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Atomschlag aus Versehen?

Schwere Sicherheitspanne bei der US-Air Force

Von Wolfgang Kötter *

Kernwaffen sind unverzichtbar für die nationale Sicherheit - das zumindest versuchen die Regierungen der Nuklearmächte ihren Bürgern weiszumachen. Was diese jetzt aber aus den Medien erfahren, lässt vielen einen kalten Schauer über den Rücken laufen: Bereits Ende August hat ein irrtümlich mit einem halben Dutzend scharfen Atombomben bestückter Langstreckenbomber des Typs B-52 der US-Luftwaffe die gesamten Vereinigten Staaten überflogen. Auf dem Fliegerhorst Minot in der Nähe der kanadischen Grenze im Bundesstaat North Dakota hatte das Personal zwölf Flügelraketen auf den "Stratofortress"-Bomber montiert, davon waren aber sechs versehentlich mit nuklearen Sprengköpfen von Detonationsstärken bis zu 150 Kilotonnen, der zehnfachen Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe, bestückt. Anschließend flog die lebensgefährliche Fracht hunderte Kilometer bis zur Luftwaffenbasis Barksdale im Bundesstaat Louisiana an der Südküste zum Atlantik. Zehn Stunden stand die Maschine dort noch auf der Rollbahn, ohne dass jemand die nuklearen Sprengköpfe in Sicherheit brachte. Erst dann wurde bemerkt, dass unter den Tragflächen des Langstreckenbombers versehentlich scharfe Nuklearwaffen befestigt waren. "Es ist geradezu unglaublich, dass so viele Kontrollmechanismen versagt haben", kritisiert der Atomwaffenexperte Hans Kristensen von der Federation of American Scientists in Washington.

Nun herrscht unter den Verantwortlichen große Aufregung. "Es ist ein schwerwiegender Bruch unserer Regeln", räumt das Pentagon ein. Die Air Force gab immerhin zu, es handele sich um "eine Abweichung von unseren sehr genauen Vorschriften" und entließ schon mal den verantwortlichen Offizier. Der Chef des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus, Ike Skeldon, äußerte "tiefe Besorgnis" über den Fall. Gleichzeitig wird abgewiegelt, die Sprengköpfe seien nicht aktiviert gewesen und zu keinem Zeitpunkt habe eine Gefahr für die Bevölkerung geherrscht. Armeesprecher Ed Thomas bezeichnete den Vorfall als "isolierten Fehler", dem eine gründliche Untersuchung folgen werde. Ein Bericht soll spätestens Ende kommender Woche erscheinen.

Aber alle Beschwichtigungsversuche können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Atomwaffen nicht nur für einen potentiellen Gegner bedrohlich werden, sondern sie sind immer lebensgefährlich. "Das stellt das ganze System in Frage", betont Kristensen, denn wenn ein Mensch allein dies bewirken kann, muss man sich fragen, was sonst noch passieren kann". Auch Kongressabgeordnete zeigen sich beunruhigt. Dies sei absolut unentschuldbar, meint der demokratische Abgeordnete Edward Markey im Ausschuss für Heimatschutz des Repräsentantenhauses: "Der komplette Ausfall von Kontrolle und Befehlsgewalt über Nuklearwaffen, die ausreichen, um mehrere Städte zu zerstören, hat furchterregende Implikationen nicht nur für die Luftwaffe, sondern für die Sicherheit unserer gesamten Atomwaffenlager." So etwas sei noch niemals berichtet worden und über Jahrzehnte habe die Regierung versichert, dass so etwas gar nicht geschehen könne. Aber das stimmt nicht, trotz aller Verschleierungsversuche gelangen immer wieder Informationen über atomare Beinahe-Katstrophen an die Öffentlichkeit. So kam erst vor wenigen Tagen ans Licht, dass es am 2. Mai 1984 auf dem britischen Militärflugplatz Brüggen in Nordrhein-Westfalen zu einem Zwischenfall mit einer Atombombe gekommen war. Wie die britischen Streitkräfte bestätigten, fiel die Bombe vom Typ WE 177 C vom Transportkarren aus 30 bis 40 Zentimeter Höhe auf den Betonboden. Dabei sei der Transportcontainer verbeult worden, der Atomsprengkopf der Bombe sei aber nicht beschädigt worden, sagte ein Militärsprecher der Zeitung "Rheinische Post". Dennoch stufte das britische Verteidigungsministerium den Zwischenfall als einen der schwerwiegendsten Unfälle mit Atomwaffen in den 80er Jahren ein.

