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Globale Nulllösung für Atomwaffen?

Immer mehr Politiker und Militärs fordern eine atomwaffenfreie Welt

Von Wolfgang Kötter *

Anfang Januar riefen vier ehemalige Spitzenpolitiker der Bundesrepublik zur Schaffung einer atomwaffenfreien Welt auf. Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher reihen sich damit in eine weltweite Bewegung ein, die bereits seit einiger Zeit spürbar an Gewicht gewinnt. So starteten erst zum Jahreswechsel 100 namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Militär und Gesellschaft in Paris die länderübergreifende Kampagne "Global Zero". Darin setzen sie sich für eine Welt ohne Kernwaffen ein und regen den Abschluss einer weltweiten Konvention zum Verbot aller Nuklearwaffen an. Unmittelbar darauf reisten Abgesandte nach Moskau und Washington, um für das Projekt zu werben. Auf der Homepage www.globalzero.org/de ist jeder eingeladen, sich dem Appell mit seiner Unterschrift anzuschließen.

Laut einer aktuellen Umfrage befürworten große Mehrheiten der Bevölkerung die Abschaffung aller atomaren Waffen, so beispielsweise in Russland 69%, in den USA 77%, in Großbritannien 81%, in China 83% und in Frankreich sogar 86%. Doch woher kommt nach langem Schweigen plötzlich der lautstarke Ruf nach nuklearer Abrüstung?

„Utopische Phantasterei! Realitätsfernes Wunschdenken, bestenfalls!“ So verunglimpften die politischen Eliten lange Zeit jeden, der die Abschaffung der Nuklearwaffen verlangte. Die atomwaffenfreie Welt blieb lange Zeit eine Vision der Friedensbewegung, unterstützt höchstens von den nuklearen Habenichtsen, denen die ultimative Waffe zu gefährlich, technisch zu aufwändig oder einfach zu teuer erschien. Wissenschaftler warnten zwar bereits in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor den gesundheitsschädigenden Nukleartests, Hunderttausende Ostermarschierer prangerten seit den Sechzigern die hemmungslose Anhäufung der verheerenden Massenvernichtungswaffen an, und in Scharen gingen die Rüstungsgegner in den Achtzigern gegen die atomare Vor- und Nachrüstung auf die Straße. Nicht die Klimaerwärmung sondern der nukleare Winter war damals das Angstthema Nr. 1. Doch die Proteste verpufften und der Berg menschlicher Selbstvernichtungskapazität wuchs auf über 60.000 Atomsprengköpfe. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verschwand das Thema dann weitgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein, gleichzeitig gewann das nukleare Wettrüsten fast unbemerkt wieder an Tempo. Noch bis vor kurzem galten die Kernwaffen den Architekten und Vollstreckern der nuklearen Abschreckung als unverzichtbar für die eigene Sicherheit.


Am 17. Januar 2007 konstatieren die Wissenschaftler des „Bulletin of the Atomic Scientists“, dass wir zwei Minuten näher an das Ende der Welt herangerückt sind. Sie stellen die “Doomsday Clock”, die anzeigt, wie nahe die Menschheit sich an der Selbstvernichtung befindet, auf 5 Minuten vor 12. Als Grund nennen sie das weltweite Versagen, Lösungen für die zwei schlimmsten globalen Bedrohungen – die Atomwaffen und den Klimawandel - zu finden.



Doch langsam begann der Wind sich zu drehen. Zunächst gelangten nur Einzelne wie der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara, der frühere Präsident Jimmy Carter und der Ex-Oberbefehlshaber der amerikanischen Nuklearstreitkräfte General Lee Butler zu der Erkenntnis, dass die einzige Garantie gegen eine nukleare Katastrophe, die Abschaffung der Kernwaffen ist. Auch dem letzten Staatschef der Sowjetunion Michail Gorbatschow schwante: "Wenn wir die Atomwaffen nicht vollends abschaffen, könnten sie eines Tages uns abschaffen." Enormes Aufsehen erregte der Appell von vier ehemaligen Führungspolitikern der USA, der am 4. Januar 2007 im renommierten Wall Street Journal erschien: „Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde die seiner Zeit sinnvolle Doktrin der gegenseitigen atomaren Abschreckung obsolet“ meinten jetzt diejenigen, die diese Doktrin selbst konzipiert und umgesetzt hatten. „Zwar bleibt Abschreckung eine wichtige Überlegung für einzelne Staaten, die sich von anderen Staaten bedroht fühlen, aber das Vertrauen in Atomwaffen verliert immer mehr an Überzeugungskraft und wird zunehmend riskanter.“ Aus ihren eigenen Lebenserfahrungen heraus warnten sie davor, „dass die Welt an der Schwelle einer neuen und gefährlichen atomaren Ära steht." Der Artikel wirkte wie ein Paukenschlag. Stellten doch erstmals die Verantwortlichen selbst das eherne Gebäude westlichen Sicherheitsdenkens in Frage. Doch in der Realität tat sich zunächst wenig.


