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Die nukleare Teilhabe Deutschlands und das Völkerrecht

Befragung der Bundestagsabgeordneten zum Thema Atomwaffen

Von Hermann Theisen

Vorbemerkung

Derzeit befinden sich 30.000 Atomwaffen im Besitz von acht Atomwaffenstaaten: USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Israel, Indien und Pakistan. Das entspricht etwa der Hälfte der Atomwaffenzahl auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Es bedeutet zugleich aber nach wie vor, dass die Erde mit nur einem geringen Teil jener Atomwaffen ausgelöscht werden könnte.

Etwa 17.500 jener Waffen sind sofort einsatzfähig und ca. 4.000 von ihnen befinden sich in ständiger Höchstalarmbereitschaft und könnten somit ihr Ziel innerhalb weniger Minuten erreichen. Die restlichen Atomwaffen befinden sich in Reserve, im Lager oder sind für die Abrüstung vorgesehen.

Diese Situation und die Gefahr weltweiter kriegerischer bzw. terroristischer Auseinandersetzungen, veranlasste Anfang des Jahres den Chefwaffeninspektor Mohammed al-Baradei in einem Spiegel-Interview zu der Einschätzung: "Noch nie war die Gefahr (eines Atomkrieges) so groß wie heute. Ein Atomkrieg rückt näher, wenn wir uns nicht auf ein neues internationales Kontrollsystem besinnen."

Die Rolle Deutschlands im weltweiten Atomwaffenszenario beschränkt sich gegenwärtig auf die nukleare Teilhabe innerhalb der NATO, die aus zwei Komponenten besteht: Zum einen der technischen Teilhabe, mittels derer Bundeswehr-Piloten des Jagdbombergeschwaders 33 der Bundesluftwaffe (Büchel) im Kriegsfall US-Atomwaffen einsetzen können und dies im Frieden üben. Zum anderen aus der politischen Teilhabe, d.h. dem Recht, über Nuklearstrategie, Nuklearwaffenstationierung und Nuklearwaffeneinsatzplanung innerhalb der NATO mitdiskutieren zu können.

Indem die im rheinland-pfälzischen Büchel stationierten Bundeswehrsoldaten mit ihren Tornado-Kampfflugzeugen im Rahmen der nuklearen Teilhabe tagtäglich den potentiellen Einsatz US-amerikanischer Atomwaffen üben, verstößt die Bundesregierung nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen gegen das Völkerrecht sowie das Grundgesetz. Insbesondere wird immer wieder kritisiert, dass die nukleare Teilhabe der Bundeswehr gegen einen einschlägigen Beschluss des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag verstoßen würde, worin die Kritiker einen Verstoß gegen das Völkerrecht sehen.

Beschluss des Internationalen Gerichtshofs zu Atomwaffen

Am 8. Juli 1996 hat der IGH in einem Gutachten-Verfahren nach Art. 96 der UN-Charta eine Entscheidung getroffen, deren Tenor sich wie folgt zusammenfassen lässt:

A: Einstimmig wurde beschlossen:
Es gibt weder im Völkergewohnheitsrecht noch im Völkervertragsrecht eine spezifische Ermächtigung zur Androhung oder zum Einsatz von Atomwaffen.

B: Mit elf zu drei Richterstimmen wurde beschlossen:
Weder im Völkergewohnheitsrecht noch im Völkervertragsrecht gibt es eine umfassende und weltweit geltende Rechtsnorm, die ausdrücklich die Androhung oder den Einsatz von Atomwaffen verbietet.

C: Einstimmig wurde beschlossen:
Ein Androhen oder ein Einsetzen von Atomwaffen, das gegen das Gewaltanwendungsverbot des Art. 2 Ziff. 4 der UN-Charta oder gegen die sich aus Art. 51 der UN-Charta ergebenden Anforderungen verstoßen würde, wäre völkerrechtswidrig.

D: Einstimmig wurde beschlossen:
Ein Androhen des Einsatzes oder ein Einsetzen von Atomwaffen müsste mit den Anforderungen vereinbar sein, die sich aus dem für bewaffnete Konflikte geltenden Völkerrecht, insbesondere aus den Prinzipien und Regeln des sog. humanitären (Kriegs-)Völkerrechts und aus den Verpflichtungen aus abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen und Übereinkünften ergeben, die speziell Atomwaffen betreffen.

