"Terrorismus muß militärisch entschlossen bekämpft werden"
Im Wortlaut: Regierungserklärung von Außenminister Fischer zum NATO-Gipfel in Prag
Im Folgenden dokumentieren wir die Regierungserklärung, die Bundesaußenminister Fischer am 14. November 2002 anlässlich des bevorstehenden NATO-Gipfels in Prag vor dem Deutschen Bundestag abgegeben hat. Lesen Sie hierzu auch einen ersten kritischen Kommentar: Militär: Von der ultima ratio zur prima ratio.
Regierungserklärung zum NATO-Gipfel am 21./22. November in Prag abgegeben durch Bundesaußenminister Fischer vor dem Deutschen Bundestag am 14.11.2002
Zwölf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt für
uns ein anderes Gesicht bekommen: Wo sich früher zwei Blöcke
in militärischer Konfrontation erstarrt gegenüber standen, sehen
wir uns heute mit einer wesentlich komplexeren weltpolitischen
Lage konfrontiert: Einerseits können wir vor allem in Europa
enorme Fortschritte bei Frieden, Stabilität und Freiheit
feststellen. Auf der anderen Seite erfahren wir täglich von neuen
regionalen Konflikten, sozialen Unruhen oder terroristischen
Anschlägen. Spätestens die Schrecken des 11.9.2001 haben uns
verdeutlicht, dass wir von diesen Bedrohungen direkt betroffen
sind. Besonders der Terrorismus richtet sich direkt gegen uns
alle, die wir in offenen Gesellschaften leben. Aber auch regionale
Konflikte und soziale Probleme werden in einer zunehmend
globalisierten Welt für uns zu immer größeren Gefahr. Unsere
Landesgrenzen schützen uns nur sehr unzureichend vor diesen
asymmetrischen Bedrohungen.
Unser Ziel ist, dass alle Menschen in Sicherheit und Freiheit
leben können. Terrorismus muß militärisch entschlossen
bekämpft werden. Aber gleichzeitig dürfen wir uns darauf nicht
beschränken, sonst droht ein Scheitern. Wir müssen politische
und soziale Konflikte lösen, die den Nährboden für die
Entstehung der Gewalt und des Terrorismus darstellen.
Krisenprävention ist genauso wichtig wie die Krisenreaktion. Um
dies zu erreichen, brauchen wir mehr denn je ein System
globaler kooperativer Sicherheit. Nur über die Zusammenarbeit
von Nationen kann dies umfassend geleistet werden. Nur in
multilateralem Rahmen können wir auf allen relevanten Ebenen
entschlossen gegen das Gefährdungspotential unserer Zeit
angehen. Wir müssen weg von einer rein militärisch angelegten
Reaktion auf Konflikte und hin zu einem umfassenden
Sicherheitsbegriff. Europa und Amerika stehen vor einer neuen,
weit über unsere Kontinente hinausreichenden und politisch
entscheidenden Ordnungsaufgabe.
Vor diesem Hintergrund treffen sich die 19
NATO-Mitgliedsstaaten am kommenden Donnerstag in Prag. Für
das transatlantische Bündnis und seine Rolle in einem System
globaler kooperativer Sicherheit beginnt in der tschechischen
Hauptstadt eine neue Ära. In Prag werden sich die Fähigkeiten
des Bündnisses zeigen, sich an eine wandelnde Welt
anzupassen. Die Allianz wird dort einen weiteren Schritt auf dem
Weg zur Lösung der großen europäischen Sicherheitsfragen
vollziehen.
Der Gipfel wird uns nochmals verdeutlichen, dass die NATO weit
mehr ist als ein reines Verteidigungsbündnis. Sie ist eine über
den Atlantik reichende Wertegemeinschaft, die entscheidend zur
Sicherheit und Stabilität in der Welt und zur Stärkung von
Demokratie und Rechtstaatlichkeit ihrer Mitglieder beiträgt.
Im Mittelpunkt der Diskussionen werden drei zentrale Aufgaben
stehen.
Es geht um
-
die Öffnung der NATO für neue Mitgliedsstaaten
-
die Beziehungen der NATO zu ihren Partnern und
-
die Anpassung der NATO an neue Herausforderungen.
Alle drei Themen sind von großer Bedeutung für die Zukunft der
Organisation und damit für die deutsche Außenpolitik
entscheidend.
