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START-Signal zu atomarer Abrüstung

Vertrag USA-Russland in Prag unterzeichnet / Obama: Es geht um eine Welt ohne Nuklearwaffen

In einer feierlichen Zeremonie haben US-Präsident Barack Obama und Russlands Staatschef Dmitri Medwedjew am Donnerstag in Prag den umfassendsten Abrüstungsvertrag seit zwei Jahrzehnten unterzeichnet.

Im Spanischen Saal der Prager Burg setzten beide Staatsoberhäupter ihre Unterschrift unter das neue START-Abkommen. Der Vertrag verpflichtet Russland und die USA dazu, die Zahl der nuklearen Sprengköpfe innerhalb der nächsten sieben Jahre von je 2200 auf 1550 zu reduzieren. Die Zahl der Trägersysteme wird demnach auf jeweils 800 halbiert.

Obama sagte anschließend, der neue START-Vertrag werde die USA und die Welt sicherer machen. Das Abkommen über die Reduzierung strategischer Offensivwaffen sei ein »wichtiger Meilenstein«. Er wolle den Vertrag noch bis Jahresende im Senat ratifizieren lassen. Obama dankte seinem »Freund und Partner« Medwedjew für die gute Zusammenarbeit und erklärte weiter, er hoffe auf einen konstruktiven Dialog mit Russland bei den umstrittenen US-Raketenabwehrplänen. »Wir haben vereinbart, unsere Diskussionen über die Raketenabwehr fortzusetzen, einschließlich des Austauschs unserer Einschätzung von Gefahren«, so der US-Präsident.

Russlands Präsident Medwedjew nannte das Abkommen »historisch«. Er bezeichnete den neuen START-Vertrag als Erfolg für die internationale Gemeinschaft. »Nach diesen sicher nicht leichten Verhandlungen gibt es keinen Sieger und keinen Verlierer. Der Erfolg gehört beiden Ländern und mit ihnen der ganzen Welt«, unterstrich Medwedjew. Das Abkommen eröffne ein neues Kapitel in der Zusammenarbeit zwischen Russland und den USA.

Im Streit um das iranische Atomprogramm forderte Medwedjew die Führung in Teheran mit Nachdruck zur Zusammenarbeit auf. »Teheran reagiert leider nicht auf eine Menge angebotener Kompromisse. Davor kann man nicht die Augen verschließen, und der Weltsicherheitsrat wird diese Angelegenheit erneut besprechen. Sanktionen führen zwar selten zu Ergebnissen, aber manchmal geht es nicht ohne sie«, betont der Kremlchef.

Der neue START-Vertrag, der ein älteres Abkommen aus dem Jahr 1991 ersetzt, hat mehrere Facetten. Zunächst einmal verkleinert er die atomaren Arsenale der USA und Russlands auf den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Darüber hinaus soll das Abkommen als Brücke dienen für weitere Abrüstungsschritte und für Obamas Ziel, Staaten wie Iran oder Nordkorea die atomare Aufrüstung zu verweigern. Auf bilateraler Ebene soll es die Beziehungen zwischen Washington und Moskau beleben, die unter der Regierung von Obamas Vorgänger George W. Bush sehr eisig geworden waren.

»Wenn die USA und Russland nicht in der Lage sind, in großen Fragen zusammenzuarbeiten, ist das nicht gut für unsere Länder und die Welt«, sagte Obama auf der Prager Burg. »Der heutige Tag ist ein wichtiger Meilenstein für die nukleare Sicherheit, für die Eindämmung der atomaren Weiterverbreitung und für die Beziehungen zwischen den USA und Russland.« In den langen Verhandlungen über das neue START-Abkommen konnten Obama und Medwedjew offenbar ein Vertrauensverhältnis aufbauen. In seiner Tischrede beim feierlichen Essen nach der Unterzeichnung hob Obama das Glas auf Medwedjew und sagte: »Dmitri, wir haben gelernt zusammenzuarbeiten.« Insgesamt 14 Mal hatten sie nach US-Angaben telefonisch oder in Begegnungen über den Vertrag beraten, ehe der Durchbruch gelang.

Obama bekräftigte in Prag, das Fernziel seiner Politik bleibe jenes, das er vor einem Jahr in einer Rede in der tschechischen Hauptstadt beschworen hatte: eine Welt ohne Atomwaffen, »auch wenn das vielleicht nicht in meiner Lebenszeit erreicht wird«.

