Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Für einen "effektiven Multilateralismus", einen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat und deutsche Direktinvestitionen in Indien

Zwei Reden von Bundeskanzler Gerhard Schröder in Indien: vor der Rajiv Gandhi Foundation und beim deutsch-indischen Wirtschaftsforums

"Wenn die deutsche Wirtschaft, und zwar quer durch alle Größenordnungen, in Indien investiert, dann tut sie das, um die Wirtschaft und das Land voranzubringen. Sie tut es aber auch, um auf einem wachsenden Markt zum Nutzen Deutschlands präsent sein zu können." Das ist die Quintessenz der Rede, die Bundeskanzler Gerhard Schröder zu Beginn seiner Asien-Reise in Indien am 6. Oktober 2004 gehalten hat. In seinem Tross - wie immer bei Kanzlerreisen - eine große Anzahl von Vertretern aus der deutschen Wirtschaft - für die dann auch kräftig die Werbetrommel gerührt wird. Das Gefolge besteh aus 22 Managern von Unternehmen wie Lufthansa, Allianz, Metro und Bertelsmann. "Mit Unterstützung des Bundeskanzlers wollen die Unternehmer Geschäftskontakte auf dem indischen Markt knüpfen", heißt es hierzu auf der Homepage der Bundesregierung.

Wir dokumentieren im Folgenden:
  • die Rede von Bundeskanzler Schröder am 7. Oktober 2004 vor der Rajiv Gandhi Foundation, in der er die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland erläutert und dabei auch den Wunsch der Regierung nach einem Sitz im UN-Sicherheitsrat bekräftigt,
  • die Rede des Bundeskanzlers beim deutsch-indischen Wirtschaftsforums am 6. Oktober 2004.


"Ein reformierter Sicherheitsrat muss die Realitäten der Welt von heute widerspiegeln"

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der Rajiv Gandhi Foundation Peace and Stability in a globalized world 7th Memorial Lecture am Donnerstag, 7. Oktober 2004, in New Delhi

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren!

Es ist für mich eine große Ehre, heute Gast der renommierten Rajiv Gandhi Foundation sein zu dürfen. Ich möchte über ein Thema sprechen, das Rajiv Gandhi während seines gesamten politischen Lebens stark beschäftigt hat. Ich tue dies mit großem Respekt vor seiner Lebensleistung. Für Rajiv Gandhi standen die Bewahrung von Frieden und Sicherheit und die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns.

Es sind jene Ziele von Frieden, Entwicklung und Gerechtigkeit in unserer einen Welt, denen sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit verpflichtet fühlen. Sie sind unverändert aktuell und ein bleibender Auftrag für alle, die in Politik, Wirtschaft oder in unseren Zivilgesellschaften Verantwortung tragen.

Meine Damen und Herren,

am Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir Zeugen eines tiefgreifenden und dramatisch beschleunigten Wandels in unserer Welt, der mit dem Begriff der Globalisierung nur unzureichend erfasst ist.

Die Folgen dieses Wandels wirken sich nicht nur nachdrücklich auf die Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaaten aus. Sondern sie sind auch bis in den Alltag jedes einzelnen spürbar. Manche fühlen sich diesen Prozessen und Mechanismen hilflos ausgeliefert - doch Resignation und Fatalismus wären ungeeignete Ratgeber.

Jede Form der einseitigen Kritik an der Globalisierung übersieht die enormen Chancen für Entwicklung und Wachstum in der ganzen Welt. Möglichkeiten, die sich aus der Integration der nationalen Volkswirtschaften in das System der Weltwirtschaft sowie aus freiem Handel und Kapitalverkehr ergeben.

Wir wollen und müssen die Chancen einer verbesserten Kooperation und Kommunikation, die Chancen neuer Produktionen und Arbeitsplätze, aber auch die Chancen zur Verbesserung unserer Lebensqualität gemeinsam nutzen. Auch und gerade für die armen und ärmsten Länder bieten globalisierte Märkte neue Perspektiven und große Vorteile.

Aufgabe der Politik kann es daher nur sein, auf den Prozess der Globalisierung Einfluss zu nehmen und ihn zu steuern. Damit die Menschen nicht das Gefühl haben, anonymen Kräften ausgesetzt zu sein, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Mit anderen Worten: Eine Globalisierung mit menschlichem Maß muss das Ziel unserer gemeinsamen Anstrengungen sein.