E: Mit sieben zu sieben Richterstimmen, wobei die Stimme des Präsidenten den Ausschlag gab, wurde beschlossen:
a) Aus den oben (unter A bis D) erwähnten Anforderungen ergibt sich, dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell/grundsätzlich gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegs-Völkerrechts.
b) Allerdings kann der Gerichtshof angesichts der gegenwärtigen Lage des Völkerrechts und angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Faktenmaterials nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiel stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.

F: Einstimmig wurde beschlossen:
Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten und strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen.

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Helmut Simon wertete den Beschluss des IGH als großen Erfolg nichtstaatlicher Organisationen (World Court Projekt), die in jahrelanger Arbeit für ein solches Votum gestritten hatten. Simon war es auch, der unmittelbar nach der Beschlussfassung betonte, dass das Gutachten Auswirkungen auf unsere praktische Politik habe müsse: "Als früherer Verfassungsrichter wünsche und hoffe ich nicht zuletzt, dass die Beurteilung des Internationalen Gerichtshofs auch Einklang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet. All zu lange hat sich der militärische Bereich als merkwürdig resistent gegenüber verfassungsrechtlicher Anforderungen erwiesen."

Stellungnahme der Bundesregierung und Initiativen im Bundestag zum IGH-Beschluss

Als Reaktion auf den IGH-Beschluss richtete die heutige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, eine Anfrage an das Auswärtige Amt und fragte nach den Konsequenzen der Bundesregierung für ihre Politik der nuklearen Teilhabe. Zudem wollte sie wissen, welche Initiativen die Bundesregierung ergreifen werde, um entsprechend auf die Atomwaffenpolitik der NATO einzuwirken.

Werner Hoyer, damals Staatsminister im Auswärtigen Amt, widersprach in seiner Antwort der Einschätzung, dass vom IGH-Beschluss unweigerlich eine Infragestellung der Praxis der nuklearen Teilhabe ausgehen würde. Vielmehr könne man das Gutachten auch derart interpretieren, dass rechtsverbindlich die nukleare Teilhabe der Bundesregierung aufrechterhalten bleiben könne.

Wenig später kam es zu einer Kleinen Anfrage (Drucksache 13/5709) der Abgeordneten Sterzing, Nachtwei und Beer (Bündnis 90/Die Grünen), in welcher nach den "Auswirkungen der Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs zur Völkerrechtswidrigkeit des Einsatzes von Atomwaffen bzw. seiner Androhung" gefragt wurde. In ihrer Antwort auf jene Anfrage widersprach die Bundesregierung auch hier der Auffassung, "dass die Androhung des Einsatzes oder der Einsatz von Atomwaffen generell gegen das Völkerrecht verstoße." Gleichwohl begrüßte die Bundesregierung das IGH-Gutachten als wichtigen Beitrag und Impuls für weitere Bemühungen um nukleare Abrüstung bzw. Nichtverbreitung von Atomwaffen.

Schließlich kam es am 5. Dezember 1996 nach Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS (fast) zu einer Bundestagsdebatte zum Thema Abschaffung und Ächtung aller Atomwaffen. Bedauerlicherweise wurde aber der betreffende Tagesordnungspunkt in jenem Tag derart spät angesetzt, dass die Redebeiträge lediglich zu Protokoll gegeben worden sind. v Eine dem Thema entsprechend leidenschaftliche Debatte im Bundestag, in welcher über das Für und Wider von Atomwaffen bzw. der nuklearen Teilhabe hätte gerungen werden können, fiel somit zwar nicht in das sprichwörtliche Wasser, dafür aber leider in die Niederungen der Plenarprotokoll-Ablage.

Ein Redebeitrag kam von Friedbert Pflüger (CDU), der forderte, "dass der Prozess der Abrüstung nicht zum Stillstand kommt und die Zahl der atomaren Sprengköpfe weiter drastisch verringert wird."

Der SPD-Abgeordnete Gernot Erler berief sich auf einen Beschluss des Wiesbadener SPD-Parteitages vom November 1993 und wiederholte die dort postulierte These: "Die SPD wird den Abzug aller Atomwaffen aus der gesamten Bundesrepublik Deutschland, nicht nur aus Ostdeutschland durchsetzen." Und auch die heutige Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Angelika Beer, forderte unmissverständlich: " Die Zeit ist reif für die vollständige atomare Abrüstung!" Zudem müsse ihrer Ansicht nach die Bundesrepublik den Verzicht auf Forschung, Herstellung, Dislozierung, Besitz und Teilhabe an Atomwaffen im Grundgesetz verankern und dies als völkerrechtlich verbindlich erklären. Und auch der FDP-Abgeordnete Günther Nolting betonte die ausdrückliche Unterstützung der Bundesregierung durch seine Fraktion bei der Politik einer weitergehenden Reduzierung sämtlicher Atomwaffen.

