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"Die Grünen waren nie eine linke Partei"

Rot-grüne Außen- und Sicherheitspolitik kontrovers diskutiert: Ströbele (Grüne) kontra Jelpke (Linkspartei)

Kann man in der Koalition mit einer neoliberalen Partei fortschrittliche Politik durchsetzen? Macht es sich die Linkspartei nicht zu bequem, wenn sie eine Regierungsverantwortung ablehnt? Um diese und andere Fragen ging es in einer Podiumsdiskussion, bei der sich am Mittwochabend [7. September 2005] in Berlin-Kreuzberg die Bundestagskandidaten Ulla Jelpke* (Linkspartei) und Hans-Christian Ströbele** (Bündnis 90 / Die Grünen) austauschten. »Aufbruch mit links?« hieß der Titel der Veranstaltung, zu der [‘solid], der Jugendverband der Linkspartei, und die Grüne Jugend Berlin gemeinsam eingeladen hatten. Es moderierte Matthias Lohre von der taz.
Die "junge Welt" veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 9. September 2005 Auszüge aus der Diskussion (Titel des Beitrags: "Aufbruch mit links?"), die wir im Folgenden dokumentieren.


Jelpke: In der taz stand, ich sei eine Radikale – und ich bin stolz darauf, radikal zu sein. Wenn Linke etwas vorschlagen, wird immer gleich gefragt: »Wie wollt ihr das finanzieren?« Ich will mich auf diese realpolitische Frage gerne einlassen.

In der Politik der Bundesregierung gibt es schöne Beispiele. Sie gibt jährlich 24,5 Milliarden Euro für den Verteidigungshaushalt aus. Schauen wir uns zusätzlich an, was im Rahmen der Bundeswehrstrukturreform an Militärmaschinerie eingekauft wird: Das Raketenabwehrsystem MEADS soll in den nächsten Jahren etwa sieben bis 15 Milliarden Euro kosten; Rot-Grün will außerdem 60 Transportflugzeuge des Typs A 400M kaufen, was neun Milliarden Euro kosten soll. Das sind Beispiele dafür, wo gespart werden kann. Angesichts der gigantischen Rüstungspolitik, die Rot-Grün angeheizt hat, wäre das ein erster Schritt, um Gelder für soziale Aufgaben freizumachen. Natürlich gibt es viele andere Möglichkeiten.

Ströbele: Ich neige der Ansicht zu, daß man zwar radikale Ziele haben, sich gleichwohl aber den täglichen Problemen stellen sollte. Für eine Partei heißt das, daß sie ihren Fernzielen Stück für Stück näherkommt, wenn auch mit Brüchen und Beugungen. Diesen Wege habe ich immer für richtig gehalten.

Die Grünen waren nie eine linke Partei – aber wenn sie nicht linke Inhalte ganz hochgehalten hätte, wäre ich da nie eingetreten. In dieser Partei konnten sich viele wiederfinden: Die Friedensbewegung z.B., die nicht nur aus Linken bestand. Oder die Frauenbewegung, in der auch nicht alle links waren. Das gleiche gilt für die Ökologie- und die Anti-AKW-Bewegung.

Und jetzt arbeiten wir in einer Koalition mit, obwohl wir wissen, daß mit der jetzigen SPD eine revolutionäre Veränderung nicht erreicht werden kann. Die Koalition wäre nie zustande gekommen, wenn wir etwa von der SPD gefordert hätten, den großen Lauschangriff abzuschaffen, den diese Partei voller Stolz ein halbes Jahr zuvor eingeführt hatte.

Man muß sich fragen, ob es in einer Regierungspolitik so viele realistische Ziele gibt, daß man solche Zugeständnisse vertreten kann. Von daher glaube ich, daß die Grünen zu Recht in die Regierung gegangen sind und auch weiterhin darin mitmachen sollten. Es gab Kompromisse, die für mich schmerzhaft waren, es gab andere, die ich nicht mitgemacht habe. Bei Hartz IV habe ich zuletzt dagegen gestimmt, um klar zu machen, daß ich das nicht mittragen kann.

Das jetzige grüne Programm unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von dem der Linkspartei – die nimmt nämlich objektive Probleme nicht ernst. Es ist z.B. ein riesiges Problem, die Renten zu finanzieren. Oder daß die Gesundheitskosten explodieren.

Das alles muß man erst einmal zur Kenntnis nehmen. Dann kann man darüber reden, wie man das sozial möglichst gerecht hinkriegt.

Rot-Grün hat dabei Fehler gemacht. Wir haben versucht, das jetzt im Programm zu korrigieren.

Jelpke: Ich halte das, was Christian gesagt hat, für eine grobe Verharmlosung der Politik der Bundesregierung.

Erstens ist 1999 mit dem Angriff auf Jugoslawien von deutschem Boden aus Krieg wieder möglich geworden. Den hatte Außenminister Fischer mit der Lüge begonnen, die Serben hätten aus Mordgier so etwas wie Konzentrationslager eingerichtet. Bis heute gibt es dafür keinen Beweis, diesen Lügen ist auch nicht nachgegangen worden. Es folgte der Angriff auf Afghanistan, an dem sich Deutschland beteiligt. Das Verteidigungsministerium teilte kürzlich mit, rund 7000 Bundeswehrsoldaten seien in 32 Ländern eingesetzt.

Die soziale Bilanz dieser Regierung ist eine Katastrophe. Sie ist ein Armutszeugnis für eine Partei wie die Grünen, die einmal mit ganz anderen Werten angetreten ist. Viele Menschen müssen in billigere Wohnungen ziehen, viele müssen von Einkommen leben, die vorne und hinten nicht reichen. Jeder hier im Saal weiß, daß man von ALG II nicht leben kann.

