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Semipalatinsk mahnt

Im Osten Kasachstan fanden die meisten sowjetischen Atomtests statt

Von Hubert Thielicke *

Am 29. August 1949 detonierte in der ostkasachischen Steppe die erste sowjetische Atombombe. Heute zeugen Ruinen und Krater von den nuklearen Tests, und im nahen Kurchatov wird am friedlichen Atom geforscht.

Mit ohrenbetäubendem Lärm donnert der Hubschrauber über die Steppe. Die Landschaft, 250 bis 300 Meter unter uns, weist viele Schattierungen der Farben Braun und Grün auf - für die Erde und den spärlichen Pflanzenbewuchs. Ab und an einige Büsche und Bäume, kleine Seen, ein Flusslauf. So weit das Auge reicht, zieht sich die ostkasachische Steppe hin. Ganz im Hintergrund schimmern Berge auf. Dann lassen sich aus dem Hubschrauberfenster merkwürdige Bauten erkennen, die wie überdimensionale Haifischflossen aus dem Steppenboden ragen. Beim Überfliegen wird deutlich: Es sind die Ruinen von Beobachtungseinrichtungen rings um eines der Testgelände in der Region. Wir landen. Wir, das sind Teilnehmer der Konferenz »Vom nuklearen Teststopp zur kernwaffenfreien Welt«, die dieser Tage in der kasachischen Hauptstadt Astana stattfand.

Vor Ort einige Jurten, die Schutz vor Wind und Regen in der öden Steppe bieten. Ein Wagen mit der Aufschrift »Strahlungskontrolle« lässt erkennen, dass man auch Jahrzehnte nach den letzten Atomtests auf Sicherheit achtet. Sich mühsam gegen den Wind stemmend, halten einige junge Soldaten ein Schild mit der Karte des Testgeländes aufrecht. Kairat Kadyrzhanov, Generaldirektor des Nationalen Nuklearzentrums von Kasachstan, übernimmt die Regie. »Wir befinden uns am Rande des ›Experimentierfeld‹ genannten ersten Testgeländes von Semipalatinsk. Von 1949 bis 1962 fanden allein in diesem etwa 300 Quadratkilometer großen Gebiet 116 Tests statt. Ihre gesamte Sprengkraft übertraf um mehr als das Tausendfache die der Hiroshima-Bombe! Etwa ein Kilometer von hier explodierte am 29. August 1949 um sieben Uhr Ortszeit die erste nukleare Vorrichtung.« Professor Kadyrzhanov weist auf eine rote Flagge, die man gerade noch in der Steppe erkennt.

Dieses Testfeld war auf atmosphärische und bodennahe Tests »spezialisiert«. Auch die Erprobung der deutlich stärkeren Wasserstoffbomben begann hier; 1953 kam es zur Explosion der ersten thermonuklearen Vorrichtung. Auch die erste eigentliche sowjetische H-Bombe wurde zwei Jahre später hier gezündet. Andere Testfelder im Gebiet dienten unterirdischen nuklearen Explosionen. Insgesamt wurden in der Region mit 456 die meisten der etwa 700 sowjetischen Tests durchgeführt, bis 1962 in der Atmosphäre und von 1961 bis 1989 in Bohrlöchern und Tunneln.

Gareth Evans, früherer Außenminister Australiens, verweist auf die Folgen: Der Schaden aus diesen Tests und denen anderer Staaten, darunter auch auf australischem Boden, für Menschen, Tiere und Landschaft sei unermesslich. Der umfassende Kernwaffenteststoppvertrag müsse rasch in Kraft treten. »Solange es Staaten mit Kernwaffen gibt, werden andere sie auch erlangen wollen. Solange sich Kernwaffen in den Arsenalen befinden, besteht die Gefahr, dass sie auch zum Einsatz kommen - entweder planmäßig oder aus Versehen«, betont Evans, der als Vorsitzender einer internationalen Kommission 2009 die Studie »Die nukleare Bedrohung eliminieren« vorlegte.

Per Hubschrauber geht es in die nach dem »Vater der sowjetischen Atombombe« benannte Stadt Kurchatov am Rande des früheren Testgebiets. Der Kontrast kann nicht größer sein: Von oben blicken wir auf ein großzügig angelegtes, modernes Forschungsgelände. Im Konferenzsaal des Nationalen Nuklearzentrums informiert ein Film über die Geschichte der sowjetischen Atombombe. Vergangen ist die Zeit der Verschwiegenheit über die damaligen Ereignisse in der kasachischen Steppe. Sicher, die sowjetische Atomforschung und ihre Testfelder trugen zum nuklearen Gleichgewicht und wohl auch zur Verhinderung eines nuklearen Weltkrieges bei. Aber um welchen Preis? Allein in Kasachstan wurde ein Gebiet von 300 000 Quadratkilometern, also von der Größe Deutschlands, von der Strahlung betroffen, Hunderttausende Menschen leiden noch heute an den Folgen. Damit beschäftigt sich das dem Zentrum angeschlossene Institut für Strahlungssicherheit. Im Nuklearzentrum wurden auch Geräte für die Kontrolle des Kernwaffenteststopps entwickelt; mit 16 Stationen trägt Kasachstan zum internationalen Überwachungssystem bei. Zu den zukunftsorientierten Einrichtungen gehört ein Nukleartechnologie-Park für die Entwicklung von hochmodernen Materialien, Technologien und Geräten im Öl- und Gas-Bereich, dem Bauwesen, der Pharmazie und anderen Gebieten. Gerade fertig gestellt wird der thermonukleare Testreaktor »Tokamak KTM«. Er soll der Erforschung von Materialien für die Fusionsenergie dienen, die unter hohen Temperaturen, starken magnetischen Feldern und ionisierender Strahlung genutzt werden.

Alles für eine kernwaffenfreie Welt - von diesem Wunsch der Bevölkerung Kasachstans können sich die Konferenzteilnehmer schließlich am Denkmal »Stärker als der Tod« in Semipalatinsk überzeugen, das den Opfern der Kernwaffentests gewidmet ist. Hier haben sich an diesem Tag Tausende versammelt, um gemeinsam mit den ausländischen Gästen den Internationalen Tag gegen Kernwaffentests zu begehen.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 06. September 2012


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