Schließlich forderte Manfred Müller (PDS) in seiner zu Protokoll gegebenen Rede, weitergehende politische Konsequenzen aus dem IGH-Beschluss, während der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, ausdrücklich betonte, die geltende Verteidigungsstrategien der NATO (einschließlich ihrer Atomwaffenstrategie) sei mit dem Völkerrecht vereinbar.

Somit verebbten die anfänglich durch den IGH-Beschluss hochgeschlagenen politischen Wellen zunehmend in der Meinungswüste des parlamentarischen Diskurses. Und der Wunsch Helmut Simons, der Beschluss möge "Auswirkungen auf unsere praktische Politik" haben, blieb unerfüllt.

Befragung der Bundestagsabgeordneten zum Thema Atomwaffen im Dezember 2003

Sieben Jahre nach dem denkwürdigen Beschluss des Internationalen Gerichtshofs wurden sämtliche Bundestagsabgeordneten schriftlich zum Thema Atomwaffen befragt. In jener Anfrage hieß es auszugsweise: "In der Koalitionsvereinbarung der Sozialdemokratischen Partei und Bündnis 90/Die Grünen heißt es unter Punkt Abrüstung und Rüstungskontrolle u.a.: `Die Bundesrepublik hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und beteiligt sich an den Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels.(...) Die Bundesregierung wird insbesondere alles tun, damit der nukleare Nichtverbreitungsvertrag weiter gestärkt wird.´...

Demgegenüber werden auf dem Fliegerhorst bei Büchel (Südeifel) seit 1965 Atomwaffen der USA gelagert. Zur Zeit mutmaßlich zehn Atombomben vom Typ B 61, die Schätzungen zufolge einer Sprengkraft von über 150 Hiroshima-Bomben entsprechen. Auf dem Fliegerhorst ist das Jagdbombergeschwader 33 der Bundesluftwaffe stationiert. Es stellt mit seinen Tornado-Kampfflugzeugen die Trägersysteme für die Atomwaffen bereit und damit die nukleare Teilhabe der Bundeswehr an der Atomwaffenstrategie der NATO dar.

Verschiedene Nichtregierungsorganisationen sehen darin einen Verstoß gegen das Völkerrecht bzw. das Grundgesetz und berufen sich dabei auf eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag vom 08. Juli 1996. (...) In der Folge kam es zu verschiedenen Initiativen im Deutschen Bundestag und am 05. Dezember 1996 zu einer entsprechenden Bundestagsdebatte. Dabei sprachen sich alle im Bundestag vertretenen Parteien für eine Abrüstung von Atomwaffen aus. Strittig blieb aber die Frage, in welchem Zeitraum dies geschehen soll.

Inzwischen sind - fast auf den Tag genau - sieben Jahre vergangen, ohne dass sich an der Ausgangssituation etwas wesentliches verändert hätte. Zugleich hat der US-Kongress in diesen Tagen einen millionenschweren Forschungsetat zur Entwicklung neuer Atomwaffen gebilligt, der inzwischen auch von US-Präsident Bush freigegeben worden ist. (...) Nach Einschätzung von US-Militärexperten könnte die neue Generation von Atomwaffen für Präventivkriege gegen Feinde eingesetzt werden, die heimlich Arsenale von Massenvernichtungswaffen anlegen.

In dieser Situation fordert der Trägerkreis Atomwaffen abschaffen von der Bundesregierung:

a) den Verzicht der Bundesrepublik auf sämtliche Optionen nuklearer Teilhabe,

b) den Ausstieg aus der NATO-Atomwaffenstrategie und die Schaffung einer atomwaffenfreier Zone in Mitteleuropa,

c) das Verbot von Produktion, Stationierung oder Forschung für Atomwaffen in Deutschland und

d) internationale Verträge zur weiteren Abrüstung von Atomwaffen (Start III) und deren vollständige Abschaffung (Atomwaffenkonvention)." (...)

