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Taktische Atomwaffen – keine Abrüstungsverhandlungen in Sicht

Ein Interview mit Prof. Andrei Zagorski in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *

Andreas Flocken (Moderator der Sendung):
Nach der Ratifizierung des neuen START-Vertrages über strategischen Waffen sind inzwischen die Nuklearsysteme kürzerer Reichweite ins Blickfeld gerückt. Bei diesen taktischen Atomwaffen gibt es ein Ungleichgewicht zugunsten Russlands. Daher hat der US-Senat Präsident Obama aufgefordert, dies durch Verhandlungen zu ändern. Doch ist Moskau dazu bereit? Darüber habe ich mit Andrei Zagorski gesprochen. Er arbeitet an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Vor einigen Wochen hat der Rüstungskenner eine Studie über die taktischen Atomwaffen in Russland veröffentlicht. Ich habe Andrei Zagorski zunächst gefragt, wie viele taktische Atomwaffen Russland zurzeit besitzt:


Interview Flocken / Prof. Zagorski

Zagorski: Die genaue Zahl hat man nicht, weil sie offiziell nicht bekannt gegeben wird. Was wir wissen: in den letzten zwanzig Jahren ist in diesem Bereich sehr stark abgerüstet worden. In Russland und in den USA. In Russland wurde die Zahl dieser Waffen um ungefähr drei Viertel gekürzt. Aber es bleiben weiterhin mindestens 2.000 einsatzfähige Waffen. Darüber hinaus gibt es noch 1.000 bis 2.000 Sprengköpfe, die nicht einsatzfähig sind, aber weiterhin gelagert werden, in Depots neben der Atomwaffenfabrik oder in anderen Depots in Russland. Also, es gibt insgesamt 2.000 bis 4.000 taktische Atomwaffen. Eine relativ große Zahl, größer als die der USA. Aber man geht davon aus, dass die Zahl weiter reduziert wird.

Flocken: In der NATO und in den USA wird ja oft beklagt, es gebe in Russland keine Transparenz bei den taktischen Atomwaffen. Gibt es diesen Vorwurf zu Recht?

Zagorski: Der ist berechtigt. Der Vorwurf gilt aber weitgehend auch für die USA. Denn man weiß auch dort nicht ganz genau, wie viele taktische Atomsprengköpfe die Amerikaner haben. Man geht aber davon aus, dass es viel weniger sind.

Flocken: Wie viele?

Zagorski: Man rechnet mit ungefähr 700 Sprengköpfen, die nicht allein in Europa gelagert werden. Dort werden 180 Atombomben gelagert. Es gibt in dieser Hinsicht keine öffentliche Transparenz. Es gibt hierzu keine öffentlich zugänglichen Daten. Die Amerikaner sagen inzwischen zwar etwas mehr, aber auch nicht alles. Es gab aber in den neunziger Jahren insbesondere auf Grund von parallelen unilateralen Initiativen der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands, Gespräche zwischen Russland und den USA, bei denen man Daten ausgetauscht haben soll. Daten darüber, wie die Reduzierungen vorankommen. Außerdem soll es soll bis 1999 Gespräche zwischen Russland und der NATO im damaligen permanenten Russland-Nato-Rat gegeben haben, wo man Informationen ausgetauscht haben soll. Aber die taktischen Waffen unterliegen keinerlei Kontrolle. Es gibt keinerlei Abkommen, die diese Waffen beschränken oder reduzieren oder Transparenz-Maßnahmen vorsehen. Und aus diesem Grunde gibt es keinen umfassenden Austausch von Daten.

Flocken: Es heißt, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verfügte Russland bzw. damals die Sowjetunion über bis zu 15.000 taktische Atomwaffen. Nach dem Fall der Mauer hat es also eine klare Tendenz zur Vernichtung eines Großteils dieser Waffen gegeben.

Zagorski: Es war eine ganz deutliche Tendenz. Nach Angaben der Verteidigungsministeriums sind drei Viertel der Waffen vernichtet worden. Es gab unterschiedliche Raten für unterschiedliche Teilstreitkräftebestände die reduziert werden sollten. Alle Atomwaffen des Heeres, das heißt Artilleriemunition oder Atomminen und ähnliches sind vernichtet worden. Es gibt zwar Trägersysteme, aber es gibt keine nuklearen Waffen hierfür. Die Hälfte der Atomwaffen für die Luftwaffe ist vernichtet worden oder als Reserve gelagert worden. Die Hälfte der Atomwaffen für die Marineflieger sind gelagert oder vernichtet worden. Und ein Drittel der Atomwaffen für die Marine, für die Schiffe und U-Boote sind vernichtet worden.

Flocken: In den westlichen Ländern ist häufig zu hören, nach Ende des Ost-West-Konfliktes haben taktische Atomwaffen keine militärische Funktion mehr. Sie dienten allenfalls noch der Abschreckung. Wie sieht man das in Russland? Welche Funktion haben taktische Atomwaffen heute aus russischer Sicht?

