Mangelndes Interesse an atomwaffenfreier Zone
Internationale Anhörung im EU-Parlament zur NATO-Nuklearstrategie
Von Kay Wagner, Brüssel *
Die Delegation der Linkspartei im EUParlament
rief zu einer öffentlichen
Anhörung, um über die Chancen einer
kernwaffenfreien Zone zu debattieren
– doch kaum jemand folgte der Einladung
nach Brüssel.
Nur gut 20 Zuhörer verloren sich
am Dienstag in einem großen Sitzungssaal
des Brüsseler EU-Parlaments
und wollten Stimmen zum
Thema »Neueinschätzung der
NATO-Atom-Strategie – mögliche
Schritte hin zu einer atomwaffenfreien
Zone nach dem NATO-Gipfel
2012« hören.
Dabei hätte es gleich mehrere
tagesaktuelle Gründe gegeben, zu
dem Treffen zu kommen. Helmut
Scholz, Europaabgeordneter für
die LINKE, rief sie in Erinnerung:
Die Kontroverse um die Lieferung
von atomwaffentauglichen U-Booten
von Deutschland an Israel und
der NATO-Beschluss von Chicago
Ende Mai, tatsächlich einen Raketenabwehrschild
in Europa zu errichten. Doch die Teilnehmerzahl
nahm eines der ernüchternden
Ergebnisse des Expertenaustauschs
vorweg: Der Protest gegen
Atomwaffen ist nicht mehr »in«.
Viele Menschen seien zwar gegen
Atomwaffen, wenn sie gefragt
würden, stellte die britische Aktivistin
Kate Hudson fest. Doch sich
für ihre Abschaffung einzusetzen,
dazu fehle den meisten die Motivation.
»Die Bedrohung ist nicht
mehr so greifbar, wie das in den
70er und 80er Jahren der Fall
war«, sagte die Britin.
Selbst in den 90er Jahren habe
das Thema noch interessiert. »Als
ich vor 15 Jahren hier angefangen
habe, gab es lebhafte Diskussionen
«, erinnerte sich Karin Schüttpelz,
politische Beraterin der
deutschen Linken im Europäischen
Parlament. Heute gebe es
zwar einen Unterausschuss zu
Fragen der auswärtigen Sicherheitspolitik,
das Thema Atomwaffen
spiele dort aber keine Rolle.
»Das Europäische Parlament
hat in der Frage keine Entscheidungsmöglichkeiten
«, erklärte
Scholz ergänzend. Es könne nur
nicht-verbindliche Beschlüsse fassen
und dadurch versuchen, Einfluss
auf nationale Regierungen
und Parlamente zu nehmen.
Bei denen sei es mit dem Willen
zur Abschaffung der Kernwaffen
nicht weit her. Zumindest in
den Staaten, die diese Waffen besitzen.
Die Ankündigung von USPräsident
Barack Obama zu Beginn
seiner Amtszeit, das Kernwaffenarsenal
seines Landes zu
reduzieren, sei einem »Business as
usual« gewichen, stellte Scholz
fest. »Frankreichs neuer Präsident
sieht die Atomwaffen als Teil der
Souveränität seines Landes an«,
sagte Perrin Toinin von der Vereinigung
Physiker zur Vermeidung
eines Atomkriegs. Viktor Mizin
vom Moskauer Institut für Internationale
Studien konnte auch aus
Russland keine Abrüstung melden.
»Am wenigsten düster sieht es
wohl in Großbritannien aus«,
schätzte Hudson. Hier habe man
tatsächlich die Zahl der nuklearen
Sprengköpfe von 220 auf 118 verringert.
Aber: »Tony Blair hat einmal
gesagt, dass es sicher viele
Gründe gebe, Atomwaffen in
Großbritannien abzuschaffen.
Doch es sei auch eine Statusfrage,
sie zu besitzen.« So würden noch
viele führende Köpfe in Großbritannien
denken.
Und bei der NATO? »Seit 1994
waren Atomwaffen kein Thema
mehr, über das man gesprochen
hat«, wusste Otfried Nassauer, Direktor
des Berliner Informationszentrums
für Transatlantische Sicherheit.
Von einer klaren Strategie
könne man da wohl kaum
sprechen. Allerdings: »In der Erklärung
des Chicago-Gipfels werden
Atomwaffen gleich dreimal
erwähnt«, sagte der Bundestagsabgeordnete
Paul Schäfer (LINKE).
Das mache es jetzt noch schwerer,
sie etwa aus Europa abzuziehen –
sofern man das überhaupt ernsthaft
vorhabe. Die Bundesregierung
habe ihrer Aufforderung von
2009 an Obama zumindest keine
Mahnungen folgen lassen.
* Aus: neues deutschland, Freitag, 8. Juni 2012
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