Konkret wurden die Abgeordneten dann gefragt:

"1. Wie bewerten Sie das Sicherheitsrisiko, ausgelöst durch die in der Bundesrepublik stationierten Atomwaffen bzw. der damit verbundenen nuklearen Teilhabe?

2. Halten Sie den Appell des Internationalen Gerichtshofs - bzw. die vom Trägerkreis Atomwaffen abschaffen erhobenen Forderungen an die Bundesregierung - für unterstützenswert?

3. Können Sie sich vorstellen, sich im Rahmen Ihrer politischen Arbeit diesem Ziel entsprechend zu engagieren?

4. Würden Sie einer auf die Zielsetzung des Trägerkreises Atomwaffen abschaffen ausgerichteten Gesetzesinitiative zustimmen?" (...)

Schriftliche Antworten der Bundestagsabgeordneten

Für die SPD-Bundestagsfraktion erklärt der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Walter Kolbow: "Der Hauptzweck des Bündnisses ist, Schutz, und Sicherheit seiner Mitgliedsstaaten vor jeder Art einer militärischen Bedrohung zu gewährleisten. Auch im neuen Sicherheitsumfeld setzt die NATO dabei auf Abschreckung. Zusammen mit den konventionellen Streitkräften tragen die nuklearen Streitkräfte der NATO dazu bei, die Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung des Bündnisses zu erfüllen. Die Fähigkeiten der NATO, eine Krise diplomatisch oder, falls dies erforderlich ist, durch den Aufbau einer erfolgreichen konventionellen Verteidigung zu entschärfen, haben sich erheblich verbessert. Zugleich hat sich damit die Abhängigkeit der NATO von Nuklearwaffen reduziert."

Zur nuklearen Teilhabe der Bundeswehr schreibt er unmissverständlich: "Das gemeinsame Bekenntnis der Bündnispartner zur Kriegsverhinderung, die glaubwürdige Demonstration von Bündnissolidarität und das nukleare Streitkräftepotenzial erfordern auch in Zukunft die deutsche Teilhabe an den nuklearen Aufgaben. Dazu gehören die Stationierung von verbündeten Nuklearstreitkräften auf deutschem Boden, die Beteiligung an Planung, Konsultationen sowie die Bereitstellung von Trägermitteln. Deutschland erlangt durch die nukleare Teilhabe weder im Frieden noch im Verteidigungsfall jemals eine Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen."

Was allerdings anderes als mittelbare Verfügungsgewalt ist der potentielle Einsatz von Atomwaffen, welcher auf dem Fliegerhorst Büchel tagtäglich geübt wird? Und welchen militärischen Sinn sollte die nukleare Teilhabe der Bundeswehr haben, wenn es dann im sogenannten Verteidigungsfall nicht zum worst case, dem Abwurf von Atomwaffen durch Tornados der Bundeswehr kommen darf? Antworten hierauf gibt es von Kolbow nicht. Er beendet seinen Brief vielmehr mit einem juristischen Hinweis: "Die nukleare Teilhabe Deutschlands verstößt im Übrigen nicht gegen völkerrechtliche Normen."

Im Auftrag der Bundesregierung antwortet ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Er schreibt: "Die Bundesregierung ist dem Ziel der vollständigen Abschaffung nuklearer Waffen verpflichtet und setzt sich nachdrücklich für die vollständige Implementierung der auf der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags 2000 erzielten Ergebnisse ein: der Bekräftigung der fünf Kernwaffenstaaten ihrer aus Art. IV NVV resultierenden Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung sowie dem substantiellen zukunftsgerichteten Katalog an praktischen Schritten zur Stärkung der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung. (...) Die Nuklearen Streitkräfte der NATO sind ausschließlich defensiver Natur und dienen dem politischen Zweck, den Frieden zu wahren und Gewaltanwendung und Krieg zu verhindern."

Auch in dieser Antwort wird der Wille des Hinwirkens auf eine vollständige Abrüstung aller Atomwaffen zum Ausdruck gebracht, leider aber erneut ohne einen Bezug zur deutschen nuklearen Teilhabe herzustellen, geschweige denn eine daraus folgende Notwendigkeit politischen Handelns abzuleiten.

