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Das atomare Damoklesschwert

Weltweit gibt es rund 19 500 Nuklearsprengköpfe, von denen 4830 einsatzbereit sind

Von Olaf Standke *

Obwohl Teheran noch immer weit von einer eigenen Atombombe entfernt ist, scheinen sich die Bemühungen um nukleare Abrüstung zur Zeit ausschließlich auf Iran zu konzentrieren. Dabei ist die Welt auch über zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Kriegs weiter von einer absurden atomaren Over-Kill-Kapazität bedroht.

Nun gehört also auch das aufstrebende Indien zum exklusiven kleinen Kreis der Staaten mit atomwaffenfähigen Interkontinentalraketen. Dieser Tage testete die südasiatische Atommacht erstmals erfolgreich eine Langstreckenrakete vom Typ Agni V aus eigener Produktion. Bislang war nur von den ständigen Mitgliedern im UNO-Sicherheitsrat USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien bekannt, dass sie diese weitreichenden Trägermittel besitzen. Ob Israel ebenfalls über Interkontinentalreakten verfügt, ist offen. Die ersten dieser Waffen zur strategischen Abschreckung wurden in den 1950er Jahren installiert.

Auch die Agni V wird zu dieser Kategorie gezählt, obwohl sie mit einer angegebenen Reichweite von rund 5000 Kilometern etwa 500 Kilometer unter der üblichen Definitionsgrenze liegt. Diese wurde unter anderem in den Abrüstungsverträgen SALT II (1979) und START II (1993) zwischen Moskau und Washington definiert. Die mit Atomsprengköpfen versehenen Raketen erreichen zunächst den Weltraum, bevor sie ihr Ziel auf der Erde treffen. Die programmierte Flugbahn und Zieleinstellung kann nach dem Start nicht mehr verändert werden. Interkontinentalraketen fliegen heute in der Regel mit festem Treibstoff, weil er lange lagerfähig ist.

Man darf sicher sein, dass nun auch Indiens Nachbar und Erzfeind Pakistan seine Anstrengungen verstärken wird, um atomwaffenfähige Raketen größerer Reichweite in Dienst stellen zu können. Die Ghauri-III mit einem angeblichen Zielradius von 4000 Kilometern befindet sich noch im Entwicklungsstadium. Die Zahl der pakistanischen Nuklearsprengköpfe wird auf 90 bis 110 geschätzt. Laut Bruce Riedel, Anti-Terrorexperte des CIA, weise Islamabad inzwischen die weltweit am schnellsten wachsende Zahl von Atomsprengköpfen auf. Pakistan werde bald mehr Atomwaffen besitzen als Großbritannien. Hinzu kommt, dass pakistanische Medien wie die Zeitung »The Nation« vor einigen Monaten berichteten, dass auch Saudi-Arabien nach der von ihm angeblich mitfinanzierten »muslimischen« Atombombe greifen wolle, um sie als Abschreckung gegen Expansionsgelüste Teherans und dessen Nuklearprogramm einsetzen zu können.

Neben den fünf offiziellen Atommächten USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China, die zugleich ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrats mit Veto-Privileg sind, gelten auch Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea als Besitzer nuklearer Sprengköpfe. Nach Schätzung der Federation of American Scientists (FAS) gibt es heute weltweit rund 19 500 Sprengköpfe, von denen 4830 einsatzbereit sein sollen. Über die mit weitem Abstand größten Arsenale verfügen danach Russland (10 000 Kernwaffen, 2430 einsatzbereit) und die USA (8500/1950); es folgen Frankreich (300/290), China (240 /unbekannt), Großbritannien (225/ 160), (Pakistan 90 bis 110/unbekannt), Indien (80 bis 100/unbekannt), Israel (80/unbekannt) und Nordkorea (weniger als 10/unbekannt).

Die Ausgaben für Kernwaffen werden laut der Internationalen Kampagne für die Abschaffung der Atomwaffen (ICAN) im Jahr 2012 weltweit mehr als 100 Milliarden US-Dollar betragen - nicht nur für die Sicherheit und Einsatzfähigkeit der vorhandenen Arsenale, sondern auch für ihre Modernisierung. Der Irrsinn des Atomzeitalters geht also auch so weiter, da braucht es gar kein Iran.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 24. April 2012


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