Die Geschichte zeigt, dass Kernwaffenunfälle, Fehlfunktionen und Irrtümer das Atomzeitalter von Anfang an begleiten und dass die nukleare Aufrüstung wie auch jeder weitere Besitz von Atomwaffen die Wahrscheinlichkeit ihrer Anwendung erhöht. Inzwischen ist der Ost-West-Konflikt längst vorbei und die weltweiten Kernwaffenarsenale sind um mehr als die Hälften, auf etwa 28 000 Sprengköpfe, verringert worden. Doch damit ist die Gefahr nicht gebannt. "Das Risiko eines irrtümlichen Atomkrieges ist seit dem Ende des Kalten Krieges gewachsen", schätzte der ehemalige US-Verteidigungsminister William Perry kürzlich bei einer Anhörung im US-Kongress ein, "sowohl die amerikanischen als auch die russischen Raketen befinden sich in einer hohen Alarmbereitschaft." Um diese Situation kurzfristig zu entschärfen, schlagen Nuklearexperten ein Paket von Sofortmaßnahmen gegen die Gefahr eines Atomwaffenkrieges aus Versehen vor. Dazu müssen die Zielkoordinaten in den Raketen gelöscht und die Lenkungskomponenten von der eigentlichen Rakete entfernt werden. Vorsorglich sollten die Sprengköpfe von den Trägersystemen und die Raketen von den Lafetten mobiler Interkontinental-Raketen getrennt und separat gelagert werden. Einem fahrlässigen Auslösen eines Nuklearschlages kann ebenfalls vorgebeugt werden, wenn Teile der Zündsysteme blockiert oder entfernt werden. Damit Raketen nicht versehentlich gestartet werden können, müssten die Sprengstoffladungen, die die Siloabdeckungen beim Sofortabschuss öffnen, entfernt werden. Eine zusätzliche Sicherung wäre zu erreichen, indem die Zielcomputer und die sie versorgenden Batterien aus den Raketen entfernt würden. Alle diese Maßnahmen würden das Risiko vermindern, eine durchgreifende Lösung aber bietet nur die vollständige Beseitigung aller Atomwaffen.

Risikosituationen für einen "zufälligen" Atomkrieg

  • 5. Oktober 1960: Ein amerikanisches Frühwarnradar auf Grönland meldet einen Anflug von sowjetischen Atomraketen auf die USA. Ein Fehler im Computersystem hatte zwei Nullen aus den Messkomponenten des Radars entfernt. Dadurch wurde der vermeintliche Raketenangriff bei einer Distanz von 2500 Meilen dargestellt. In Wirklichkeit handelte es sich um eine 250000 Meilen entfernte Spiegelung des Mondlichts.
  • 9. November 1979: In der Kommandozentrale des Pentagon zeigen die Computer einen atomaren Generalangriff der Sowjetunion an. Alarmwarnungen gehen an Kontrollzentren für die US-Interkontinental-Raketen. Die Luftwaffe startet 10 Kampfflugzeuge, um die Raketen abzufangen. Gerade noch rechtzeitig stellte sich heraus, dass der Fehlalarm durch ein irrtümlich eingelegtes Trainings-Tonband ausgelöst worden war.
  • 3. Juni 1980: Die US-Computer signalisieren einen massiven atomaren Angriff der Sowjetunion. Die Raketen erhielten Startwarnungen und werden einsatzbereit gemacht. Schließlich entschärften Frühwarnsatelliten die Situation. Später wurde dann ein fehlerhafter Computerchip als Auslöser entdeckt.
  • 25/26.September 1983: Im Raketenwarnsystem bei Moskau gibt es Atomalarm. Der Aufklärungssatellit meldet den Anflug amerikanischer Nuklearraketen. Dem diensthabende Oberstleutnant Petrow bleiben nur wenige Minuten, um die Raketen zu identifizieren. Danach wären die sowjetischen Interkontinental-Raketen in Richtung USA gestartet. Intuitiv wertet Petrow die Information als Computerfehler - und wendet so den 3. Weltkrieg ab.
  • 1984: Bei einem nicht eindeutig datierten Zwischenfall erhält eine amerikanische Minuteman-Rakete wegen eines Computerfehlers den Auslösebefehl. Nur ein unverzüglich auf den Silodeckel gerollter Panzerwagen kann den Start verhindern.
  • 25. Januar 1995: Norwegische und US-amerikanische Wissenschaftler starten eine Rakete für die Datensammlung in der Erdatmosphäre. Russische Radartechniker halten sie für eine amerikanische Trident-Atomrakete. Minutenlang steht Russland kurz davor, einen umfassenden nuklearen Antwortschlag auf die USA zu starten, bevor sich der Irrtum aufklärt.


* Eine gekürzte Version dieses Beitrags erschien unter dem Titel: "Apokalyptischer B-52-Flug über den USA" am 8. September 2007 im "Neuen Deutschland"


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