Zagorski: Die Funktion dieser Waffen hat sich ganz deutlich in der russischen Strategie gewandelt. Wir sehen das auch an der Art der Reduzierungen, die vorgenommen worden sind. Das heißt, die sogenannten Gefechtsfeldwaffen, die Atomminen, die Artilleriegeschosse sind komplett vernichtet worden. Sie werden für die gegenwärtige militärische Planung nicht mehr gebraucht. Für Russland gibt es aber nach der Nuklear-Doktrin und den Vorstellungen der Militärexperten Gründe, an diesen Waffen weiter festzuhalten. Man möchte mit den Atomwaffen die Schwäche Russlands in anderen Bereichen ausgleichen. Und zwar nicht allein im konventionellen Bereich. Russland will die meisten seiner Schwächen, zum Beispiel bei den Präzisionswaffen und den Weltraumwaffen, möglichst mit Atom-Waffen ausgleichen, und zwar in unterschiedliche Richtungen. Auf jeden Fall ganz deutlich gegenüber der NATO, wo man qualitativ und quantitativ unterlegen ist. Aber auch gegenüber China, wo Russland im konventionellen Bereich quantitativ den chinesischen Streitkräften unterlegen ist. Die Atomwaffen sollen in erster Linie der Abschreckung dienen. Auf der anderen Seite sehen die militärischen Planungen vor, dass diese Waffen auch einsatzfähig sind, für den Fall, dass Russland konventionell angegriffen wird, die Attacke aber nicht konventionell abgewehrt werden kann. Man geht davon aus, dass dann auch Atomwaffen eingesetzt werden könnten, um Kampfhandlungen zu beenden. Und da geht es in erster Linie um taktische Atomwaffen, um zu verhindern, dass man nicht sofort auf die strategische Ebene geht.

Flocken: Im vergangenen Jahr hat Moskau aber eine neue russische Militärdoktrin bekanntgegeben. Und von manchen Militärexperten im Westen wird diese so interpretiert, dass die Bedeutung der Atomwaffen abgenommen hat, auch die Bedeutung der taktischen Atomwaffen. Wie sehen Sie das?

Zagorski: Die militärische Doktrin 2010 hat eigentlich die Grundentscheidungen der früheren Doktrinen bezüglich der Atomwaffen nicht sehr stark geändert. Es gelten praktisch dieselben Formeln. Man geht von der Notwendigkeit aus, das strategische Verhältnis und die Paritäten zu den USA im Bereich strategischen Waffen beizubehalten. Gleichzeitig geht man davon aus, dass man atomare Atomwaffen einsetzen kann, um auch einen konventionellen Angriff abzuwehren, den man nicht mit konventionellen Mitteln abwehren kann. Das heißt, die Doktrin geht – eigentlich schon von 1993 an - vom Ersteinsatz von Atomwaffen aus, jedenfalls von der Möglichkeit, einen Ersteinsatz von Atomwaffen zu planen.

Flocken: Wenn Russland nun den taktischen Atomwaffen in seiner Militärdoktrin weiterhin eine wichtige Rolle zuschreibt, was bedeutet das dann für die Möglichkeiten, diese taktischen Atomwaffen in eine Abrüstungsrunde einzubringen? Ist man in Russland überhaupt noch zur Abrüstung dieser Atomwaffen bereit?

Zagorski: Es gibt kein „Nein“ auf der russischen Seite. In der Tat war Moskau bis Mitte der 90er Jahre ein Befürworter der Abrüstung im taktischen Bereich. Seit Mitte und der späten 90er Jahre hat sich in Moskau der Trend gekehrt. Es gibt aber kein „Nein“ auf der russischen Seite. Es heißt einfach, man sei noch nicht so weit, die Zeit sei noch nicht reif. Denn es geht nicht allein um das Abschaffen einer Disparität, die deutlich im Bereich taktischer Waffen besteht, sondern es geht um die Abschaffung mehrerer Disparitäten. Und wenn auch andere Disparitäten angesprochen und verhandelt werden - bei den konventionellen Waffen, bei Präzisionswaffen, bei den militärischen Mitteln im Weltraum -, dann ist Moskau auch bereit, Schritte im Bereich der taktischen Waffen vorzunehmen. Bei den letzten Verhandlungen mit den USA über den neuen START-Vertrag wurde nicht über die taktischen Waffen verhandelt. Vielleicht aber in der nächsten Runde. Der neue START-Vertrag ist ratifiziert worden und wird umgesetzt. Es ist aber noch nicht klar, wann die nächste Verhandlungsrunde beginnt. Denn beide Seiten - in erster Linie Moskau - haben eine Pause genommen. Grundsätzlich ist aber nicht ausgeschlossen, dass man in der nächsten Runde auch über die taktischen Atomwaffen verhandelt, weil die Amerikanern das ja wollen. Was aber nicht bedeuten soll, dass man auch schnell und zügig zu Entscheidungen kommt.

