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West-östliche Gehilfin

Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ist ein einflußreicher Think-Tank im Interesse von Konzernen und Politik. Ihre strategische Präferenz zugunsten einer transatlantischen oder einer deutsch-russischen Kooperation ist noch ungeklärt

Von Jörg Kronauer *

Die Geopolitik kehrt zurück, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Die globale Konkurrenz um knappe Rohstoffe sei in den letzten Jahren immer schärfer geworden. »Schon bald« würden sich »Weltpolitik und Weltwirtschaft hauptsächlich um die Versorgungslage auf unserem Planeten drehen«. Dann könnten die Staaten, »die die stärkste Wirtschaft haben« und die deshalb heute die Weltpolitik dominierten – die USA und die führenden europäischen Staaten –, womöglich von denjenigen Ländern in die Schranken gewiesen werden, »die die von anderen begehrten Bodenschätze besitzen«. »Bodenschätze und die Größe des Territoriums« würden »wieder zu den wichtigsten geopolitischen Aktiva eines Staates«, und das käme ganz besonders Rußland und China zugute. »Die internationale Politik wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer stärker von traditionellen geopolitischen Überlegungen geprägt«, heißt es im jüngsten Jahresbericht der DGAP. Dabei änderten sich die Kräfteverhältnisse, beschleunigt durch die Krisen der letzten Zeit, mit höchster Geschwindigkeit. Deutschland und die EU reagierten viel zu träge: »Die weltpolitischen Gewichte verschieben sich schneller, als man es in Europa wahrzunehmen bereit ist«.

Die »Rückkehr der Geopolitik« und die Bedeutung von Rohstoffen und Energie ist in den Jahren 2011 und 2012 einer der Themenschwerpunkte der DGAP gewesen. Daneben befaßte sich der Berliner Außenpolitik-Think-Tank mit diversen weiteren weltpolitischen Großbaustellen, von den Umbrüchen in der arabischen Welt über die Euro-Krise bis zu den jüngsten Entwicklungen im transatlantischen Bündnis. Die DGAP mit ihren Diskussionsforen, ihren Publikationen und ihrem Forschungsinstitut spiele, so hat es ihr Präsident Arend Oetker einmal beschrieben, »eine wichtige Rolle bei der wissenschaftlichen Vorbereitung, der kritisch-konstruktiven Begleitung und der auch öffentlichen Erläuterung deutscher Außenpolitik«. Zudem bietet sie Raum, um jenseits offiziell-verbindlicher Beziehungen den Austausch mit außenpolitischem Personal anderer Staaten zu pflegen. Das ermöglicht es ihr, selbst heikle Fragen anzuschneiden, deren offizielle Behandlung leicht zu Streit auf Regierungsebene führen könnte. Mit dieser umfassenden Zielsetzung ist die DGAP 1955 gegründet worden, in dem Jahr also, in dem die Bundesrepublik wieder außenpolitische Souveränität erhielt. Vorbilder und in die Gründungsvorbereitung involviert waren zwei berühmte westliche Außenpolitik-Institute: das schon 1920 gegründete Londoner Chatham House und der 1921 ins Leben gerufene US-amerikanische Council on Foreign Relations.

Monopole bezahlen

Die DGAP, die sich außerhalb der Bundesrepublik ganz unbescheiden nach ihrem großen US-Vorbild »German Council on Foreign Relations« nennt, bezeichnet sich selbst als »das nationale Netzwerk für Außenpolitik«. Tatsächlich wird sie seit ihrer Gründung von all denjenigen Teilen des bundesdeutschen Establishments getragen, die für die Gestaltung der Bonner bzw. der Berliner Außenpolitik maßgeblich sind: von der Wirtschaft, die die ökonomischen Interessen formuliert und realisiert; von der Politik, die den strategischen Rahmen dafür schafft und die globale Stellung Deutschlands machtpolitisch stärkt, und von der Wissenschaft, die die nötigen Erkenntnisse bündelt und das außenpolitische Produkt dem Publikum in möglichst wohlklingenden Phrasen verkauft. Als die DGAP 1955 gegründet wurde, waren faschismuserfahrene Wirtschaftsbosse wie Hermann Josef Abs, Fritz Berg oder Robert Pferdmenges, bekannte Wissenschaftler und Politiker der großen Parteien sowie Kanzleramt und Auswärtiges Amt führend beteiligt – letzteres vor allem über den einstigen Nazi-Völkerrechtler und BRD-Diplomaten Wilhelm Grewe. Bis heute sind Wirtschaft, Politik und Wissenschaft in den Spitzengremien der DGAP prominent vertreten, ergänzt um einige einflußreiche Medienvertreter etwa von der FAZ.