Für Gernot Erler erklärt dessen Referent: "Diese Bundesregierung und ihre Vorgängerinnen haben mehrfach erklärt, dass die Bundesrepublik Deutschland weder im Frieden noch im Verteidigungsfall eine Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen erlangen kann und wird. Diese verbleibt in der alleinigen Verantwortung der Nuklearwaffenstaaten. Der Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf Herstellung und Besitz von oder Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen ist eindeutig und endgültig."

Wiederum stellt sich die Frage, inwieweit die nukleare Teilhabe im Verteidigungsfall jenem Postulat widerspricht?! Dann nennt der Referent eine Reihe von Forderungen an die Bundesregierung, u.a.: "...gemeinsam mit anderen Partnern mit großem Nachdruck darauf zu bestehen, dass Nuklearwaffen nicht wieder als Kriegsführungswaffen eingeplant werden, sondern mit der Perspektive vollständiger Abrüstung weiter reduziert werden" und "...mit Nachdruck darauf zu drängen, dass keine neuen Nuklearwaffen entwickelt werden." Jene Forderungen widersprechen der nach wie vor geltenden Ersteinsatzoption der NATO und noch mehr den US-amerikanischen militärstrategischen Überlegungen, künftig Atomwaffen auch präventiv einzusetzen.

Warum nur wird an dieser Stelle die Bundesregierung - sollte man ihren Worten Glauben schenken können - an dieser Stelle nicht politisch aktiv, um ihren Worten Taten folgen zu lassen? Die stellvertretende Außenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Uta Zapf, erklärt: "Ich persönlich unterstütze die Forderung, Atomwaffen nur in den Besitzerstaaten zu stationieren. Am besten wäre die Realisierung des Vorschlages, alle Nuklearwaffen unter die Kontrolle der UNO zu stellen." Und weiter schreibt sie: "Der Ausstieg der NATO aus der nuklearen Teilhabe fände meine volle Unterstützung. Es ist aber völlig unrealistisch zu verlangen, dass die Bundesregierung einen solchen Vorstoß unternimmt, weil damit das NATO-Bündnis gesprengt würde. (...) Ein einseitiger Verzicht der Bundesrepublik auf sämtliche Optionen der nuklearen Teilhabe halte ich für politisch nicht durchsetzbar. Ein Ende der nuklearen Teilhabe würde einen Beschluss der NATO insgesamt voraussetzen."

Die Möglichkeit, dass Deutschland nach 1999 erneut einen Vorstoß wagen könnte, die NATO-Nuklearstrategie dahingehend verändern zu können, scheint für Zapf von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Doch wie sollte es denn sonst zu einer entsprechenden Änderung der NATO-Strategie kommen können, wenn nicht durch eine entsprechende neuerliche Initiative?!

Ihr Parteikollege Lothar Bindung erklärt, dass er die ihm gestellten Fragen an das Bundesverteidigungsministerium weitergeleitet habe. Von dort sei ihm geantwortet worden, dass "weder der Besitz von Nuklearwaffen durch die Kernwaffenstaaten, noch die Abschreckungsstrategie als völkerrechtswidrig" zu betrachten seien. Gleichwohl erklärt er: "Jenseits dieser Betrachtung: Ich halte den Atomwaffeneinsatz, aber auch die Drohung mit Massenvernichtungswaffen für völkerrechtswidrig." Unklar sei allerdings, ob es tatsächlich Atomwaffen in Deutschland gibt: "Für mich ist die Stationierung von US-Nuklearwaffen in Deutschland nicht beleg- aber auch nicht widerlegbar. Auf meine Anfrage an das BM für Verteidigung wurde dazu folgendes ausgeführt: `In der Frage vermuteter Lagerorte von Nuklearwaffen ist die Bundesregierung an die bündnisgemeinsam festgelegte, verpflichtende Geheimhaltungsregeln gebunden. In Übereinstimmung mit der Praxis aller Bundesregierungen können daher Aussagen und Behauptungen hierzu - insbesondere aus Sicherheitsgründen - weder bestätigt noch dementiert werden.´ Mit anderen Worten bedeutet dies, dass sich Binding zwar klar gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland ausspricht, allerdings ein daraus folgendes politisches Engagement offen lässt, da es ja möglicherweise gar keine Atomwaffen in Deutschland gibt!? Eine Haltung, die den Eindruck erweckt, als wollte er sich nicht wirklich mit diesem Thema befassen müssen....