Meine Damen und Herren,

die vielfältigen positiven Effekte zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung sind gar nicht zu übersehen. Viele Länder haben durch Öffnung ihrer Märkte ein schnelleres und höheres Wachstum erreicht. Die ökonomische Entwicklung hat zu einem Anstieg der Lebenserwartung und zu höherem Lebensstandard geführt. Es gibt Fortschritte bei der Bekämpfung von Armut. Durch internationale Hilfen zum Ausbau von Infrastruktur, Gesundheitswesen und Bildungssystem haben sich die Lebensbedingungen von Millionen Menschen verbessert. Die globalisierte Wirtschaft ermöglicht auch den ärmeren Ländern den Zugang zu neuen Technologien und den Zugriff auf das der Menschheit zur Verfügung stehende Wissen. Schließlich: Immer mehr Staaten haben sich für den Weg zur Demokratie entschieden.

Und dennoch gibt es Schattenseiten, die wir genauso wenig verschweigen dürfen. Trotz aller Fortschritte sind die Gräben zwischen Arm und Reich längst nicht überwunden. Auch Hunger, Unrecht und Unterdrückung sind längst nicht beseitigt. Noch zu vielen jungen Menschen ist der Zugang zu Bildung und damit die Aussicht auf ein besseres Leben verschlossen.

Meine Damen und Herren,

vor allem: die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht sicherer geworden. Viele Hoffnungen, die sich mit dem Ende des Kalten Krieges und der Überwindung der bipolaren Weltordnung verbanden, haben sich nicht erfüllt. Zwar hat die Zahl der Kriege zwischen Staaten drastisch abgenommen. Doch der internationale Terrorismus, privatisierte Gewalt, zerfallende staatliche Strukturen und die Ausbreitung von Massenvernichtungs­waffen bedrohen unser aller Sicherheit. Alte und noch immer ungelöste Regionalkonflikte verhindern dauerhaften Frieden und Stabilität in vielen Teilen der Welt.

Aber ohne Frieden kann es keine Sicherheit geben. Ohne Sicherheit keine Entwicklung. Und ohne Entwicklung auf Dauer keinen Frieden. Wir sind deshalb aufgerufen, durch verstärkte internationale Zusammenarbeit die alten Konflikte zu lösen und den neuen Bedrohungen zu begegnen.

Meine Damen und Herren,

der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist für die Staatengemeinschaft eine der größten Herausforderungen. Sicherheit ist in unserer einen Welt nicht teilbar. Das haben uns die fürchterlichen Anschläge von New York und Jakarta, von Madrid und Djerba, von Bali und Beslan auf so grausame Weise vor Augen geführt.

Terror, gleichgültig wo er verübt wird, ist eine Kampfansage an jede Zivilisation. Daher ist es auch eine Frage unserer Selbstachtung als demokratische, soziale und friedliche Gesellschaften, den Kampf gegen den Terrorismus mit aller Entschiedenheit zu führen.

Dabei wissen wir: Sicherheit kann nicht allein mit polizeilichen oder militärischen Mitteln erreicht werden. Wer Sicherheit schaffen oder aufrechterhalten will, der muss einerseits Gewalt entschieden bekämpfen. Aber andererseits müssen genauso entschieden die Ursachen von Gewalt und die Wurzeln des Terrorismus angegangen werden. Um Fanatismus und Terrorismus den Nährboden zu entziehen, müssen wir für soziale, für materielle, auch für kulturelle Sicherheit sorgen.

Der Kampf gegen den Terrorismus wird dauerhaft nur zu gewinnen sein, wenn die Menschen den Erfolg in ihrem eigenen Leben erfahren. Wenn sie erleben, dass sich die Abkehr von Gewalt und Terrorismus auszahlt. Dass die Rückkehr in die internationale Gemeinschaft zu mehr Freiheit und Sicherheit und zu mehr Wohlstand und zu besseren Entwicklungschancen führt. Diese Friedens-Dividende muss für die Menschen erfahrbar werden.