Die breite Verankerung der DGAP spiegelt sich in ihrem Haushalt wider, was zu erwähnen wichtig ist. Denn wer zahlt, bestimmt bekanntlich die Musik. Zwar erhielt der Think-Tank, der über 30 Außenpolitikexperten beschäftigt, zuletzt rund 750000 Euro jährlich an festen Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt sowie weitere staatliche Projektgelder. Doch entstammt ein großer Teil der zuletzt fast 2,7 Millionen Euro an Projektmitteln den Töpfen privater Stiftungen, darunter diverse Konzernstiftungen. Weit stärker als die Mitgliedsbeiträge (knapp 380000 Euro bei aktuell 2500 Mitgliedern) fallen die Zuwendungen aus dem Förderkreis der DGAP ins Gewicht (640000 Euro), der im Jahr 1955 von 53 bundesdeutschen Unternehmen gegründet worden ist. Zu den Förderern der DGAP gehörte auch im Jahr 2011 die Crème de la crème der deutschen Industrie, wobei die Gelder teilweise über die jeweiligen Konzernstiftungen bereitgestellt wurden. Gelder kamen etwa von Bosch, RWE, Siemens und Volkswagen, auch von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall und EADS. Als Geldgeber wurden jedoch auch der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds und die Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit herangezogen, die beide eigentlich nicht zur Optimierung der deutschen Außenpolitik gegründet wurden, sondern zur Förderung der Verständigung zwischen den Bevölkerungen der jeweiligen Länder.

Manchmal bezahlen Wirtschaftskreise sogar die Gründung eines kompletten, besondere Interessen bedienenden DGAP-Instituts. Das »Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen« etwa wurde 2006 mit Mitteln der »Alfred Freiherr von Oppenheim-Stifung« aufgebaut, hinter der das Kölner Bankhaus Sal. Oppenheim steckt. Das Zentrum will »Impulse für die Weiterentwicklung der außenpolitischen Rolle der Europäischen Union setzen und Empfehlungen für die deutsche Europapolitik geben«. Mehrere Angehörige der Bankiersfamilie haben zu demselben Zweck an teils führender Stelle in der DGAP gewirkt; der Namensgeber des Zentrums, Alfred Freiherr von Oppenheim, amtierte von 2003 bis zu seinem Tod 2005 sogar als Präsident der DGAP. Die europäische Integration, die bereits DGAP-Gründungsmitglied Friedrich Carl von Oppenheim mit vorangetrieben hat, brachte der deutschen Wirtschaft beträchtliche Gewinne; auch die Kölner Bank Sal. Oppenheim profitierte davon.

Die DGAP entfaltet beachtliche Aktivitäten. Sie betreibt nicht nur ein Forschungsinstitut, eine Spezialbibliothek und aktuell zehn Forschungsprogramme; sie organisiert zudem jährlich rund 250 Vorträge, Konferenzen, Podiumsdiskussionen und Kamingespräche – die Mehrheit davon in ihrer Zentrale in der Berliner Rauchstraße 17/18. Das Grundstück war bis 1938 im Besitz der jüdischen Familie Mendelssohn Bartholdy gewesen, die es dann für einen Bruchteil seines Wertes verkaufen mußte. Das heutige Gebäude wurde 1938 bis 1940 unter Leitung des Olympiastadion-Architekten Werner March als Teil des geplanten Diplomatenviertels der Nazi-»Hauptstadt Germania« errichtet. 1940 zog – aus bekannten Gründen nur für kurze Zeit – die Gesandtschaft des Königreichs Jugoslawien ein. Die DGAP residiert seit ihrem Umzug aus Bonn im Jahr 1999 in dem Gebäude und weiß die Standortvorzüge zu schätzen. Man habe seinen Sitz »unweit des Regierungsviertels und in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Vielzahl diplomatischer Vertretungen«, schwärmt die DGAP. Das ist nicht nur für das Alltagsgeschäft nützlich, sondern auch dann, wenn außenpolitische Prominenz aus dem Ausland zu Gesprächen mit deutschen Regierungsstellen in Berlin weilt. Der übliche Abstecher zur DGAP, bei der ein ausgewähltes Multiplikatorenpublikum informiert und der Austausch in ungezwungenem Rahmen fortgesetzt werden kann, läßt sich ohne besonderen Aufwand erledigen.