Zum zweiten Mal nach Ende des kalten Krieges öffnet die NATO
sich für neue Mitglieder. Der Konsens der Bündnisstaaten,
sieben weitere Staaten zum Beitritt in die Allianz einzuladen,
wird immer wahrscheinlicher. Dreizehn Jahre nach dem Fall der
Mauer wird die NATO somit wichtige Länder in Süd- und
Osteuropa sowie das Baltikum in das Bündnis integrieren.
Diese anstehende Erweiterung ist ein Erfolg sowohl für die
Allianz, als auch für die Beitrittskandidaten selbst. Sie leistet
einen Beitrag zur europäischen Stabilität. Sie festigt die
transatlantischen Beziehungen. Und sie beschleunigt notwendige
Reformen in den Mitgliedsstaaten.
Die nächste Erweiterungsrunde liegt auch in unserem Interesse.
Daher hat auch der Bundestag im April dieser Einladung mit
überwältigender und fraktionsübergreifender Mehrheit
zugestimmt.
Diese Einladung erfolgt nach gründlicher Evaluierung der
Bereitschaft und Fähigkeit der Kandidaten, dem Bündnis
beitreten zu können. Ihr gingen Jahre intensiver Vorbereitung
voraus. Deutschland hat dabei aktiv mitgearbeitet. Mit der
Entsendung militärischer und ziviler Berater, mit Materialhilfe
und Ausbildungsunterstützung haben wir einen wichtigen und
anerkannten Beitrag dazu leisten können. Zahlreiche Experten
halten viele der heutigen Beitrittsländer für besser vorbereitet,
als die drei Kandidaten der ersten Erweiterungsrunde 1997.
Alle Aspiranten haben in den vergangenen drei Jahren Reformen
durchgeführt und erhebliche Fortschritte gemacht. Ihre
Anstrengungen beschränkten sich nicht nur auf
Strukturreformen im militärischen Bereich. Auch die Beilegung
interner und externer Konflikte, die Durchsetzung von
Menschenrechten und die demokratische Kontrolle der
Streitkräfte gehörten dazu.
All diese Vorhaben sind noch nicht ganz abgeschlossen. Es ist
klar, dass auch die Kandidaten, die in Prag eingeladen werden,
diese Anstrengungen fortsetzen müssen. Die NATO ist keine
statische Organisation; alle ihre Mitgliedsstaaten müssen sich
fortlaufend an neue Herausforderungen anpassen. Die
Beitrittsstaaten werden sich in einem Schreiben an den
NATO-Generalsekretär verpflichten, ihre Anstrengungen zur
Beseitigung noch vorhandener Defizite auch nach der Einladung
fortzusetzen.
Aber nicht alle Staaten, die Mitglied der NATO werden wollen,
können in Prag eingeladen werden. Wir müssen daher mit den
Ländern, die dieses Mal noch nicht dabei sind, in intensivem
Kontakt bleiben. Wir werden sie in der Erklärung des Prager
Gipfels ausdrücklich ermutigen, ihre Anstrengungen
fortzusetzen. Die NATO muss auch in Zukunft weitere Mitglieder
aufnehmen können. Ihre Tür muss offen bleiben. Dies ist für die
deutsche Politik von großer Bedeutung. Darüber besteht auch
innerhalb der Mitgliedsstaaten Konsens.
Denn die letzten zehn Jahre haben gezeigt: Die Perspektive
eines NATO-Beitritts hat zu Konfliktabbau und Konfliktprävention
beitragen können. Diese Aussicht fördert und dynamisiert den
Reformkurs der Kandidaten. Sie trägt zur Stabilisierung von
Ländern und Regionen bei. Eine Erweiterung der Allianz bedeutet
immer auch eine Erweiterung und Festigung der
transatlantischen Wertegemeinschaft. Gemeinsam mit der
Erweiterung der Europäischen Union ist sie daher auch eindeutig
in unserem Interesse.
Es ist offensichtlich, dass die Frage nach den Beziehungen der
NATO zu ihren Partnern außerhalb des Bündnisses im direkten
Zusammenhang zur ihrer Erweiterung steht. Wir müssen neben
der Öffnung des Bündnisses auch die Kooperation mit den
Staaten in der Nachbarschaft der NATO weiter entwickeln.