Meine Damen und Herren,

eine besondere und zunehmende Gefahr für Frieden und Stabilität erwächst aus der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Das Risiko, dass terroristische Gruppen sich Zugang zu solchen Waffen verschaffen, ist keinesfalls geringer geworden.

Deutschland und alle Mitglieder der Europäischen Union sind der festen Überzeugung, dass die bestehenden multilateralen Instrumente zur Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung gestärkt werden müssen. Es ist ganz offensichtlich, dass es zur Bewältigung globaler Bedrohungen globaler Antworten bedarf. Kein Land der Welt ist heute in der Lage, die neuen Herausforderungen alleine zu meistern.

Wir brauchen hierfür ein starkes und effektives multilaterales System - das auf die Stärke des Rechts und nicht auf das Recht des Stärkeren setzt. Das einen verlässlichen Rahmen für Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Staaten bietet und trotz aller Interessensgegensätze globale Regierbarkeit gewährleistet. Und das eine nachhaltige Nutzung der endlichen Ressourcen unseres Planeten fördert. Das sind für mich Kernelemente eines effektiven Multilateralismus.

Meine Damen und Herren,

für eine solche Politik des Multilateralismus gibt es nur einen einzigen angemessenen Ort: die Vereinten Nationen als Garanten einer universalen Ordnung des Rechts und der Menschenwürde. Mit großem Nachdruck unterstützen wir deshalb die Bemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, die Weltorganisation zu reformieren.

Von besonderer Bedeutung dabei ist gewiss der Sicherheitsrat, das zentrale Gremium für die Aufrechterhaltung der Sicherheit und des internationalen Friedens. Der Sicherheitsrat wird von vielen - besonders von den Staaten des Südens - als nicht mehr repräsentativ für die Staatengemeinschaft im 21. Jahrhundert empfunden. Dadurch entstehen auch immer wieder Zweifel an der Legitimität seiner Beschlüsse.

Eine Reform und Erweiterung dieses wichtigen Organs ist deshalb weit mehr als die - überfällige - Anpassung an die Erweiterung von ursprünglich 51 auf heute 191 Mitgliedstaaten in den Vereinten Nationen.

Wesentlicher ist: Ein reformierter Sicherheitsrat muss die Realitäten der Welt von heute widerspiegeln. Die künftige Zusammensetzung des Sicherheitsrats hat der wachsenden Bedeutung wichtiger Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas Rechnung zu tragen. Es sollten aber auch die Industrieländer berücksichtigt werden, die wesentliche Beiträge zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit leisten. Sowohl Indien als größte Demokratie der Welt und Gründungsmitglied der Vereinten Nationen als auch Deutschland sind willens und in der Lage, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mehr Verantwortung zu übernehmen.

Meine Damen und Herren,

die Stärkung des Multilateralismus erschöpft sich nicht in einer Reform des Sicherheitsrats. Zu den wichtigsten Grundlagen unseres multilateralen Systems gehört das Völkerrecht. Die Verankerung des grundsätzlichen Gewaltverbots in der Charta der Vereinten Nationen war in der Entwicklung des Multilateralismus ein Meilenstein. Auf diesem Weg müssen wir weiter voranschreiten.

Deshalb setzt sich Deutschland mit Nachdruck dafür ein, das bestehende Völkerrecht weiterzuentwickeln und dessen Durchsetzung zu verbessern. Die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ist ein bedeutender Schritt. Er soll schwerste Menschen­rechtsverbrechen wie Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich verfolgen.

Ebenso wichtig ist es, die Beteiligung der Schwellen- und Entwicklungsländer in den maßgeblichen Gremien der internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen wirksam zu verbessern. Und dies nicht nur bei der Meinungsbildung, sondern auch bei den Entscheidungen.

Meine Damen und Herren,

unser gemeinsames Ziel ist, alle Menschen an den Chancen der Globalisierung teilhaben zu lassen. Und besonders den jungen Menschen faire Perspektiven für ein Leben in Freiheit, Würde und materieller Sicherheit zu eröffnen.

