikt sind vorgezeichnet: Zwei Staaten, Israel und Palästina, die in sicheren Grenzen, in Sicherheit vor Gewalt und in Selbstbestimmung miteinander leben.

Wir werden weiterhin verstärkte Anstrengungen unternehmen müssen, um diese Lösung zu erreichen.

Wenn wir den Blick dabei auf die gesamte Region wenden - und auch die ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Potentiale beherzt nutzen und unterstützen -, dann wird uns das nicht nur bei der Konfliktlösung helfen. Sondern es wird einen entscheidenden Beitrag leisten im Kampf gegen Terrorismus und Extremismus, für Stabilität, Freiheit und Toleranz.

Deutschland vertraut in diesem Prozess auf die Vereinigten Staaten von Amerika.

Und die Vereinigten Staaten haben in Deutschland einen starken Partner in Europa.

Quelle: Homepage der Bundesregierung: www.bundesregierung.de


Zurück zur Seite "Außenpolitik"

Zur Globalisierungs-Seite

Zurück zur Homepage