Zunächst ist hier unsere Zusammenarbeit mit Russland zu
nennen. In Prag wollen sich die Außenminister im Rahmen des
NATO-Russland-Rates mit ihrem russischen Kollegen treffen, um
die Ziele künftiger Zusammenarbeit festzulegen und das bislang
Erreichte zu bewerten. Insgesamt ist die Bilanz erfreulich. Seit
dem Gipfel in Rom am 28. Mai hat sich unsere Kooperation mit
Russland deutlich verbessert. Vieles beurteilen die Partner
mittlerweile einheitlich. Besonders bei der Bewertung der Lage
auf dem Balkan herrscht zunehmend Übereinstimmung mit
unseren russischen Partnern. Für gemeinsame
friedenserhaltende Operationen haben wir ein realisierbares
Konzept entwickelt.
Diese Schritte zu einer engen Kooperation, für die wir uns
immer eingesetzt haben, sind eine beachtliche Leistung beider
Seiten. Sie sollten uns auch in die Lage versetzen, über Wege
und Mittel zur gemeinsamen Lösung von Sicherheitsproblemen
zu reden. Unser Ziel ist dabei, zu übereinstimmenden
Beurteilungen zu kommen. Beim Tschetschenienkonflikt
beispielsweise sind wir unverändert der Auffassung, dass - auf
der Basis territorialer Integrität, des Kampfes gegen den
Terrorismus und der Wahrung der Menschenrechte - nur eine
politische Lösung zum Erfolg führen kann.
Die engen Beziehungen zwischen der NATO und Russland sind
für Stabilität und Sicherheit im euro-atlantischen Raum von
großer Bedeutung. Ihre Intensivierung hat letztlich dazu geführt,
dass die NATO-Erweiterung für Russland kein ernsthaftes
Problem mehr darstellt. Dies war vor ein paar Jahren noch ganz
anders.
Ein weiterer wichtiger NATO-Anrainer und Partner ist die
Ukraine. Auch mit ihrem Kiewer Kollegen wollen die
Außenminister der Mitgliedsstaaten sich in Prag treffen, um zu
diskutieren, wie die Ukraine stärker in die euroatlantischen
Strukturen eingebunden werden kann. Wir wollen dabei einen
Aktionsplan verabschieden, der die Ziele unserer
Zusammenarbeit klar definiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die
Intensivierung des politischen Dialogs und die Unterstützung der
Ukraine bei ihrer Verteidigungsreform.
Dabei werden allerdings auch kritische Punkte in den
Beziehungen zwischen der NATO und der Regierung in Kiew auf
dem Programm stehen. Unsere Zusammenarbeit wird
gegenwärtig überschattet von dem Vorwurf an Kiew, Waffen in
Krisengebiete exportiert und Technologie illegal an den Irak
geliefert zu haben. Wir fordern von unseren Partnern die
Einhaltung internationalen Rechts und der Beschlüsse der
Vereinten Nationen, daran darf es keinen Zweifel geben.
In Prag wird auch evaluiert, wie die Beziehungen mit den
anderen Partnern in Nachbarschaft der NATO praktischer
ausgestaltet werden sollen. In den letzten Monaten haben wir
gerade mit unseren Partnerländern in Zentralasien intensiv
zusammengearbeitet: Wie wichtig deren Rolle als Bindeglied
nach Asien ist, hat uns die Kooperation bei der
Krisenbewältigung in Afghanistan gezeigt. Ähnliches gilt für
europäische Partnerländer, mit denen wir beispielsweise im
Rahmen der SFOR und der KFOR ausgezeichnet
zusammenarbeiten.
Schließlich wollen wir auch unseren Dialog mit den
Mittelmeerländern aufwerten. In Prag sollen Vorschläge hierzu
vorgelegt werden. Diesem Austausch messen wir große
Bedeutung bei, denn er kann zur Verbesserung der regionalen
Stabilität beitragen und gegenseitiges Verständnis fördern.
Allerdings ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in diesem
Rahmen unmittelbar bestimmt von der Lage im Nahostkonflikt.
Einem dritten großen Themenfeld wollen sich die
NATO-Mitglieder sich in Prag widmen: Die heutigen
Herausforderungen machen neue Anpassungen notwendig. Nach
dem Ende des kalten Krieges tritt die klassische
Territorialverteidigung in den Hintergrund. Wir werden uns
zunehmend fragen müssen: Wie reagieren wir in der NATO auf
die neuen Bedrohungen? Wie können wir zur Bekämpfung, ihrer
Eindämmung und Prävention von Krisen und Konflikten
nachhaltig beitragen?