Wir müssen darauf hinwirken, alle Länder in die globalen Wirtschafts­beziehungen einzubinden. Wir müssen verhindern, dass die Welt in Globalisierungs-Gewinner und Globalisierungs-Verlierer zerfällt. Weil freier Handel nachweisbar die Wohlstandschancen erhöht, müssen gerade ärmere Länder Zugang zu den Märkten haben.

Sie dürfen nicht mit Strafzöllen oder Schutzbestimmungen ferngehalten werden.

Deshalb setzt sich Deutschland für einen erweiterten Marktzugang für Produkte aus Entwicklungsländern und den Abbau handelsverzerrender Subventionen ein.

Und wir werden uns auch weiter stark machen für die Entschuldung der ärmsten Länder der Welt. Die von der Bundesregierung vor fünf Jahren initiierte Kölner Entschuldungsinitiative umfasst mittlerweile 27 der ärmsten hochverschuldeten Entwicklungsländer. Die Initiative eröffnet ihnen die Möglichkeit, Schulden im Gesamtumfang von mehr als 50 Milliarden US-Dollar zu reduzieren. Zu dieser Vereinbarung gehört auch, dass die Schuldnerländer verstärkt in die Bekämpfung der Armut investieren und sich zu guter Regierungsführung bekennen.

Meine Damen und Herren,

eine intensive regionale Zusammenarbeit von Staaten und der Aufbau starker und handlungsfähiger Regional­organisationen sind nach meiner festen Überzeugung ein wichtiger Ansatz zu mehr Frieden und Stabilität.

Das ist eine Erfahrung, die wir in Europa gemacht haben. Durch die Integration Europas, durch den gemeinsamen Markt und die gemeinsame Währung ist es gelungen, Nationalismen zu überwinden. Europa - das war die Antwort unserer Völker auf Krieg und Vernichtung. Und Europa ist unsere Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Uns Europäern eröffnet sich die großartige historische Chance, unseren Kontinent zu einem Ort dauerhaften Friedens und Wohlergehens seiner Menschen zu machen.

Die Erfahrungen der Europäischen Union mit regionaler Zusammenarbeit und Integration mögen vielleicht nicht als Modell taugen, um andernorts einfach kopiert zu werden. Aber lernen lässt sich aus diesen Erfahrungen auch für andere Regionen der Welt allemal.

Die Europäische Union ist bereit, ihrer Größe, ihrer Wirtschaftskraft und ihrem Gewicht entsprechend mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. Hierzu braucht sie Partner. Die EU-Kommission hat deshalb Indien Vorschläge unterbreitet, wie die Partnerschaft entwickelt und vertieft werden kann. Ich freue mich, dass diese Vorschläge von der Regierung Ihres Landes, sehr verehrte Frau Gandhi, positiv aufgenommen worden sind.

Ich halte es für eine ermutigende Entwicklung, regionale Integrationsansätze mehr als bisher zu fördern: in Asien, Lateinamerika oder Afrika. Anfang des Jahres war ich in Afrika und habe dabei in Addis Abeba auch die Afrikanische Union besucht. Gerade in Afrika schwelen zahlreiche Krisen mit erheblicher Bedrohung für die regionale Stabilität. Es war für mich ermutigend zu erfahren, wie engagiert die Afrikanische

Union ihre Kapazitäten zur Friedenssicherung und Konfliktbewältigung entwickelt. Friedenstruppen und eine zivile Beobachtermission der Afrikanischen Union helfen gegenwärtig, den Waffenstillstand in Darfur zu sichern.

Meine Damen und Herren,

beim Zusammenwachsen Südasiens kommt Indien als größter Demokratie und mit einer beeindruckenden Wirtschafts­entwicklung eine zentrale Rolle zu.

Der Prozess der Annäherung, den Indien und Pakistan eingeleitet haben, ist daher für die gesamte Region und darüber hinaus wichtig. In meinen heutigen Gesprächen habe ich die indische Führung ermutigt, auf dem Weg des Dialogs und der Vertrauens­bildung voranzuschreiten. Das gleiche werde ich in wenigen Tagen auch gegenüber der pakistanischen Führung zum Ausdruck bringen. Niemand kann ein Interesse an einem regionalen Rüstungswettlauf in Südasien haben. Der Friede zwischen Staaten, das lehrt uns die Erfahrung in Europa, ist vor allem eine Frage des gegenseitigen Vertrauens. Ich hoffe und wünsche beiden Ländern, dass für alle anstehenden Fragen auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens akzeptable Lösungen gefunden werden können.