Flocken: Aus Moskau war im Zusammenhang mit der Ratifizierung des neuen START-Vertrages über die strategischen Atomwaffen zu hören, dass man über die taktischen Atomaffen erst reden wolle, wenn die Voraussetzungen dafür vorhanden seien. Und gemeint war damit, der Abzug der rund 200 taktischen US-Atomwaffen aus Europa, auf das Territorium der USA. Wenn der Westen dieser Moskauer Forderung nachkommen würde, wäre der Weg für Verhandlungen über taktische Atomwaffen damit aus russischer Sicht frei? Wie sehen Sie das?

Zagorski: Das ist eine vor langer Zeit formulierte russische Vorbedingung: Alle Atomwaffen von Atommächten sollen auf ihr Territorium zurück gezogen werden. Praktisch bedeutet das, dass ungefähr 180 atomare Bomben der USA zurück nach Amerika gebracht würden. Darüber hinaus fordert Moskau, dass auch die Infrastruktur für eine eventuelle Rückkehr dieser Waffen nach Europa, und zwar nicht nur in die alten NATO-Staaten, sondern eventuell auch in die neuen NATO-Staaten, ebenfalls vernichtet werden sollte - damit keine Möglichkeit besteht, dass diese Waffen zurück nach Europa verlegt werden. Erst dann ist Moskau formell bereit, über taktische Waffen, auch über eigene taktische Waffen, zu reden. Ich denke aber, wenn man die richtigen Ansätze für das Ansprechen des Problems findet ...

Flocken: ... Was sind die richtigen Ansätze?

Zagorski: Das sind die wichtigen Fragen, die auch bei der Ratifizierung des neuen START-Vertrages gestellt wurden. Man hat aus einer längeren Liste drei wichtigere Punkte betont: Einmal die Zukunft der US-Raketenabwehr, insbesondere ihre Stationierung in Europa. Zweitens, die Behandlung von neuen konventionellen Langstreckenpräzessionswaffen, die auch für strategische Zwecke eingesetzt werden können. Denn es gibt eine unterschiedliche Auslegung des neuen START-Vertrages zwischen der russischen und der amerikanischen Seite. Man ist uneinig, wie man das Thema behandeln soll. Und die dritte Frage ist die Abschaffung von Disparitäten in Bereich konventionelle Waffen in Europa, also Ungleichgewichte zwischen NATO und Russland. Diese drei Themen sind die wichtigsten Voraussetzungen für Moskau. Sie sind für Russland wichtig mit Blick auf den Fortgang der nuklearen Abrüstung von strategischen wie auch nichtstrategischer oder taktischer Waffen.

Flocken: Wie sollte sich Ihrer Meinung nach der Westen nun verhalten, um Verhandlungen über taktische Atomwaffen zu erreichen?

Zagorski: Das Problem ist bei diesen Waffen, dass sie sehr schwer kontrollierbar sind. Wenn wir von taktischen Waffen reden, müssen wir uns im Klaren sein, dass es sich um Sprengköpfe handelt und nicht um Trägersysteme. Es sind keine Schiffe, es ist keine Artillerie. Es sind Sprengköpfe, die in speziellen Depots gelagert werden. Das war aber bisher nie ein Thema der Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland im strategischen Bereich. Gefechtsköpfe, die nicht auf Raketen oder auf anderen Trägersystemen montiert waren, wurden von Kontrollmaßnahmen nicht erfasst. Sie blieben außerhalb der Berichterstattung und Überwachung. Das heißt, wir werden noch mehr Vertrauen aufbauen müssen - und Vertrauen ist das Schlüsselwort, um auch diese Systeme erfassen zu können. Zum Zweiten will Moskau natürlich deutlich sehen, dass die russischen Belange berücksichtigt und behandelt werden. Das gilt für die Beibehaltung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Und das gilt für andere Bereiche. Ein besseres politisches Klima würde zwar nicht sofort zu Rüstungskontrollgesprächen über taktische Atomwaffen führen. Aber es wäre ein Schritt zu mehr Transparenz, wenn man mindestens mit dem Austausch von Daten beginnen könnte. Das heißt, es gibt zahlreiche Dinge, die gemacht werden müssen, bevor man zu Reduzierungen und Obergrenzen bei den taktischen Nuklearwaffen kommt.

Flocken: Sehen Sie die Möglichkeit, dass es auf absehbarer Zeit zu Verhandlungen über die Reduzierung der taktischen Atomwaffen kommt? Wie ist Ihre Einschätzung?

Zagorski: Ich gehe davon aus, dass zum Ersten, diese Waffen weiterhin einseitig abgebaut werden. Zum Zweiten: wenn es zu Gesprächen kommt, sind diese Gespräche zuerst bilateral zwischen Russland und den USA. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass dann in der nächsten Runde die atomaren Gespräche mit den USA beginnen.

Flocken: Wann wird das zeitlich sein? Was glauben Sie? Zagorski: Man hat sich noch keinen Zeitrahmen gesetzt. Moskau geht aber davon aus, dass das binnen der nächsten zehn Jahre irgendwann beginnen kann, sobald Moskau sich vergewissert hat, dass der neue START-Vertrag richtig umgesetzt wird.

* Prof. Andrei Zagorski, Akademie der Wissenschaften, Moskau.

Aus: NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 21. Mai 2011; www.ndrinfo.de



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