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Hürdenlauf beim Neu-START

Heftiger Streit um Ratifizierung des Abrüstungsvertrages mit Russland in den USA

Von Wolfgang Kötter *

Im Washingtoner Kapitol berät der Auswärtige Senatsausschuss des US-Kongresses heute (16.9.) über den Neu-START-Vertrag zur Reduzierung der strategischen Offensivwaffen der USA und Russlands (siehe Infokasten). Nach der Abstimmung wird das Dokument mit einer Handlungsempfehlung an das Gesamtplenum überwiesen. Angesichts der nahenden Kongresswahlen am 2. November sind weiterhin hartnäckige Obstruktionsversuche der konservativen Republikaner zu erwarten, die eine Ratifikation verhindern, zumindest aber verzögern wollen, um der Obama-Regierung eine weitere Schlappe zuzufügen.

An und für sich genießt das Abkommen breite, parteiübergreifende Unterstützung. Zahlreiche Ex-Außen- und -Verteidigungsminister wie auch viele Militärs und Sicherheitsexperten (siehe Infokasten) befürworten den Abrüstungsvertrag ausdrücklich, weil er die nukleare Bedrohung verringert, die Transparenz erhöht und die Nichtverbreitung von Atomwaffen stärkt. Nichts desto trotz setzen die Konservativen darauf, der Regierung mit allen Mitteln angebliche Schwäche und Nachgiebigkeit gegenüber Moskau vorzuwerfen. Sie scheuen dabei vor keinem auch noch so demagogischen Argument zurück.

Die Befürworter sind ihrerseits in die Offensive gegangen und warnen vor unverantwortlichen Nachteilen, die der nationalen Sicherheit durch weitere Verzögerungen erwachsen würden. Mit dem Auslaufen des Vorgängervertrages Ende vergangenen Jahres gelten nämlich auch die entsprechenden Kontrollbestimmungen nicht mehr und erstmals seit über 20 Jahren finden keine gegenseitigen Vor-Ort-Inspektionen statt. „Ohne den neuen Vertrag“, so Außenministerin Hillary Clinton, “wird unsere Fähigkeit, Veränderungen in Russlands Nukleararsenal zu erkennen und zu verstehen, erodieren”. Das werde zu verstärkter Unsicherheit und Ungewissheit führen. Ebenso fürchtet der Kommandeur der Strategischen US-Streitkräfte General Kevin Chilton: “Ohne den Neu-START-Vertrag würden wir schnell unseren Einblick in die Entwicklungen und Aktivitäten der russischen strategischen Nuklearstreitkräfte verlieren. Das würde unser Planung für die Streitkräftemodernisierung und Sicherheitsstrategie komplexer und teurer machen.“

In den Medien ist ebenfalls der Kampf um die öffentliche Meinung entbrannt. In der „Washington Post“ äußern selbst republikanische Senatoren wie Richard G. Lugar und Jon Kyl ihre Besorgnis über die gegenwärtige Situation. Aber auch Opponenten wie Senator Mitch McConnell aus Kentucky und die unter George W. Bush für Verifikationsfragen zuständige Paula DeSutter kommen zu Wort. In der Zeitschrift „Arms Control“ setzt sich Forschungsdirektor Tom Collina von der rüstungskritischen Arms Control Association offensiv mit einigen der hartnäckigsten Klischees gegen das Abkommen auseinander. Laut seiner Einschätzung verbietet der Vertrag, anders als von den Kritikern behauptet, nicht die weitere Entwicklung der US-Raketenabwehr. In der Präambel werde lediglich der allgemeine Zusammenhang zwischen Offensiv- und Defensivwaffen benannt und Russlands kritische einseitige Erklärung sei nicht rechtsverbindlich. Auch dass Russland sich das Recht zum Austritt aus dem Vertrag vorbehalte, sei kein Zugeständnis an Moskau, denn diese Möglichkeit bestehe in jedem internationalen Vertrag. Zwar sei es verboten, reduzierte offensive Trägermittel zu Abfangraketen umzuwidmen, aber die USA hätten das ohnehin nicht geplant. Ein Lieblingsargument der Abrüstungsskeptiker ist der Vorwurf, die Verpflichtungen seien nur unzureichend zu kontrollieren. Die konservative Heritage Foundation verunglimpft das Verifikationsregime sogar als „Potemkinsches Dorf“. Besonders schrill bläst auch Paula DeSutter in dieses Horn. Doch das ist mehr als scheinheilig, war sie doch mitverantwortlich für den mit Russland abgeschlossenen SORT-Vertrag, der überhaupt keine Definitionen, Zählregeln oder Verifikationsbestimmungen enthält. Seinerzeit verteidigte sie das mit den Worten: „Wir glauben nicht, dass wir in einer Situation sind, wo wir detaillierte Listen über Waffen und Verifikationsmaßnahmen brauchen.” Aber auch ihr Vorwurf, im Vergleich mit den Kontrollbestimmungen des START-Vorgängers wäre der Vertrag „viel weniger verifizierbar“, ist nicht stichhaltig. So sind die jetzigen Bestimmungen effizienter, spezifischer und billiger als die vorhergehenden. Mussten beispielsweise die bisher jährlich vorgesehenen 28 Vor-Ort-Inspektionen 70 Nuklearwaffen-Einrichtungen in Russland, der Ukraine, Weißrussland und Kasachstan abdecken, so haben es die jetzt vereinbarten 18 Inspektionen mit nur noch 35 Orten ausschließlich in Russland zu tun. Zudem sind ein zusätzlicher Datenaustausch und Notifizierungen vereinbart.

