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Russland und USA zählen atomare Gefechtsköpfe

Von Andrej Fedjaschin *

Am 24. April beginnen russische und amerikanische Experten in Rom mit den Abrüstungsverhandlungen.

Die Konsultationen könnten in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu einem ersten Durchbruch und zur Atomwaffenabrüstung führen.

Zu einem solchen Durchbruch kann ein neuer Vertrag werden, der den veraltenden (faktisch bereits veralteten) Vertrag über Reduzierung der strategischen Offensivwaffen (START-1) ablösen soll. Dieser war 1994 in Kraft getreten und läuft am 5. Dezember 2009 ab.

In Wahrheit können weder Moskau noch Washington die Sache bis in den Dezember aufschieben: Sie müssen einen Vertrag oder ein Abkommen bis zum Juli vorbereiten, wenn der Moskau-Besuch von US-Präsident Barack Obama stattfindet. Er und sein russischer Amtskollege Dmitri Medwedew sollen etwas Gewichtiges unterzeichnen. Bisher liegt außer einem solchen Vertrag nichts zur Unterzeichnung vor.

Deshalb sind die Seiten in großer Eile. Eine Zeitspanne von etwa zwei Monaten ist überaus gering für die Ausarbeitung eines neuen Vertrags, aber keinesfalls unrealistisch.

Am 7. Mai sollen Russlands Außenminister Sergej Lawrow und US-Außenministerin Hillary Clinton in Washington zusammentreffen, um die "Fortschritte der Experten" zu besprechen. Clinton erklärte erst am 22. April bei Anhörungen im US-Kongress: "Wir haben einen konkreten Fortschritt mit Russland erreicht, was die Ablösung des START-Vertrags angeht, und werden in diese Richtung weiter gehen." Es fragt sich nur: wie und wohin?

Alle sehen ein, dass es gilt, voranzukommen, zu strikteren Waffenbegrenzungen, als sie in START-1 vorgesehen waren. Warum? Erstens, weil beide Seiten bereits im Dezember 2001 erklärt hatten, seine Bestimmungen erfüllt zu haben.

Wir wollen in aller Kürze daran erinnern, dass der Vertrag beide Seiten verpflichtet, auf beiden Seiten die Zahl der dienstbereiten Träger auf 1600 und die Zahl der Gefechtsköpfe auf 6000 zu verringern. Im Dezember 2001 hatte Russland 1136 Träger und 5518 Gefechtsköpfe, die USA zählten 1237 Träger und 5948 Gefechtsköpfe.

Den jüngsten Angaben des US-Außenministeriums zufolge hatte Moskau am 1. Januar dieses Jahres 814 Träger und 3909 nukleare Gefechtsköpfe, bei den USA betragen die entsprechenden Kennziffern 1198 und 5576. Dieser große Unterschied darf niemanden irreführen: Dem Startgewicht nach übertreffen wir die Amerikaner um beinahe 600 metrische Tonnen.

Zweitens ist es heute ein teures Vergnügen, solche Atomwaffenarsenale zu unterhalten (Wirtschaftskrise!). Das gilt selbst für die USA, von Russland ganz zu schweigen.

Doch am wichtigsten sind nicht einmal die Zahlen. Wenn der Vertrag nicht erneuert und gründlich durchgearbeitet wird, wie das Russland wünscht, wird man auch einem weiteren, späteren Atomwaffenabkommen zwischen Russland und den USA ade sagen müssen.

Es wurde 2002 von den Präsidenten George W. Bush und Wladimir Putin unterzeichnet und sieht eine Begrenzung der Vorräte an strategischen Offensivwaffen auf 1700 bis 2200 Gefechtsköpfe bis zum Jahr 2012 vor. Das System der Verifizierung dieses Vertrags beruht vollständig auf jenem aus dem START-1-Vertrag.

Kurzum: Für beide Verträge ist so gründlich vorgearbeitet worden, dass es - Wunsch vorausgesetzt - nicht schwer fiele, sich über eine Verschärfung des START-1-Regimes zu einigen.