Suche nach der »großen Linie«

Die Beschäftigung mit »Geopolitik« und mit den großen weltpolitischen Kräfteverschiebungen hat in der DGAP recht unterschiedliche Ansätze zu den »großen Linien« der deutschen Außenpolitik hervorgebracht. Klar ist: Deren traditionelle Pfeiler, die europäische Integration und das transatlantische Bündnis, werden weiterhin gestärkt. Die DGAP unterhält eigens ein Forschungsprogramm mit dem Titel »Frankreich/Deutsch-französische Beziehungen«, das die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Berlin und Paris kontinuierlich mit Veranstaltungen und Publikationen begleitet. Von Zeit zu Zeit warnt die DGAP vor Schritten der französischen Politik, die sie als nachteilig für Deutschland einstuft. Im August 2012 etwa analysierte sie den Ausbau der militärischen Zusammenarbeit zwischen Paris und London, der offenkundig darauf abzielt, die Berliner Dominanz über die EU zumindest in der Kriegführung zu brechen. Die DGAP nannte die britisch-französische Kooperation eine neue »Entente Cordiale«; der Begriff bezeichnet ursprünglich das französisch-britische Bündnis von 1904, das sich im Ersten Weltkrieg zum deutschen Kriegsgegner entwickelte. Das neue Bündnis müsse gebrochen werden, riet der Berliner Think-Tank.

Selbstverständlich unterhält die DGAP auch ein Programm mit dem Titel »USA/Transatlantische Beziehungen«. Es wird, vielleicht nicht ganz zufällig, von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Deren Vorsitzender Manfred Schneider war von 1992 bis 2002 Vorstands- und von 2002 bis 2012 Aufsichtsratschef des Leverkusener Bayer-Konzerns; sein Nachfolger als Bayer-Vorstands- (2002 bis 2010) und Aufsichtsratschef (ab 2012), Werner Wenning, ist als stellvertretender Vorsitzender ebenfalls für die Thyssen Stiftung aktiv. Bayer gibt an, in den Vereinigten Staaten und Kanada fast ein Viertel des gesamten Konzernumsatzes zu erzielen; die US-Abteilung sei, heißt es, mit ihren rund 16000 Angestellten »die größte im Konzern«. Trotz des Chinabooms gilt das auch für den Stahlhersteller ThyssenKrupp. Für das Unternehmen, aus dessen einem Teil einst die Thyssen Stiftung hervorging, sind die USA der größte Auslandsmarkt, auf dem immerhin 17 Prozent des gesamten Konzernumsatzes erzielt werden. Trotz alledem ist in der DGAP, deren Präsident Arend Oetker übrigens ebenfalls als stellvertretender Vorsitzender der Fritz Thyssen Stiftung wirkt, die vorrangige Bindung an die USA nicht mehr unumstritten. Selbst einflußreiche Berater der deutschen Außenpolitik stellen sich ihr entgegen.