Meine Damen und Herren,

ein wesentliches Element einer umfassend angelegten kooperativen Friedenspolitik besteht darin, das gegenseitige Verständnis von Kulturen zu fördern. Aus allen Teilen der Welt sind immer wieder Stimmen zu vernehmen, die einem Kampf der Kulturen das Wort reden. Dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Ein Kampf der Kulturen würde allein den Kräften des Fanatismus in die Hände spielen.

Es gilt vielmehr, Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen zu betonen und an die uns verbindenden Werte anzuknüpfen: den Wunsch nach Frieden, Gerechtigkeit und Toleranz. Gesellschaften, die im Inneren einen fairen Interessenausgleich organisieren, die die Teilhabe ihrer Bürger an der Meinungsbildung garantieren, also demokratisch verfasst sind und über eine starke Zivilgesellschaft verfügen, werden auch nach Außen den friedlichen Interessensausgleich suchen.

Rajiv Gandhi hatte diesen Zusammenhang im Blick, als er in den achtziger Jahren bewusst den Dialog mit indischen Nichtregierungs­organisationen suchte und ihn in der Folgezeit kontinuierlich ausbaute. Ich freue mich, Ihnen heute ankündigen zu können, dass die Bundesregierung die Arbeit der Rajiv Gandhi Stiftung künftig finanziell und in gemeinsamen Projekten, insbesondere im Bildungsbereich, unterstützen wird.

Meine Damen und Herren,

die deutsch-indische Partnerschaft wird getragen von dem Wunsch, gemeinsam dafür zu arbeiten, die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Ich bin überzeugt, dass uns dies gelingen wird - zum Wohle der Menschen in unseren Ländern und in der Verantwortung für Frieden und Stabilität in der Welt.

"Wenn die deutsche Wirtschaft in Indien investiert, dann tut sie das zum Nutzen Deutschlands"

Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder beim deutsch-indischen Wirtschaftsforums am 6. Oktober 2004

Bundeskanzler Gerhard Schröder Herr Präsident Munjal,
Herr Präsident Modi,
Herr Präsident Noorami,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Den indischen Wirtschaftsverbänden und der Deutsch-Indischen Handelskammer danke ich ganz herzlich für die Gastfreundschaft, die Sie nicht nur mir, sondern auch meiner Delegation hier gewähren, und für den sehr sehr freundlichen Empfang. Ich bin sehr gern wieder nach Indien gekommen, weil Indien ein wichtiger Partner Deutschlands in ökonomischen Fragen, aber sicher auch in politischen Fragen ist, und das seit langer Zeit.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern wird von immer größerer Bedeutung. Indien kann auf eine erfolgreiche ökonomische Entwicklung in den vergangenen 10 Jahren blicken. Es ist sicher kein Zufall, dass Premierminister Singh diese ökonomische Entwicklung in seiner Zeit als Finanzminister angestoßen hat. Von daher kann jeder darauf bauen, dass die Öffnung der Märkte und diese günstige ökonomische Entwicklung auch in seiner Zeit als Premierminister weitergehen werden. Grundlage dieses Erfolges war die Öffnung der indischen Wirtschaft nach außen. Mit mutigen Wirtschaftsreformen konnte das Land in den vergangenen Jahren hohe Wachstumsraten erzielen. Auch im vergangenen Jahr hat Indien in einem weltwirtschaftlich noch schwierigem Umfeld mit über 8 % einen Spitzenplatz beim Wachstum eingenommen.

Wie gesagt: Ich bin mir ganz sicher, dass der Ministerpräsident diesen erfolgreichen Reformprozess fortsetzen wird. Ziel dieses Prozesses ist es auch durch ausländische Direktinvestitionen die Modernisierung des Landes und der Wirtschaft voranzubringen. Das liegt übrigens im wohlverstandenen beiderseitigen Interesse. Wenn die deutsche Wirtschaft, und zwar quer durch alle Größenordnungen, in Indien investiert, dann tut sie das, um die Wirtschaft und das Land voranzubringen. Sie tut es aber auch, um auf einem wachsenden Markt zum Nutzen Deutschlands präsent sein zu können. Auf diese Weise eine "Win-Win-Situation" herzustellen, ist für beide Seiten wichtig und kann für beide Seiten ein großer Erfolg werden.