* Aus: Neues Deutschland, 9. April 2010


Ein Anfang

Von Olaf Standke **

Der Begriff »historisch« wurde gestern arg strapaziert. Nicht allein von jenen, die den neuen START-Vertrag in Prag unterzeichnet haben. Dabei ist noch gar nicht sicher, dass er in herbstlichen Wahlkampfzeiten auch die Washingtoner Ratifizierungshürden nehmen kann. Aber natürlich ist jeder Schritt hin zum Abbau der atomaren Arsenale nur zu begrüßen. Da sich neun von zehn Kernwaffen heute in US-amerikanischer und russischer Hand befinden, sind die beiden mit Abstand größten Nuklearmächte in besonderer Bringepflicht. Dass sie in zähen Verhandlungen nach der von USA-Präsident Obama im Vorjahr verkündeten Vision einer atomwaffenfreien Welt in diesen Frühlingstagen ein Nachfolgeabkommen für die Reduzierung strategischer Offensivwaffen vereinbaren konnten, ist angesichts der langen Eiszeit in ihren bilateralen Beziehungen fraglos ein gutes Zeichen. Und Voraussetzung für weiterreichende Abrüstungsschritte.

Denn dieser Vertrag greift längst nicht so weit, wie es angesichts militärisch unsinniger und auch politisch verheerender atomarer Overkill-Kapazitäten notwendig wäre. Er ist vor allem ein Rüstungskontrollvertrag, der ohnehin nur den kleineren Teil aller nuklearen Sprengköpfe erfasst. Die in den nächsten sieben Jahren ausgesonderten müssen wie ihre Trägersysteme nicht einmal verschrottet werden. Moskau dürfte die Zahl Letzterer absurderweise sogar erhöhen. Auch »historisch« ist eben immer relativ.

** Aus: Neues Deutschland, 9. April 2010 (Kommentar)


Trippelschritte in Prag ***

US-Präsident Barack Obama und sein russischer Amtskollege Dmitri Medwedew haben am Donnerstag in der tschechischen Hauptstadt Prag den neuen START-Vertrag zur atomaren Abrüstung unterzeichnet. In dem Abkommen verpflichten sich beide Seiten, die Zahl der strategischen Atomsprengköpfe um ein Drittel auf 1550 zu verringern und die Anzahl der Trägersysteme auf 800 zu halbieren. Die Vertragsunterzeichnung sei »ein wichtiger Meilenstein für die nukleare Sicherheit und die Zusammenarbeit zwischen den USA und Rußland«, sagte Obama. Der Nachfolgevertrag des START-Abkommens von 1991, das im Dezember ausgelaufen war, werde die Welt sicherer machen und bilde den Auftakt für weitere Reduzierungen der Atomwaffenarsenale. Er wolle den Vertrag noch bis Jahresende im Senat ratifizieren lassen. Auch Medwedew sprach von einem »wirklich guten Vertrag«, der »voll und ganz die Interessenbalance zwischen den USA und Rußland« gewährleiste. »Das ist ein Sieg für die gesamte Menschheit«.

»Das einzig Gute an dem Ereignis ist, daß die beiden nuklearen Supermächte überhaupt einen Vertrag zustandegebracht und damit zur gegenseitigen Vertrauensbildung beigetragen haben«, erklärte der Bundesausschuß Friedensratschlag. Ansonsten gebe es für die Welt wenig Grund zur Erleichterung: »Die Reduzierungen der Sprengköpfe sind angesichts des großen Arsenals minimal, bei den Trägersystemen ist Rußland sogar eine Aufstockung erlaubt.« Von einem Durchbruch könne keine Rede sein. Vielmehr sei es ein »Trippelschritt – nicht zu einer atomwaffenfreien Welt, sondern zu weiteren Verhandlungen«. Oliver Tränert von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin äußerte sich ebenfalls eher zurückhaltend. Von einem »dramatischen Schritt« könne man nicht sprechen. Zudem gebe es derzeit keine Anzeichen, daß andere Atommächte bereit seien, sich am Abrüstungsprozeß zu beteiligen. (apn/ddp/jW)

*** Aus: junge Welt, 9. April 2010

Weitere Kommentare ****

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG geht auf das neue Abkommen zwischen Russland und den USA ein:
"US-Präsident Obama vollzieht einen bedeutenden Kurswechsel. Nach fast 20 Jahren gibt es zwischen den beiden größten Atommächten wieder ein umfassendes Abrüstungsabkommen, das ein Gleichgewicht festschreibt. Sein Vorgänger Bush hatte 2002 den ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr gekündigt. Er wollte Amerika zu uneinholbarer Überlegenheit führen. Obama verzichtet darauf, nach uneingeschränkter Dominanz zu streben.Der US-Präsident versucht mit strategischer Zurückhaltung, die Feindseligkeit der vergangenen Jahre zu überwinden. Er macht die größte Militärmacht der Welt berechenbarer. Obama betont gegenüber Iran und Nordkorea, die Staatengemeinschaft müsse das internationale Recht durchsetzen. Das kann nur fordern, wer selbst seinen Verpflichtungen nachkommt. George W. Bush scherte sich darum wenig", konstatiert die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.