Ein Beispiel. Eberhard Sandschneider ist Direktor des DGAP-Forschungsinstituts und unter anderem mit China befaßt. Sandschneider warnt, in den USA bereiteten sich Strategen auf militärisch eskalierende Konflikte mit der Volksrepublik vor. Kämpfe Europa in einem solchen Konflikt zur Sicherung seiner globalen Macht an der Seite der Vereinigten Staaten, dann könne das in die Katastrophe führen. Statt dessen solle die EU sich von den USA »emanzipieren«. Sandschneider hat 2011 ein Buch mit dem erstaunlichen Titel »Der erfolgreiche Abstieg Europas« publiziert. Darin plädiert er dafür, nicht um jeden Preis an der Weltherrschaft des Westens festzuhalten, sondern auf eine »multipolare Weltordnung« hinzusteuern. Selbst wenn zunächst Machtverluste entstünden, könnten Berlin und die EU auf diesem Wege langfristig eine globale Machtposition sichern. »Gelungene Abstiege schaffen Stabilität und sichern Frieden und Zusammenarbeit«, wirbt der DGAP-Experte. Ist sein Konzept ein Friedensplan? Wohl kaum. »Kein Staat« mache »internationale Zugeständnisse«, schreibt Sandschneider, »ohne entsprechende Gegenleistungen erwarten zu können«. In der EU müsse Deutschland die »Führung« übernehmen. Bundeswehreinsätze sollten »integraler Bestandteil deutscher Außenpolitik bleiben«; entsprechend müsse aufgerüstet werden. Einsparen könne man statt dessen die Entwicklungshilfe; sie sei »durch eine konsequente Interessenpolitik« zu ersetzen. Sollten die Schwerpunkte der deutschen Wirtschaft sich auch weiterhin weg vom Atlantik in Richtung China verschieben, dann könnte Sand­schneider starke Zustimmung von den deutschen Eliten erhalten.

Ein zweites Beispiel. Alexander Rahr ist ein einflußreicher Rußland-Experte. Rahr, der selbst aus einer exilrussischen Familie stammt, wurde im Jahr 1994 Mitarbeiter der DGAP und baute dort das »Rußland/Eurasien-Zentrum« auf. In seinem 2011 veröffentlichten Buch »Der kalte Freund« beschreibt er es als »Zentrum für Analysen und Begegnungen zwischen den außenpolitischen Eliten Deutschlands und Rußlands«. Rahr ist ein starker Befürworter einer deutsch-russischen Kooperation. Er verfügt über beste Kontakte nach Moskau und hat sich nicht zuletzt als Putin-Biograph einen Namen gemacht. »Warum wir Rußland brauchen«, lautet der Untertitel seines Bandes »Der kalte Freund«. Rahrs Antwort lautet: »Europa ist von Lissabon bis Wladiwostok durch das Christentum geprägt und durch eine gemeinsame Geschichte verbunden. Zusammen mit Rußland würde Europas Binnenmarkt 750 Millionen Menschen umfassen.« Rußland sei damit »wichtig, um weiterhin Wohlstand in Europa generieren zu können«. »Einmal mehr« müsse nun also »die Wirtschaft der Vorreiter zur Verbindung eines gemeinsamen Zivilisationsraumes sein«.

Mit Schröder prorussisch

Von der Wirtschaft ist Rahr tatsächlich immer wieder unterstützt worden, wenn er seine Tätigkeit bei der DGAP zu nutzen suchte, um die deutsch-russische Kooperation zu intensivieren. Die Ursache kann man im jüngsten DGAP-Jahresbericht nachlesen und zwar im Kapitel über die »Rückkehr der Geopolitik«. »Von seinen Bodenschätzen her ist Rußland das reichste Land der Erde«, heißt es dort: Es »besitzt und liefert all die Rohstoffe, die für ein Funktionieren der EU-Wirtschaft benötigt werden«. Das wirft die Frage auf, ob eine engere Zusammenarbeit mit Moskau nicht zwingend ist, zumal dann, wenn sich Rußland auch zu einem lukrativen Absatzmarkt für deutsche Industrieprodukte entwickelt. Die Spannungen gegenüber Moskau, die Ende der 1990er Jahre zu verzeichnen waren, paßten der deutschen Wirtschaft in der Tat nicht ins Konzept. »Im Frühjahr 2000 wurde der neue Kanzler [Gerhard Schröder, J.K.] von den führenden Kapitänen der deutschen Wirtschaft nach Rußland ›getrieben‹«, berichtete Rahr im Rückblick. Als Rußland-Experte der DGAP zählte er damals, als Berlin und Moskau ihre Rohstoffgeschäfte und ihren Warenaustausch gewaltig intensivierten, zu Schröders zentralen Beratern. Die Konzerne dankten es ihm: Im Jahr 2008 wurden der Ost-Ausschuß der deutschen Wirtschaft und die Deutsche Bank die Hauptfinanziers von Rahrs »Rußland/Eurasien-Zentrum«, das zum 1. Juli 2010 den Namen »Berthold-Beitz-Zentrum« erhielt. Beitz, lange führender Kopf bei Krupp, sollte für seine Verdienste beim Ausbau des deutsch-sowjetischen Handels seit den 1950er Jahren geehrt werden. Finanzierten der Ost-Ausschuß und die Deutsche Bank das »Beitz-Zentrum« 2010 bereits mit je 100000 Euro im Jahr, so sind inzwischen auch Gazprom und die russische Botschaft als Förderer eingestiegen.