Dabei weise ich mit einem gewissen Stolz gern auf eines hin: Wir sind ja auch als Deutsche im Wettbewerb auf den Märkten der Welt. Unsere Stärke - und das wird in den Märkten mehr und mehr gesehen - beruht auf dem Willen und der Fähigkeit der deutschen Wirtschaft, nicht nur Märkte zu erobern, sondern fair in diesen Märkten präsent zu sein. Fair heißt, nicht nur Produkte zu verkaufen, sondern auch an Technologien teilhaben zu lassen. Dieser Vorteil, den die deutsche Wirtschaft bietet - neben dem, was sie auf dem Sektor der Ausbildung leistet; denn dort hat die deutsche Wirtschaft einzigartige Erfahrungen -, qualifiziert sie in besonderem Maße für die sich entwickelnden Märkte, und Indien ist ohne Zweifel ein solcher.

Übrigens hat das Engagement deutscher Unternehmen in Indien eine gute Tradition. So hat vor rund 140 Jahren Siemens die erste Telegraphenverbindung von Kalkutta nach London gebaut. Ich fand es interessant, dass Sie, Herr Präsident, darauf hingewiesen haben, dass Indien der größte Markt für Unterhaltung ist, insbesondere für die Produktion von Filmen. Dass dies in Deutschland bekannt ist, zeigt die Präsenz von Herrn Schmidt-Holtz von Bertelsmann in meiner Delegation. Erfolgreicher Neueinsteiger im indischen Markt ist aber auch das Unternehmen Giesecke & Devrient, dessen neuen indischen Hauptsitz ich heute eröffnen werde. Das Unternehmen ist Hauptlieferant von Banknotenpapier und Sicherheitsmerkmalen für die indische Währung und für indische Reisedokumente. Auch das zeigt ein Maß an großem Vertrauen.

Meine Damen und Herren, gelegentlich wird noch eine zurückhaltende Investitionsbereitschaft von deutschen Firmen in Indien beklagt. Es ist gewiss zutreffend, dass sich deutsche Firmen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs natürlich im Schwerpunkt in Osteuropa engagiert haben. Aber aufgrund der dynamischen Entwicklung Ihres Landes, der indischen Wirtschaft also, gewinnt ihr Land mehr und mehr Anziehungskraft. Diese Chance der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wollen wir verstärkt nutzen - wie gesagt: im beiderseitigen Interesse. Der Handel hat sich erfreulich entwickelt. Er lag im vergangenen Jahr erstmals über 5 Milliarden Euro. Experten halten eine Verdoppelung des Handelsvolumens in den nächsten fünf bis sieben Jahren für möglich. Ich glaube, dass das realistisch ist angesichts der Wachstumsraten, die es in Indien gibt.