"US-Präsident Barack Obama streichelt die russische Seele", schreibt das WESTFALEN-BLATT aus Bielefeld:
"Er gibt dem Riesenreich nach langen Jahren der Demütigungen unter seinen Vorgängern nun das Gefühl, genauso mächtig und wichtig zu sein wie die USA. Die neue Wertschätzung nahm der russische Präsident Dimitri Medwedew dankbar auf. Er machte Obama gestern ein Geschenk. Im Atomstreit mit dem Iran sprach Medwedew endlich Klartext. Teheran habe angebotene Kompromisse bisher abgelehnt. Deshalb seien Sanktionen manchmal unvermeidlich. Obama ist seinem Ziel, die Front gegen den Mullahstaat zu einen, näher gekommen", glaubt das WESTFALEN-BLATT.

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG analysiert:
"Für Amerika ist dieser Abrüstungsvertrag vor allem ein Mittel zu dem Zweck, die Weiterverbreitung von Kernwaffen in der Staatenwelt und bei Terrorgruppen zu verhindern. Ob der Vertrag die erwünschte Wirkung haben wird, ist allerdings zweifelhaft. Die aufsteigende Weltmacht China wird sich nicht betroffen fühlen, die indische und die pakistanische Nuklearrüstung stehen in einem eigenen geopolitischen Kontext, und Israel wird von seiner Haltung 'nuklearer Ambivalenz' mit Sicherheit nicht abrücken", ist die F.A.Z. überzeugt.

"Vor einem Jahr, als Barack Obama in Prag seine Vision einer Welt ohne Atomwaffen präsentierte, wurde er noch als realitätsferner Träumer belächelt", erinnert sich die OSTTHÜRINGER ZEITUNG:
"Jetzt, ein Jahr später, steht die atomare Abrüstung auf der internationalen Agenda wie seit Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Allein dies ist ein Verdienst des Friedensnobel-Preisträgers, der dabei ist, die Vorschusshoffnungen dieser Auszeichnung auch tatsächlich umzusetzen. Und es zeugt vom Realitätssinn dieses Präsidenten, dass er die Begrenzung der atomaren Potentiale inzwischen zu zentralen Wegmarken seiner Präsidentschaft macht", lobt die OSTTHÜRINGER ZEITUNG aus Gera.

Die Zeitung DIE WELT lehnt Obamas Vision von einer Welt ohne Atomwaffen ab:
"Global null? Für Abschreckung und Bündnisvertrauen bleiben Atomwaffen unentbehrlich. Am wichtigsten aber ist: Das neue Abkommen bedeutet ein Ende der Eiszeit - mit vertrauensbildenden Maßnahmen, Inspektionen vor Ort, Transparenz und Berechenbarkeit. Was beide Seiten verbindet, ist das Interesse, den Atomwaffensperrvertrag von 1968, der demnächst zur Verlängerung ansteht, zu verteidigen und zu stärken. Er entstand nach den nuklearen Konfrontationen um Berlin und Kuba aus Furcht und Vernunft und ist das wichtigste und zugleich gefährdetste Stück Weltordnung", unterstreicht DIE WELT.

"Das jetzt so viel gepriesene Abrüstungsabkommen ist tatsächlich alles andere als der Beginn einer neuen Zeit", glaubt die LAUSITZER RUNDSCHAU aus Cottbus:
"Es ist noch nicht einmal der Schlussstrich unter jene Hochrüstung des Kalten Krieges, die zu einem völlig absurden Raketenwettlauf führte. Auch diesmal ist die Vereinbarung noch geprägt vom Misstrauen und insbesondere auf der russischen Seite von der Unterstellung, der Partner habe tatsächlich ganz andere als die vorgegebenen Absichten. Mit dem Fall der Mauer in Berlin, mit dem Scheitern der kommunistischen Gewaltherrschaft war kein Grund mehr erkennbar für diese Anhäufung todbringender Waffen. Nun ist heute, nach zwanzig Jahren Gerede von Partnerschaft, noch immer nicht klar erkennbar, dass man sich wechselseitig keine selbstmörderische Dummheit zutraut. So lange die USA auf dem Aufbau von Systemen beharren, die sie unverwundbar machen könnten, wird das in Jahrzehnten angehäufte Misstrauen auch nicht abgetragen werden können. So ist das Signal, das von der Zeremonie in Prag ausgeht, auch überaus bescheiden", urteilt die LAUSITZER RUNDSCHAU.

**** Aus der "Presseschau" des Deutschlandfunks, 9. April 2010; www.dradio.de




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