Rahr, der 2003 das Bundesverdienstkreuz für seine Mitwirkung am Ausbau der deutsch-russischen Kooperation erhalten hat, hat 2012 die DGAP verlassen. Hintergrund scheint der Streit über die »großen Linien« der deutschen Außenpolitik gewesen zu sein. Soll sich Berlin wirklich eng an Rußland binden? Historisch gesehen ist die Berliner Machtpolitik im Bündnis mit Moskau oft erfolgreich gewesen. Im 19. Jahrhundert gelang es zunächst gemeinsam, Napoleon niederzuwerfen; 1871 ging die Reichseinigung auch deswegen glatt über die Bühne, weil Rußland keine Einwände hatte. Die geheime Aufrüstung Deutschlands in der Sowjetunion der 1920er und der frühen 1930er Jahre ist bekannt. Allerdings kollidiert die deutsch-russische Variante der Berliner Machtpolitik mit ihrer transatlantischen Version, da die USA einem Bündnis mit Rußland eindeutig abgeneigt sind. Das wiederum hat zur Folge, daß die transatlantische Fraktion in Berlin die prorussische stets in Schach zu halten versucht. Rahr ist offenbar zu weit vorgeprescht. Seine »deutschen Kollegen«, schrieb im Juni 2012 die russische Tageszeitung Kommersant nach einem Gespräch mit ihm, hätten ihn »oft für eine übermäßig kremlloyale Haltung kritisiert«. Rahr habe die DGAP daher »enttäuscht« verlassen. Heute arbeitet er als Berater für die BASF-Tochter Wintershall, die ein enger Partner von Gazprom in der russischen Erdgasproduktion ist.

Wie entwickeln sich die Dinge weiter? Bleibt es beim transatlantischen Bündnis? Geht Berlin doch wieder stärker auf Moskau zu, um den Bedürfnissen einer bestimmten Wirtschaftsfraktion und der von der DGAP konstatierten »Rückkehr der Geopolitik« Rechnung zu tragen? Und wie soll auf den Aufstieg Chinas reagiert werden? Weitreichende und sehr komplexe Fragen stellen sich zuhauf. »Wir ahnen ja doch nur alle etwas von den tektonischen Verschiebungen in der Weltpolitik«, äußerte Christoph Bertram, von 1997 bis 2005 Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und langjähriges Mitglied der DGAP, am 26. Oktober 2010 in einer Rede anläßlich einer feierlichen Veranstaltung in der Essener Villa Hügel. Man müsse sich mit den »kommenden, schwierigen Auseinandersetzungen mit den neuen Großmächten« genauso befassen wie mit dem »Wettbewerb um Ressourcen«. Man habe »mit engen Partnern das Ziel zu definieren«, »bestehende Koalitionen ... zu beleben, neue zu schmieden«; Deutschland komme »eine besondere Führungsverantwortung« in Europa zu. Darauf aber sei die Bundesrepublik nicht hinreichend vorbereitet. Es müsse »erst einmal das nötige mentale Fundament geschaffen werden«: »das Bewußtsein von der Notwendigkeit eines nachhaltigen, breiten und möglicherweise auch Opfer verlangenden Gestaltungsehrgeizes«.