Deutschland ist stark, was Investitionen in der Infrastruktur angeht. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Präsident, dass Sie auf den Osten Deutschlands hingewiesen haben und auf die Leistungen, die dort erbracht worden sind. Es ist wahr: Wir haben dort Gewaltiges geleistet, was die Herstellung von Infrastruktur angeht. Daraus geht hervor, dass wir in Deutschland über beachtliche Planungskapazitäten und Erfahrungen in der Erstellung der Infrastruktur verfügen, die wir hier einsetzen können. Natürlich gibt es die Möglichkeit, mit der Deutschen Bahn AG zusammenzuarbeiten, die über erhebliche Erfahrungen sowohl in der Planung als auch im Betrieb verfügt. Weil Sie Flugplätze erwähnt haben: Es gibt deutsche Unternehmen, vorneweg Hochtief, die z. B. den neuen Flughafen in Athen hergerichtet haben, damit die Olympischen Spiele auch erfolgreich stattfinden konnten. Wir sollten auch überlegen, was wir tun können für die Kooperation bei den Finanzdienstleistungen, auch bei den Versicherungen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, eine ganz besonders wichtige wirtschaftspolitische Initiative ist in Indien die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Sie haben Recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass diese Unternehmen in Deutschland das Rückgrat einer sehr erfolgreichen Wirtschaft bilden. Sie stellen rund 70 % aller Arbeitsplätze und die Hälfte der gesamten Wertschöpfung in Deutschland. Für diese Unternehmen gibt es einige Punkte, die besonders wichtig sind: Es ist zunächst eine schnelle und effiziente öffentliche Verwaltung, und das betrifft natürlich gerade die Auslandsinvestitionen. Denn diese Unternehmen haben nicht das Kapital, um langwierige Genehmigungsverfahren für Investitionsprojekte vorzufinanzieren. Also hier ist Effizienz und Schnelligkeit bei den Entscheidungen, wenn man eine ähnliche Struktur erreichen will, von enormer Bedeutung. Ich finde es gut, dass der Ministerpräsident angekündigt hat, die Wettbewerbsfähigkeit gerade kleiner und mittlerer Unternehmen zu stärken. Für den deutschen Mittelstand eröffnet das gute Kooperationschancen, übrigens nicht nur in den traditionell mittelständisch geprägten Bereichen, wie dem Maschinen- und Werkzeugbau, sondern auch was die Zukunftsmärkte angeht, etwa die Biotechnologie. Auf Initiative des deutsch-indischen Runden Tisches und der deutsch-indischen Kammer wird deshalb im kommenden Februar eine Mittelstands-Delegation nach Indien kommen, um diese Zusammenarbeit zu vertiefen.

Man kann, meine Damen und Herren, heute nicht über die Wirtschaftsbeziehungen zu Indien sprechen, ohne auf die außerordentlich wichtige Rolle hinzuweisen, die das Land im WTO-Zusammenhang hat. Sie wissen: Deutschland setzt sich seit langem intensiv dafür ein, dass die Doha-Welthandelsrunde ein Erfolg wird. Wir sind davon überzeugt, dass wir als ersten Schritt die Agrarexportsubventionen zum Verschwinden bringen müssen. Aber auch den Abbau anderer Subventionen müssen wir vorantreiben. Deutschland ist dazu bereit.

Im Juli haben die Handelsminister der WTO ein wichtiges Zwischenziel erreicht, das zu einer neuen Dynamik in den Verhandlungen geführt hat. Wir brauchen nun eine gemeinsame Anstrengung aller WTO-Mitglieder, um bis zum Treffen im Dezember nächsten Jahres in Hongkong weitere Fortschritte zu erzielen. Indien ist herausragend wichtig, weil seine Stimme insbesondere bei den Schwellenländern, aber auch bei den Ländern der Dritten Welt enormes Gehör findet. Dabei wird es um die Senkung von Industriezöllen und um den Dienstleistungsbereich gehen, der internationaler werden muss. Wir setzen auch hier - wie im Agrarbereich - auf die konstruktive Rolle Indiens.

In einer globalisierten Wirtschaft muss eine Organisation wie die WTO eine Schlüsselrolle einnehmen, weil multilaterale Handelssysteme allen anderen Systemen überlegen sind und sie auch gerechter sind. Denn wenn sich in den Handelsfragen immer nur die Stärksten aus den Weltregionen verbinden, dann geht das zu Lasten der schwächsten und der ärmsten Länder, und das können beide Seiten auf Dauer nicht aushalten. Mit einem multilateralen Weg dienen wir nämlich nicht nur unseren Volkswirtschaften, sondern wir ermöglichen es vielen Menschen, sichtbar und fühlbar an den Früchten der Globalisierung teilhaben zu können - an den Chancen der Globalisierung, die größer sind als die Risiken.

Ich glaube, wenn wir in diesem Sinne hier unsere politischen und wirtschaftlichen Gespräche führen und wir unsere Zusammenarbeit so stärken, wie wir es seinerzeit vereinbart haben - also dass wir uns möglichst jährlich in Indien oder in Deutschland sehen, um auftauchende Probleme zu besprechen und zu Lösungen zu kommen -, dann wird das eine Zusammenarbeit, die für beide Seiten von noch größerem Erfolg gekrönt sein wird, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist.

Quelle: Homepage der Bundesregierung: www.bundesregierung.de


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