Ein Drittes ist mir wichtig: der Erhalt demokratischer Grundrechte. Ich glaube, daß in keiner Periode der bundesdeutschen Geschichte so viele Grundrechte abgebaut wurden wie unter Rot-Grün. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat die Regierung immer wieder zur Ordnung gerufen. Das hat Rot-Grün nicht daran gehindert, Gesetze ähnlichen Inhalts erneut ins Parlament einzubringen: Etwa die Verhängung der nachträglichen Sicherheitsverwahrung oder den großen Lauschangriff. Man könnte stundenlang Dinge aufzählen, denen auch Christian zugestimmt hat – er war eben nicht das linke Feigenblatt.

Die Grünen sind seit Jahren keine linke Partei mehr – auch wenn es an der Basis noch Linke gibt. Die Grünen sind heute Teil des Neoliberalismus. Christian, ich sehe die Sachzwänge nicht, die du als Entschuldigung anführst. Auch wenn ich Respekt vor einigen deiner Ansätze habe – du bist in der falschen Partei.

Ich jedenfalls würde für die Linkspartei nicht zur Wahl antreten, wenn sie an die Regierung strebte. In einer solchen Koalition würde wahrscheinlich das gleiche herauskommen, was Rot-Grün heute macht. Eine wirklich andere Politik ist nur möglich, wenn man ein breiteres Bündnis der Linken schafft, wenn es im Parlament gelingt, diese Veränderungen gemeinsam mit der außerparlamentarischen Bewegung zu erkämpfen.

Ströbele: Es ist richtig, daß das Bundesverfassungsgericht neue Gesetze im Repressionsbereich kassiert hat, z.B. den großen Lauschangriff. Aber es ist nicht richtig, daß wir ihn eingeführt haben. Er wurde aber so verändert, daß er 2004 in ganz Deutschland nur elfmal angewandt wurde. Genauso ist es beim genetischen Fingerabdruck. Wir haben uns in der Gesetzgebung voll an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gehalten.

Kommen wir zur Kriegs- und Friedenspolitik. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich den Krieg gegen Jugoslawien für falsch gehalten habe. Ich habe das ähnlich intensiv problematisiert wie die PDS und andere. So war es auch beim Afghanistan-Krieg. Bei allen Bundestagsentscheidungen dazu habe ich mit Nein gestimmt. Man muß doch mal zur Kenntnis nehmen, daß ich im Bundestag mehr gegen Krieg tun kann, als wenn ich mich in mein Anwaltsbüro zurückziehe.

Wir haben trotz ungeheurer US-amerikanischer Pressionen bis heute keine deutsche Soldaten in den Irak geschickt. Wir haben sogar in der UNO mitgeholfen, daß sie den völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA gegen den Irak nicht legitimiert hat. Das war eine wichtige friedenspolitische Leistung, auch wenn man vieles kritisieren kann, was an mittelbarer Zuarbeit zum Irak-Krieg geleistet worden ist. Das lasse ich mir nicht wegreden.

Jetzt komme ich zum dritten Punkt, zu den sozialen Themen: Es ist richtig, daß die Hartz-Reform mit sehr, sehr großen sozialen Opfern verbunden ist. All die Punkte, die heute kritisiert werden, haben wir – die Grünen und sogar die Fraktion – in die Diskussion eingebracht und versucht, Änderungen durchzusetzen. Das ist nur selten gelungen.

Die PDS nimmt das Problem der Arbeitslosigkeit überhaupt nicht zur Kenntnis. Sie hat nie gesagt, wie die Arbeitslosigkeit und die Zahlungen an die fünf Millionen Arbeitslosen finanziert werden sollen.

Wir haben jetzt Nachbesserungen im Programm, auch die SPD hat sie. Allerdings haben wir zu spät auf die Signale aus der Bevölkerung reagiert. Dennoch haben wir das Mögliche getan.

Jelpke: Ich möchte vor allem noch mal zur Kriegspolitik Stellung nehmen. Ich weiß genau, daß du einem Afghanistan-Einsatz zugestimmt hast.

Der Krieg gegen Jugoslawien war ein Angriffskrieg. Im Grundgesetz heißt es dazu: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig und unter Strafe zu stellen.« Das Strafgesetzbuch droht für solche Verbrechen sogar bis zu lebenslange Haft an. Fischer, Scharping und Schröder gehören vor Gericht.

Obwohl du selbst klar sagst, daß es ein Angriffskrieg war, gibt es auch von dir bislang nicht einen Versuch, einen dieser drei vor Gericht zu stellen. Im übrigen: Überflugrechte für den Irak-Einsatz von US-Bombern und logistische Unterstützung der US-Army sind nichts anderes als Unterstützung des Irak-Krieges der USA.

Ströbele: Ich habe immer dann, wenn deutsche Soldaten mit einem Kriegsauftrag nach Afghanistan geschickt wurden, mit Nein gestimmt. In dem von dir genannten Fall ging es um einen UNO-Einsatz, im Rahmen dessen die deutschen Soldaten Polizeiaufgaben wahrnehmen sollten. Das halte ich nach wie vor für richtig.

* Ulla Jelpke, Soziologin und Volkswirtin, gehörte bis 2002 der PDS-Fraktion im Bundestag an. Seitdem leitete sie das Ressort Innenpolitik der jungen Welt. Jetzt will sie wieder zurück in den Bundestag – sie kandidiert auf Platz fünf der Landesliste der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen.

** Der Rechtsanwalt Hans-Christian Ströbele hat als bisher einziger Politiker der Grünen ein Direktmandat erreicht: bei der Bundestagswahl 2002 in Berlin-Kreuzberg/Friedrichshain. Zum 18. September will er es erneut versuchen. Er ist nicht über die Landesliste abgesichert.


Aus: junge Welt, 9. September 2005


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