Für die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen erklärt Winfried Nachtwei: "Presseberichten zufolge können in Büchel bis zu 22, auf dem US-Lufwaffenstützpunkt in Ramstein bis zu 110 taktische Atomwaffen gelagert sein. Sollten tatsächlich, wie Sie schreiben `nur´ noch zehn B 61 für die Aufgabe der nuklearen Teilhabe Deutschlands bereit gehalten werden, käme dies einem weitestgehenden Abzug aus Deutschland gleich. Die nukleare Teilhabe Deutschlands, wie der übrigen NATO-Staaten, hätte damit heute - noch mehr als in der Vergangenheit - eine überwiegend politisch-symbolische und keine operative Bedeutung. Mit der Reduzierung der Anzahl der in Deutschland stationierten oder gelagerten Atomwaffen haben sich auch die Wahrscheinlichkeit und das Risiko, dass es zu einem Unfall, Diebstahl oder Anschlag kommt, quantitativ drastisch reduziert. Unabhängig davon verschärft sich das Risiko durch das Alter der Waffen. Die meisten Waffen sind nunmehr 30 Jahre alt und der Sicherungsaufwand ist immens. Die Folgen eines Unfalls im dicht besiedelten Deutschland wären verheerend." Zudem schreibt er: "Deutschland besitzt keine Atomwaffen, sondern stellt mit den Tornados Trägersysteme zur Verfügung. Für mich ist kein Szenario denkbar, wonach sich die Bundeswehr mit Tornado-Flugzeugen an einem Einsatz taktischer Atomwaffen beteiligt. Völlig unwahrscheinlich halte ich die Möglichkeit, dass dies gar von Seiten einer rotgrün geführten Bundesregierung geschehen könnte. Ich gehe davon aus, dass es auch auf Seiten der USA eine gewisse Offenheit dafür gibt, im Zuge ihres Abbaus der Streitkräfte in Europa auch über die Atomwaffenstandorte in Deutschland zu reden. Angesichts der Tatsache, dass die Tornado-Flugzeuge mittelfristig vom Eurofighter abgelöst werden, halte ich es für angebracht, dass Deutschland bald signalisiert, dass es künftig bereit ist, auf die Fähigkeit nuklearwaffenfähige Trägersysteme zur Verfügung zu stellen, zu verzichten."

Doch wie sollte Deutschland dies signalisieren, wenn es nicht konkret von Nachtweis Fraktion, als Teil der Bundesregierung, beschlossen wird, um es dann auch entsprechend militärpolitisch einfordern zu können?

Rupert Polenz, Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, schreibt: "Die Politik meiner Fraktion zielt auf ein Festhalten am Atomwaffensperrvertrag und unterstützt alles, was der Erfüllung dieses Vertrages dient. (...) Die Nuklearstrategie des Bündnisses ist ein wesentlicher Garant der Sicherheit Deutschlands. Das Gutachten des IGH widerspricht der Nuklearpolitik der NATO in keinem Punkt, sondern stimmt mit ihr überein. Weder ist im Völkervertragsrecht noch im Völkergewohnheitsrecht ein universelles Verbot der Drohung des Einsatzes von Nuklearwaffen ausgesprochen. Risiken sehe ich hingegen insbesondere durch die Proliferation von Massenvernichtungswaffen durch Staaten, die in Verbindung mit dem internationalen Terrorismus stehen. Auch die Entwicklung von Nuklearwaffen, die die Unterschiede zu konventionellen Waffen verwischen, wie z.B. die sog. Mini-Nukes, halte ich für sehr problematisch." Auch hier stellt sich die Frage, warum Polenz´ Meinung sich lediglich auf ein Statement beschränkt, anstatt jener politischen Auffassung konsequent folgend, zumindest ein Stopp der nach wie vor stattfindenden Entwicklung und Herstellung moderner Atomwaffen zu fordern. Sein Parteikollege, Dr. Karl A. Lamers, Vorsitzender des Unterausschusses `Innere Führung´ des Verteidigungsausschusses, erklärt: "Deutschland hat auf die Herstellung und den Besitz von Atom-, B- und C-Waffen verzichtet. Insofern ist bei uns kein Abrüstungsbedarf. Als NATO-Mitglied ist Deutschland allerdings in die NATO-Strategie eingebunden und muss auf dem Wege der Lastenteilung im Bündnis eine Rolle im Rahmen der nuklearen Abschreckung übernehmen, die Teil dieser Strategie ist. Ein einseitiger Ausstieg aus der NATO-Strategie kommt für uns nicht in Frage. Schließlich hat die Abschreckungsstrategie uns über 40 Jahre hinweg Stabilität und Frieden garantiert. Natürlich hat die nukleare Komponente dieser Strategie heute nicht mehr die zentrale Bedeutung, die sie in den Jahren der nuklearen Konfrontation der Militärblöcke hatte. Aber sie bleibt als Rückversicherung für den Falle einer nuklearen Bedrohung oder Erpressung auch weiterhin in Kraft." Und schließlich schreibt er: "Der Deutsche Bundestag kann Gesetze nur für den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschließen. Deutschland kann keine ABC-Waffen abrüsten, weil es solche Waffen ganz einfach nicht besetzt."