Nach dem 11. September 2001, nach Djerba und Bali haben
diese Fragen eine bedrückende Aktualität. Der Albtraum eines
großen terroristischen Anschlags ist für uns alle erschreckende
Wirklichkeit geworden. Diesen neuen Herausforderungen muss
sich das Bündnis stellen. In Prag muss die NATO daher die
notwendigen Prioritäten setzen, um in den Dimensionen eines
umfassenden Sicherheitsbegriff zu planen und zu agieren.
Zum einen wird es in Prag um die Verbesserung der
militärischen Fähigkeiten gehen. Neue Gefahren erfordern
angemessene Reaktionen der NATO-Mitglieder. Auf dem Gipfel
steht die Initiative des "Prague Capabilities Commitment" zum
Beschluss an. Sie setzt klare Prioritäten für den Ausbau der
militärischen Fähigkeiten der NATO-Mitgliedsstaaten- etwa die
Verteidigungsfähigkeit gegen Angriffe mit
Massenvernichtungswaffen, oder die Bereitstellung von sicherer
moderner Führungstechnologie, von strategischem Lufttransport
und von Aufklärungstechnik.
In diesem Zusammenhang halten wir die amerikanische
Initiative einer NATO-Response Force für einen konstruktiven
Vorschlag. Dieser multinationale Ansatz kann dazu beitragen,
die heutigen Sicherheitsherausforderungen zu bewältigen und
gleichzeitig die integrierten NATO-Strukturen zu stärken. Daher
unterstützen wir den Plan, in Prag einen Auftrag zur
Ausarbeitung eines Konzeptes für diese NATO-Response Force
zu erteilen.
Wir sind dabei der Auffassung, dass drei Voraussetzungen erfüllt
sein müssen:
-
Entscheidungen über Einsätze dieser Truppe müssen dem
NATO-Rat vorbehalten bleiben.
-
Eine deutsche Beteiligung ist aufgrund der geltenden
Rechtslage nur mit vorheriger Zustimmung des
Bundestages möglich.
-
Das Vorhaben muss mit dem Aufbau europäischer
Krisenreaktionskräfte im Rahmen der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik vereinbar sein,
Doppelungen sollten ausgeschlossen werden.
In Prag wird es aber nicht nur um militärische Fähigkeiten
gehen. Wenn die Staats- und Regierungschefs die internationale
Lage erörtern, wird es auch darum gehen, wie Konflikte besser
eingedämmt und Krisen verhütet werden können. Eine kluge
Verzahnung von Politik und Militär kann hier zum Erfolg führen.
Der NATO-Einsatz in Mazedonien hat gezeigt, dass der
rechtzeitige, präventive Einsatz von Streitkräften in enger
Abstimmung mit politischen und diplomatischen Initiativen helfen
kann, Konflikte auf friedliche Art und Weise zu lösen, bevor sie
gewaltsam eskalieren. Wir messen der Weiterentwicklung
solcher Strategien große Bedeutung bei. Vor allem im Rahmen
eines umfassenden und effizienten Kampfes gegen den
Terrorismus halten wir sie für unerlässlich.
Mit der anstehenden Erweiterung, mit der Intensivierung des
Dialogs mit unseren Partnern, mit der Anpassung unserer Mittel
und Strategien an die aktuelle Lage und schließlich mit der
Vertiefung multilateralen, gemeinsamen Handelns stellt die
NATO ihre Dynamik, ihre Flexibilität und auch ihren
umfassenden Anspruch unter Beweis, eine transatlantische
Wertegemeinschaft zu sein.
Die NATO ist das wichtigste Bindeglied für die Beziehungen im
nordatlantischen Raum. Sie ist Ausdruck der historischen
Verbundenheit und des gemeinsamen Engagements von Europa
und Amerika. Sie ist wichtiger Pfeiler in einem System globaler
kooperativer Sicherheit, wie es die Welt heute mehr denn je
benötigt. Die Bundesregierung wird daher die Vorhaben des
Gipfels in Prag nachhaltig unterstützen und an ihrer Umsetzung
engagiert mitarbeiten.
Ich danke Ihnen.
Quelle: Homepage des Außenministeriums (www.auswaertiges-amt.de)
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