Die „Vier Apokalyptischen Reiter“
  • George Shultz (US-Außenminister von 1982 bis 1989);
  • William Perry (Verteidigungsminister der USA von 1994 bis 1997);
  • Henry Kissinger (US-Außenminister von 1973 bis 1977);
  • Sam Nunn (ehemaliger Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im US-Senat.
Zu weiteren prominenten Unterstützern ihrer Forderung nach einer atomwaffenfreien Welt gehören:
Madeleine Albright, Richard V. Allen, James A. Baker III, Samuel R. Berger, Zbigniew Brzezinski, Frank Carlucci, Warren Christopher, William Cohen, Lawrence Eagleburger, Melvin Laird, Anthony Lake, Robert McFarlane, Robert McNamara und Colin Powell.



Ein Jahr später legen die „Vier Apokalyptischen Reiter“ nach: „Die immer schnellere Verbreitung von Atomwaffen, nuklearem Know-how und Nuklearmaterial hat uns zu einem atomaren Wendepunkt geführt“, konstatieren sie am 15. Januar 2008 erneut im Wall Street Journal. „Wir stehen vor der sehr realen Möglichkeit, dass die tödlichsten Waffen, die jemals erfunden wurden, in gefährliche Hände fallen könnten.“ Die bisherige Politik, um dieser Bedrohung zu begegnen, halten sie für nicht adäquat, denn: „Durch die breitere Verfügbarkeit von Atomwaffen verliert die Abschreckung zunehmend an Effektivität und wird zudem selbst immer riskanter.“ Die Menschheit würde in ein neues Nuklearzeitalter eintreten, das prekärer, psychologisch desorientierend und kostspieliger sein werde als während des Kalten Krieges. Der Atomwaffensperrvertrag von 1970, so argumentieren die Vier, ziele im Grunde genommen auf das Ende aller Nuklearwaffen ab. Er lege fest, dass alle Staaten, die über keine Atomwaffen verfügen, deren Besitz auch nicht anstreben, und er verlange von den Atomwaffenstaaten, dass sie sich mit der Zeit dieser Waffen entledigten. Obwohl alle Nuklearmächte diese Verpflichtung aus dem Vertrag bekräftigt haben, wachsen bei den Nichtkernwaffenstaaten die Zweifel an deren Bereitschaft, ihre Atomwaffenpotentiale wirklich abzubauen.

Die eindringliche Warnung scheint wie ein Weckruf zu wirken. Jetzt schließen sich auch Prominente aus anderen Ländern an. In der britischen Times vom 30. Juni 2008 unterstützen drei Ex-Außenminister und ein ehemaliger NATO-Generalsekretär eine atomwaffenfreie Welt und rufen dazu auf, dieses Ziel „kollektiv und durch multilaterale Institutionen“ anzustreben. “Es wird Zeit kosten, aber mit politischem Willen und Verbesserungen bei der Überwachung ist das Ziel erreichbar“, meinen die Spitzenpolitiker Großbritanniens: „Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist.“


Die britischen Proponenten einer atomwaffenfreien Welt
  • Ex-Außenminister:
    Malcom Rifkind (1995-1997);
    Douglas Hurd (1989-1995);
    David Owen (1977 to 1979);
  • und der ehemalige Verteidigungsminister und spätere NATO-Generalsekretär: George Robertson (1999-2003 / 1999-2003)


Auch aus Rom erklingen plötzlich unterstützende Stimmen. Einen Monat später fordern am 24 Juli in der Corriere della Sera fünf prominente Italiener die atomare Abrüstung. Sie rufen Italien und Europa auf, ihren Beitrag dazu zu leisten, „das neue Denken und die neue gemeinsame Vision zu verbreiten“ und den Weg zur völligen Beseitigung der Nuklearwaffen zu ebnen. Das Überleben der Menschheit hänge von der Anerkennung dieses übergeordneten und gemeinsamen Interesses ab.