Ihm ist in einem Punkt zuzustimmen: Deutschland besitzt tatsächlich keine Atomwaffen. Jedoch verfügt es im Rahmen der nuklearen Teilhabe über eine mittelbare Verfügungsgewalt, die nach Lamers Ansicht offenbar im politisch-luftleeren Raum zu schweben scheint...

Rainer Eppelmann schreibt: "Unsere Lehren aus der jüngeren deutschen Geschichte heißen vor allem Wehrhaftigkeit der Demokratie, das entspricht dem Zusammenhang von Frieden und Freiheit. Diese Wehrhaftigkeit muss aber auch nach außen gewährleistet sein. Um dies zu erreichen, ist meines Erachtens zunächst dafür Sorge zu tragen, dass eine weitere Verbreitung von Massenvernichtungswaffen unter allen Umständen vermieden wird. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein einseitiger Verzicht auf atomare Waffen nicht der Verpflichtung des Staates widerspräche, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Vielmehr ist es erforderlich, durch eine Politik der kleinen Schritte (selbst wenn uns die großen Schritte lieber wären) zu erreichen, dass weltweit und nicht nur in einem Teil der Welt die Waffenarsenale abgebaut werden. Bezüglich der Stationierung von Atomwaffen in Deutschland stellt sich die Frage nach den Alternativen. Wenn die Waffen nicht im Rahmen internationaler Vereinbarungen vernichtet werden, müssten Möglichkeiten offeriert werden, wie mit den vorhandenen Waffen umzugehen ist. Ein bloßes Abschieben der Verantwortung auf andere Länder, stellt keine Lösung dar. (...) Ein Ausstieg aus der NATO-Atomwaffenstrategie oder eine separate Behandlung einige europäischer Staaten widerspricht auch den Gedanken der Europäischen Integration und ist nicht im Sinne einer festen Einbindung Deutschlands in der NATO. Wie wichtig Integration gerade für Deutschland ist, zeigte uns allen die jüngste Vergangenheit unseres Landes."
So sieht also auch Eppelmann keinen Anlass, die nukleare Teilhabe Deutschlands in Frage zu stellen.

Für die FDP-Bundestagsfraktion erklärt der frühere Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, Dr. Werner Hoyer: "Deutschland hat völkerrechtlich verbindlich (zuletzt im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom September 1990) auf den Erwerb, den Besitz und die Verfügungsgewalt über die Nuklearwaffen verzichtet. Deutschland ist als Mitglied der NATO verpflichtet (und auf Grund unserer eigenen Sicherheitsbedürfnisse auch daran interessiert), an der kollektiven Verteidigung des transatlantischen Bündnisses mitzuwirken. Im Rahmen der NATO-Strategie der Kriegsverhinderung spielen Nuklearstreitkräfte als ein Teil des Gesamtabschreckungspotenzials nach wie vor eine Rolle. Auch wenn angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage die Wahrscheinlich, dass dieser Teil des NATO-Abschreckungspotenzials zum Einsatz kommen muss, glücklicherweise äußerst gering geworden ist, halten die Mitgliedsstaaten der nordatlantischen Allianz an dieser Strategie fest. Die Stationierung von Teilen des amerikanischen Waffenpotenzials auf dem Territorium europäischer Bündnispartner ist nicht nur ein wichtiges Element dieser NATO-Strategie, sondern auch ein Bindeglied transatlantischer Sicherheit. (...) Die FDP hat sich immer zum Nordatlantischen Bündnis und zur NATO-Strategie bekannt und wird dies auch in Zukunft so halten. Ich teile allerdings Ihre Auffassung, dass die aus Artikel 6 des Nichtverbreitungsvertrages für Atomwaffenstaaten resultierende Pflicht zur Abrüstung bislang auf allen Seiten nicht hinreichend umgesetzt wurde. Das liegt natürlich nicht in erster Linie in den Händen der Bundesregierung, aber wir werden aus der Opposition heraus trotzdem auch weiterhin nachhaken, wie die Bundesregierung sich auch für die Umsetzung dieses Teils des Nichtverbreitungsvertrages einzusetzen gedenkt." Unerwähnt bleibt hier, dass sich Hoyer als Staatssekretär selbst ganz ähnlich verhalten hat, also ebenso wenig wie die amtierende Bundesregierung eine strikte Einhaltung des Nichtverbreitungsvertrages gefordert hat.