Wie es immer es auch war: Wenn die UdSSR und die USA zu Konsultationen darüber zusammenkamen, was an ihren atomaren Flugkörpern und in welchem Umfang zu amputieren sei, gingen ihre Meinungen weit auseinander. Bislang hat die Obama-Administration in diesem Bereich nichts besonders Neues vorbereitet. Oder erwartet uns im Mai eine Überraschung?

Sowohl Russland als auch die USA sind sich darüber einig, dass die nuklearen Gefechtsköpfe zu reduzieren sind und der START-1-Vertrag überprüft werden muss. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Obamas Position nicht sehr von der Position des "späten" George W. Bush.

Dessen Administration stimmte "kurz vor Toresschluss" der Meinung zu, dass sich die atomare Abrüstung im START-1-Rahmen durchaus radikaler durchführen ließe. Eigentlich äußerten sich Washington und Moskau niemals gegen die Fortsetzung der Politik der Reduzierung der Kernwaffenarsenale.

Der Teufel steckt wie immer im Detail. Und je kleiner die Details werden, um so größer werden die entsprechenden "Teufel" und um so beharrlicher kämpfen beide Seiten für ihre "eigenen Teufel".

Ein weiterer Aspekt des Problems eines qualitativ neuen, strikteren Vertrags besteht darin, dass Washington die Überprüfung der Atomstrategie noch nicht beendet hat. Der Abschluss ist für den Herbst geplant. Damit der neue Vertrag vom Kongress bis zum 5. Dezember gebilligt werden kann, muss er von den beiden Seiten bis zum August unterzeichnet werden.

In den USA neigen die Experten zu der Meinung, dass die Ausarbeitung des neuen Vertrags deshalb zwei Stadien durchlaufen werde. Im ersten würden ein Abkommen über die Verifizierung und die Inspektionen sowie eine Vereinbarung über die Verringerung der nuklearen Gefechtsköpfe bis auf 1500 auf jeder Seite geschlossen werden. Ein solches Abkommen könnten Obama und Medwedew im Juli unterzeichnen.

Im zweiten Stadium, schon im nächsten Jahr, werden die Seiten vereinbaren, die Gefechtsköpfe auf 1000 und die Träger um 50 Prozent auf jeweils 600 bis 700 zu senken. In diesem Fall werden die USA mehr reduzieren müssen.

Beide Seiten sind sich über die Obergrenzen einig. Doch dann beginnen die Schwierigkeiten.

Die Amerikaner unternehmen wie immer weiter Versuche, einen Teil ihrer strategischen Raketen aus der atomaren Abrüstung auszuklammern. Das geschieht gemäß der noch von Bush jun. deklarierten neuen Doktrin "Prompt Global Strikes".

Dabei wird ein Teil der strategischen Atomraketen zu konventionellen Gefechtsköpfen modernisiert, um "dem Terrorismus" einen niederschmetternden Schlag zu versetzen. Doch eine vom nuklearen ins konventionelle Diensthabende System überführte Rakete kann ebenso leicht zurückgeführt werden. Es ist völlig unbegreiflich, in welche Kategorie dann im neuen Vertrag die strategischen Raketen mit nicht nuklearen Gefechtsköpfen einzustufen seien.

Noch etwas: Je drastischer die strategischen Begrenzungen für die USA und Russland sein werden, desto aufmerksamer müssen die Atommächte Frankreich, Großbritannien, China, Pakistan, Indien u. a. unter die Lupe genommen werden. Der Anteil ihrer Atomwaffenkräfte am atomaren Gleichgewicht wird bedeutend zunehmen.

Aber trotz aller Probleme wird der Vertrag für Russland viel vorteilhafter sein. Wir liegen bei der Modernisierung unserer nuklearen Träger weit hinter den USA (leider können dem weder unsere Topol-Raketen noch die seegestützte Bulawa-Rakete abhelfen), sodass für Moskau jede Begrenzung nur nützlich sein wird.

Deshalb wird Russland wohl viele US-Vorschläge akzeptieren müssen, wenn es die atomare Diskrepanz nicht noch größer werden lassen will. Wird der neue Vertrag nicht unterzeichnet, kommt es natürlich zu keiner Katastrophe. Nur dass die Diskrepanz in qualitativer Hinsicht noch größer sein wird.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 20. April 2009; http://de.rian.ru


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