Wie die Zeitschrift „Foreign Policy“ berichtet, hat der republikanische Senator Richard Lugar in den vergangenen Tagen an einem Kompromisstext auf der Grundlage des vom Ausschussvorsitzenden John Kerry von den Demokraten vorgelegten Entwurfs gearbeitet, um weitere Unterstützung zu erlangen. Insbesondere hoffen sie darauf, die Zustimmung der republikanischen Senatoren Bob Corker aus Tennessee und Johnny Isakson aus Georgia zu gewinnen. “Der Senat sollte aus einem einzigen Grund unverzüglich über die Annahme des neuen Vertrages über die Reduzierung der strategischen Waffen (NEU-START) abstimmen: Er erhöht die nationale Sicherheit der USA“, mahnten in der Washington Post jüngst noch einmal die früheren Außenminister George Shultz und Madeleine Albright sowie der ehemalige republikanische Senator Chuck Hagel und sein demokratischer Kollege Gary Hart. Bis zur endgültigen Abstimmung über die Ratifikation im Plenum wird der Kampf um Stimmen unvermindert weitergehen. Erforderlich sind die positiven Voten einer Zwei-Drittel-Mehrheit der 100 Senatoren. Aber um auf die nötigen 67 Ja-Stimmen zu kommen, brauchen die Demokraten im Senat mindestens acht Überläufer aus dem republikanischen Lager. Auch in Russland befindet sich der Vertrag im Ratifikationsprozess des Parlaments. Angesichts der Auseinandersetzungen in den USA meint der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates Michail Margelow allerdings: „Es ist anzunehmen, dass sich Russland mit der Ratifizierung ebenfalls nicht beeilen wird: Immerhin haben die Präsidenten vereinbart, dass die Ratifizierung synchron erfolgen soll.“ Es kann also gut sein, dass der NEU-START-Vertrag erst nach den Novemberwahlen, möglicherweise sogar erst im nächsten Jahr in Kraft tritt.

Der Neu-START-Vertrag

begrenzt die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme (Interkontinentalraketen, U-Boot gestützte Langstreckenraketen und Langstreckenbomber) beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme, von denen 700 aktiv sein dürfen. Die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe beträgt maximal je 1 550. Sieben Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages müssen diese Zahlen erreicht sein. Das Abkommen bleibt zehn Jahre gültig, wobei eine Verlängerung um fünf weitere Jahre möglich ist.

Prominente Unterstützer des NEU-START-Vertrages:

Ehemalige Politiker:
  • Colin L. Powell (US-Außenminister von 2001-05);
  • Madeleine Albright (US-Außenministerin von 1997-2001);
  • Warren Christopher (US-Außenminister von 1993-97)
  • James Baker (US-Außenminister von 1989 bis 1992);
  • George Shultz (US-Außenminister von 1982 bis 1989);
  • William Cohen (Verteidigungsminister der USA 1997-2001);
  • William Perry (Verteidigungsminister der USA von 1994 bis 1997);
  • Frank Carlucci (Verteidigungsminister der USA von 1987-89);
  • Harold Brown (Verteidigungsminister der USA von 1977-81);
  • Henry Kissinger (ehemaliger Sicherheitsberater und US-Außenminister von 1973 bis 1977);
  • Sam Nunn (ehemaliger Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im US-Senat).
Aktive und ehemalige Militärs
  • Admiral Mike Mullen (Generalstabschef der US-Streitkräfte);
  • General Kevin Chilton (Kommandeur der Strategischen US-Streitkräfte);
  • Generalleutnant Patrick O'Reilly (Leiter der US-amerikanischen Raketenabwehr);
  • General John Castellaw (Ex-Kommandeur der US-Marine);
  • Generalleutnant Robert Gard (ehemaliger Präsident der US-Verteidigungsuniversität);
  • Vizeadmiral Lee Gunn (Ex-Flottenkommandeur in der US-Marine).


* Dieser Beitrag erschien - gekürzt - im "Neuen Deutschland" vom 16. September 2010


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