Sein Parteikollege Dirk Niebel schreibt: "Die NATO steht vor einem radikalen Erneuerungsprozess, von einem reinen Verteidigungsbündnis hin zu einer entscheidenden Akteurin der Weltpolitik. Amerikaner und Europäer müssen klären, wie sie sich gemeinsam den neuen Bedrohungen stellen, wie sie die Entwicklung des Völkerrechts und der globalen Sicherheitsstrukturen vorantreiben wollen. Die NATO bietet dafür den notwendigen Integrationsrahmen und die operativen Fähigkeiten, und Deutschland muss sich bereit zeigen, sich seiner internationalen Verantwortung zu stellen."

Und die fraktionslose PDS-Abgeordnete, Dr. Gesine Lötzsch, erklärt:
"Ich unterstütze Ihr Engagement für eine bedingungslose nukleare Abrüstung voll und ganz. Besonders wichtig erscheint es mir, von der Bundesregierung eine stringente Politik einzufordern. In diesem Zusammenhang möchte ich an den Irak-Krieg erinnern: Die Bundesregierung hatte sich gegen den Krieg ausgesprochen, den Vereinigten Staaten von Amerika jedoch sämtliche Überflugrechte und sonstige logistische Hilfe gewährt. Mir war es stets ein besonderes Anliegen, auf diese Doppelzüngigkeit hinzuweisen."

Schlussbemerkung

Die Antworten der Abgeordneten sowie die vorangegangenen Initiativen im Bundestag zeugen weitestgehend übereinstimmend von dem Wunsch nach der Abschaffung aller Atomwaffen, einem Stopp der Produktion neuer Atomwaffen sowie einer vertraglichen Sicherheit zur Einhaltung jener Ziele. Nur: Es scheint leider niemand von ihnen wirklich bereit zu sein, über bloße Wunschformulierungen hinausgehend, dies auch unmissverständlich politisch einzufordern.
Unklar bleibt nach wie vor, wie denn eine atomwaffenfrei(ere) Welt erreicht werden kann, wenn nach dem Motto verfahren wird: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass!"

Der frühere Bundesverfassungsrichter Helmut Simon hat bereits vor Jahren vergeblich darauf hingewiesen, dass sich schon zu lange "der militärische Bereich als merkwürdig resistent gegenüber verfassungsrechtlicher Anforderungen erwiesen" habe. Diese Worte scheinen seitdem an ihrer Aktualität leider nichts eingebüßt zu haben...
Andererseits sollte man doch eigentlich gemeinsam mit Simon hoffen können, dass ein Zusammenspiel von IGH-Beschluss und dem Wunsch zahlreicher Politiker, nach Ächtung bzw. Beendigung der atomaren Rüstung, eines Tages tatsächlich Früchte tragen könnte.

Ob dies die politischen Entscheidungsträger tatsächlich anstreben - ihre Bekundungen in allen Ehren - ist nach wie vor leider mehr als unklar. Zu wünschen wäre deshalb eine politische Sensibilisierung für jenen Themenbereich und ein stetiger Appell an die Abgeordneten, ihren Worten auch treu zu bleiben. Denn schließlich ist es doch genau jene Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz im politischen Diskurs, die allenthalben Resignation und Unverständnis entstehen lässt und es in der Folge zu einer immer größeren Herausforderung werden lässt, zu verstehen, wofür welche Partei programmatisch steht. Insbesondere auch hinsichtlich der Frage, ob die einzelnen politischen Gruppierungen - ihren Worten folgend - auch tatsächlich zu konsequentem Handeln bereit sind...dabei wäre doch konsequentes Handeln in Sachen Ächtung und Abschaffung von Atomwaffen so bitter nötig!


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