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"Gewalt und Krieg sind 'normal' geworden"

Dieter S. Lutz über das Friedensgebot des Grundgesetzes

Der nachfolgende Text basiert auf einer Rede, die der Hamburger Friedensforscher Dieter S. Lutz (Direktor des ISFH und Professor an der Uni Hamburg) während einer Festveranstaltung der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) gehalten hat. Die Rede war dokumentiert in der Wochenzeitung "Freitag".


... US-Präsident Bush will seine europäischen Partner auf neue Ziele einschwören. Noch zögert die Bundesregierung, sich einem Krieg gegen den Irak anzuschließen. Dabei wäre eine solche Entscheidung - wie jede andere Angriffshandlung auch - eindeutig verfassungswidrig.

Seit vielen Wochen und Monaten gehört es zunehmend zu meiner Aufgabe als Friedensforscher, nicht zum Thema Frieden, sondern aus aktuellen Anlässen zum Thema Krieg sprechen zu müssen und immer öfter zu immer neuen Gewaltakten und/oder Fehlentscheidungen Vorträge zu halten. Aus dieser Aufgabe ist mittlerweile eine sich wiederholende Pflicht geworden - und ich bedaure es, sagen zu müssen: eine zunehmend unerträgliche und mich oftmals zutiefst deprimierende Pflicht. Gewalt und Krieg - so das Empfinden - sind "normal" geworden. Normal kommt von Norm. Die höchste Norm der Bundesrepublik Deutschland - sei es mit Blick auf die Politik ihrer Staatsorgane, sei es mit Blick auf die Handlungen eines jeden einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin aber ist das Grundgesetz. In dieser unserer Verfassung vom 23. Mai 1949 findet sich eine ganze Anzahl bemerkenswerter Normen. Sie formen in ihrer Gesamtheit ein verfassungsrechtliches Friedensgebot, das weltweit wohl als einmalig anzusehen ist. Seine Regelungen sollten der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Willen des Parlamentarischen Rates in bewusster Abkehr von der kriegerischen Vergangenheit des Deutschen Reiches einen - wie es der Abgeordnete der FDP und spätere Bundespräsident Heuss ausdrückte - "exzeptionellen Charakter" verleihen und einen wertgebundenen demokratischen und friedlichen Staat konstituieren. Ich meine: Wir sollten stolz sein auf diese Normen ebenso wie auf unsere "Normalität" als Ausfluss eben dieser Normen.

Der Parlamentarische Rat wollte 1948/49 den bewussten und nachdrücklichen Neuanfang: Der Friedenswille des deutschen Volkes sollte in eindeutiger Abkehr von einem System, das selbst vor Angriffskriegen, Massenmorden und Versklavungen nicht zurückgeschreckt war, zum unabänderlichen Leitgedanken und Wesensmerkmal des Grundgesetzes erhoben werden. Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg!

Nach dem Willen des Parlamentarischen Rates sollten an der von der Verfassung getroffenen Wertentscheidung für Frieden zukünftig sowohl alle anderen Normen des Grundgesetzes gemessen werden - auch des später eingeführten Wehrverfassungsteils - als auch und gerade ihre Umsetzungen in Politik. Deutsche Politik sollte Friedenspolitik sein. Zwar lässt das Grundgesetz auch Rüstungspolitik und militärische Sicherheitspolitik zu. Die Präferenz der Verfassung war und ist aber eindeutig: Sie wollte nach 1949 die Chance zum Neuanfang; sie wollte und will Frieden und Sicherheit aktiv und vorrangig auf nichtmilitärischer Basis durch die Stärkung des Rechts und durch gleichberechtigte internationale Kooperation.

Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates, Frieden zum unabänderlichen Leitgedanken und Wesensmerkmal der Verfassung zu erheben, wird ganz besonders deutlich in Artikel 26 Absatz 1 des Grundgesetzes. Dort heißt es: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen." Wie weit dieser Artikel reicht, beantwortet die Norm bei exakter wörtlicher Auslegung selbst: Verboten ist nicht nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern jede beabsichtigte Handlung, die auch nur "geeignet" ist, einen Angriffskrieg "vorzubereiten". Die verbotene Friedensstörung selbst braucht also noch nicht eingetreten zu sein, der Angriffskrieg noch nicht begonnen zu haben. Nach Artikel 26 genügt bereits die bloße "Eignung". Es muss also nicht faktisch gestört werden oder worden sein - bloße abstrakte Gefährdung genügt. Das Verbot der Friedensstörung und des Angriffskrieges ist also in Wahrheit ein Verbot der abstrakten Friedensgefährdung.

Damit aber noch nicht genug: Friedensstörende Handlungen sind ausdrücklich verfassungswidrig. Was verfassungswidrig ist, steht außerhalb der Verfassung. Wenn aber alles, was den Frieden stört, außerhalb der Verfassung steht und ihr entgegengesetzt ist, so muss die Ordnung des Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland vom Frieden her bestimmt sein. Sie muss als ein oberstes Bekenntnis das Friedensgebot in sich tragen. Der Grundwert "Frieden" des Grundgesetzes ist somit eine elementare Grundentscheidung für die gesamte Verfassung, welche die ganze Rechtsordnung überlagert beziehungsweise der die einzelnen Verfassungsnormen untergeordnet sind. Diese Bindung an die Grundprinzipien der Verfassung gilt nicht nur für den Verfassungsinterpreten, sondern auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber. Das Friedensgebot ist zweifelsfrei unantastbar. Frieden ist Norm auf Dauer.

Ergo: Deutschland war in diesem Sinne "normal" vor der Wiedervereinigung und ist es in diesem Sinne auch nach der Wiedervereinigung. Die gegenwärtig in Politik, Wissenschaft und Medien immer wieder benutzte Redewendung, Deutschland müsse nunmehr endlich normal werden, entbehrt insofern ihrer Grundlage. Mit dieser Klarstellung muss ich meine knappe Verfassungsexegese - für heute - leider beenden. Eine Schlussfolgerung sei mir aber noch erlaubt:
Wenn es richtig ist, dass Frieden und mit ihm das Friedensgebot unantastbare Wertentscheidungen und Leitzielbestimmungen des Grundgesetzes sind, so besitzt die Friedensforschung auch unabhängig von der allgemeinen Wissenschaftsfreiheit des Artikel 5 Grundgesetz einen eigenen Verfassungsrang. Nach über 50 Jahren wird es Zeit, diesen positiv zu bestimmen und die hieraus resultierenden Konsequenzen breit zu diskutieren. Zur Illustration: Warum nimmt die Bundesregierung alljährlich das Gutachten der so genannten "Fünf Weisen", also ein Gutachten von Ökonomen entgegen (und finanziert es auch), nicht aber das Friedensgutachten der fünf führenden Friedensforschungseinrichtungen in Deutschland? Warum gibt es noch immer keinen friedens- und sicherheitspolitischen Expertenrat (Friedensrat) im Bundeskanzleramt? Warum hat die Friedensforschung keinen oder kaum Einfluss auf den Schulunterricht?

Aus: Freitag 22, 24. Mai 2002


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