Italienische Unterstützer eine atomwaffenfreien Welt
  • Massimo D'Alema (Primierminister von 1998 bis 2000 und Außenminister von 2006 bis 2008);
  • Gianfranco Fini, (Außenminister von 2004 bis 2006 und spätere Präsident der Abgeordnetenkammer);
  • Giorgio La Malfa, (Europaminister von 2005 bis 2006);
  • Arturo Parisi, (Verteidigungsminister von 2006 bis 2008 );
  • Francesco Calogero, Physikprofessor an der Universität Rom, Friedensnobelpreisträger 1995 und Generalsekretär der Pugwash-Konferenz von 1989 bis 1997.


Inzwischen greift die Idee einer atomwaffenfreien Welt immer breiteren Raum und hat sogar Eingang in den Mainstream des sicherheitspolitischen Denkens gefunden. Gleich mehrere hochrangige Expertenkommissionen, aber auch rüstungskritische Nichtregierungsorganisationen haben sich konstituiert, um konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen zu erarbeiten. Auf einem Gipfeltreffen soll im Januar 2010 ein detaillierter Aktionsplan für die Beseitigung aller Kernwaffenlager binnen 25 Jahren vorgestellt werden.

Doch das Gegenlager formiert sich ebenfalls. Der Einsatz von Kernwaffen findet unter den Militärs in jüngster Zeit wieder neue Anhänger, die ihn auch offen propagieren. So kündigte Russlands Generalstabschef Juri Balujewski Anfang vergangenen Jahres einen atomaren Präventivschlag unter bestimmten Umständen „zur Demonstration der Entschlossenheit der Staatsführung, die Interessen der Nation zu verteidigen“ an. Auch fünf Ex-NATO-Generäle empfehlen, dass die Option für einen nuklearen Erstschlag ein „unverzichtbares Instrument“ bleibe, „einfach weil es keine realistische Aussicht für eine Welt ohne Atomwaffen gibt.“ Eine vom US-Kongress eingesetzte Kommission unter Leitung der beiden Ex-Verteidigungsminister William Perry und James Schlesinger betrachtet nukleare Abrüstung allenfalls als ein Fernziel. Das eigene Atomwaffenarsenal würde vielmehr „für unbegrenzte Zeit“ notwendig bleiben und müsste eine „den bestehenden Bedrohungen entsprechende“ Größe haben.

Der am 20. Januar ins Weiße Haus eingezogene neue Präsident der USA hat sich die Atomwaffenfreiheit auf die Fahnen geschrieben: „Dies ist der Augenblick, eine Welt frei von Atomwaffen zu schaffen“, hatte Barack Obama in seiner Rede vor der Siegessäule in Berlin im vergangenen Juli verkündet. Doch das war der Wahlkämpfer, und "vor Tische las man's anders", wie man weiß. Ob er als Präsident den verheißungsvollen Worten nun auch Taten folgen lässt, bleibt also abzuwarten.


„Wir, die Unterzeichner, glauben, dass wir alle Nuklearwaffen weltweit abschaffen müssen, um unsere Kinder, unsere Enkel und unsere Zivilisation von der Bedrohung einer nuklearen Katastrophe zu schützen. Wir verpflichten uns daher dazu, für die Abschaffung von Nuklearwaffen zu einem bestimmten Zeitpunkt auf ein rechtlich bindendes, nachprüfbares Abkommen hinzuarbeiten, das alle Nationen einschließt.”
Aus der Erklärung von „Global Zero“

Zu den Erstunterzeichnern von „Global Zero“ gehören unter anderen die ehemaligen Staatschefs Gro Harlem Brundtland, Fernando Cardoso, Jimmy Carter, Michail Gorbatschow, Fidel Ramos und Mary Robinson; die Ex-Außenminister Lloyd Axworthy, Margarett Beckett, Lakhdar Brahimi, Hans-Dietrich Genscher, Gareth Evans, Yoriko Kawaguchi und Jaswant Singh, aber auch so bekannte Persönlichkeiten wie Zbigniew Brzezinski, Jewgenij Welikow, Erzbischof Desmond Tutu und Nobelpreisträger Muhammad Yunus.



* Dieser Beitrag erschien unter dem Titel "Die Stunde der Phantasten" gekürzt in der Wochenzeitung "Freitag" 04, 23. Januar 2009


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