Junge Garde der Außenpolitik

Wer aber soll ein solches Bewußtsein inklusive Opferbereitschaft schaffen? Das angemessene Forum dafür, urteilte Bertram, sei die DGAP. Die Veranstaltung in der Villa Hügel, auf der er seine Rede hielt, war die Gründungsfeier für die »Stiftung der DGAP für Auswärtige Politik«, die auf lange Sicht den finanziellen und politischen Spielraum des Think-Tanks erweitern soll. Die DGAP müsse allerdings nicht nur die deutsche Debatte fördern, hieß es in der Denkschrift zur Gründung der Stiftung; sie stehe zugleich »in einem globalen Wettbewerb um Ideen, um die Entwicklung von Gestaltungsmöglichkeiten« und konkurriere dabei mit Think-Tanks anderer Staaten. Die Stiftung solle deshalb einerseits »die Wettbewerbsfähigkeit der DGAP fördern«, andererseits »die Strahlkraft« der von ihr »angestoßenen Debatten in Politik, Medien und Öffentlichkeit« in der Bundesrepublik verstärken. Erste größere Beträge für die Stiftung stellten zwei Konzerne bereit, die von einer außenpolitischen Machtentfaltung Deutschlands zweifellos erheblich profitieren würden – die Deutsche Bank und EADS.

Die DGAP-Spitze treibt den Ausbau der Stiftung sowie weitere Maßnahmen, um ein Bewußtsein für die »Notwendigkeit eines möglicherweise auch Opfer verlangenden Gestaltungsehrgeizes« zu schaffen, mit Macht voran. 2008 hat sie eine Nachwuchsorganisation gegründet. Die »Junge DGAP« steht allen Interessierten im Alter unter 35 Jahren offen und soll »dem außenpolitischen Nachwuchs den Einstieg in das Netzwerk der DGAP erleichtern«. »Die Gründung der Jungen DGAP war ein erster, wesentlicher Schritt, eine neue außenpolitische Elite zu fördern«, urteilt der Think-Tank. Der Schritt war erfolgreich: Es ist inzwischen gelungen, 700 neue Mitglieder für die Junge DGAP zu werben. Zusätzlich bemühen sich DGAP-Experten immer mehr um Medienpräsenz zur Verstärkung der öffentliche Debatte. Darüber hinaus wird die Zeitschrift Internationale Politik, die von der DGAP herausgegeben wird, seit einigen Jahren auch am Bahnhofskiosk verkauft. Deren Beiträge richten sich an ein breiteres Publikum und sollen der außenpolitischen Diskussion neue Bevölkerungsschichten erschließen.

Welche innenpolitischen Zumutungen das außenpolitische Establishment in der Debatte über die Optionen deutscher Machtpolitik mittlerweile in Betracht zieht, das läßt ein Beitrag des Berliner Politikprofessors Herfried Münkler erahnen, der im Mai 2010 in der Internationalen Politik erschienen ist. Unter dem Druck der weltweiten Konkurrenz sei ein »sich ausbreitendes Unbehagen an der Demokratie« zu spüren, schrieb Münkler: Es gebe »Manager und Industrielle«, die meinten, mit einer Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen »schneller zum Zuge zu kommen«. Daß demokratische Verfahren zuweilen etwas langsam und umständlich seien, verleihe »dem Spiel mit der Diktatur eine gewisse Attraktivität«. Der manchmal zu verspürende Wunsch nach »ein klein wenig Diktatur« knüpfe, schrieb Münkler, an den NS-Kronjuristen Carl Schmitt an, der neben der »totalen« auch eine zeitlich-inhaltlich begrenzte, »kommissarische« Diktatur skizziert habe: »Wenn heute verschiedentlich von diktatorischen Befugnissen und Maßnahmen die Rede ist, dann zumeist im Sinne dessen, was Schmitt als kommissarische Diktatur bezeichnet hat«. Münkler schloß seinen Beitrag (Titel: »Lahme Dame Demokratie«) in der renommierten DGAP-Zeitschrift mit der bemerkenswerten Mitteilung: »Es gibt bloß kein Verfassungsorgan, das sich auf das Risiko der Einsetzung eines kommissarischen Diktators einlassen will.«

* Jörg Kronauer ist Sozialwissenschaftler, freier Journalist und Redakteur bei german-foreign-policy.com. Am 20. Dezember schrieb er an dieser Stelle über die Stiftung Wissenschaft und Politik.

Aus: junge Welt, Donnerstag, 17. Januar 2013



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