Für die einen ein "historischer Tag", für die anderen ein Etikettenschwindel
Was ist dran am atomaren Abrüstungsvertrag zwischen Bush und Putin?
Wenn ein Friedensforscher in Bezug auf einen internationalen Vertrag von "Irrtum" und "Augenauswischerei" spricht, dann muss er schon bedeutsame Argumente ins Feld führen. Noch dazu, wenn es sich um einen von vielen Kommentatoren als "historisch" gepriesenen Abrüstungsvertrag zwischen den beiden atomaren Supermächten Russland und USA handelt. Gemeint ist der Vertrag zwischen Bush und Putin, den beide am 24. Mai 2002 in Moskau vereinbart haben. Der Vertrag sieht eine beiderseitige Reduzierung der Atomwaffen auf rund ein Drittel des derzeitigen Bestands vor. Ein beachtlicher Schritt hin zu einer atomwaffenfreien Welt? Mitnichten, behauptet Dieter S. Lutz, Direktor des Hamburger Friedensforschungsinstituts IFSH in einer Stellungnahme, die am 31. Mai in der Wochenzeitung "Freitag" veröffentlicht wurde ("Welch ein Irrtum"). Wir dokumentieren die wichtigsten Argumente.
... "Dies ist ein historischer und
hoffnungsvoller Tag für Russland und die USA,
aber auch für die ganze Welt", meinte
Präsident George W. Bush, als er
zusammen mit dem russischen Staatschef
Wladimir Putin im Moskauer
Kreml den Vertrag über die Verringerung
des Angriffspotenzials
unterzeichnete. ... "Der erste bedeutende Abrüstungsvertrag
seit 1993", assistierte der
russische Außenminister Igor Iwanow. Ein
"Schritt auf dem Weg zur
endgültigen Beseitigung der nuklearen
Arsenale" sekundierte sein
deutscher Amtskollege in Berlin. Welch ein
Irrtum! Welch eine Täuschung
und/oder Selbsttäuschung!
Abrüstung - so die allgemein anerkannte
Definition - zielt auf die Minderung
oder Abschaffung von Streitkräften und
Waffen. Sie kann einseitig, bilateral
oder multilateral sein. Sie kann sich als
umfassende Abrüstung auf alle
Kategorien von Waffen und Streitkräften
beziehen oder als teilweise
Abrüstung auf bestimmte Kategorien
ausgerichtet sein. ...
Nichts von alledem trifft auf den Moskauer
Vertrag wirklich zu. Richtig ist
zwar, dass dieses Abkommen die USA und
Russland verpflichtet, ihre
atomaren Gefechtsköpfe von jeweils 6.500
bis 7.000 auf 1.700 bis 2.200 zu
verringern. Doch bedeutet Reduzierung
nicht automatisch Vernichtung und
Verschrottung - also wirkliche Abrüstung.
Um den lediglich vier Seiten
umfassenden Vertrag zu erfüllen, genügt
die bloße Demontage, also das
Trennen von Sprengkopf und Raketenkörper.
Was demontiert und
eingelagert wird, lässt sich aber schon
morgen wieder montieren und Tod
bringend einsetzen.
Von dieser grotesken Augenwischerei einmal
abgesehen, lohnt es sich,
die Laufzeit des Vertrages bis zum 31.
Dezember 2012 genauer zu
analysieren. Erst wenn diese Frist
vollständig verstrichen ist - das heißt in
einem Jahrzehnt -, muss die Demontage
nachprüfbar vollzogen sein, es sei
denn, die Parteien steigen vorab aus dem
Vertrag aus. Dies kann mit einer
dreimonatigen Kündigungsfrist zu jedem
Zeitpunkt vollzogen werden. Wie
wahrscheinlich also ist es, dass Russland
und erst recht die Vereinigten
Staaten tatsächlich vor Ablauf der Dekade
einschneidend demontieren oder
gar im definitorischen Sinne des Wortes
wirklich abrüsten?
"Wer weiß schon, was in zehn Jahren sein
wird", sagt der US-Präsident
selbst.
Unterstellen wir aber einmal den wohl
unwahrscheinlichen Fall einer
sofortigen und zügigen Demontage mit
anschließender Vernichtung der
entfernten Atomsprengköpfe. Was wäre damit
"Historisches" gewonnen?
Übrig bleiben würde selbst in zehn Jahren
noch ein Nuklearpotenzial von
jeweils etwa 2.000 Gefechtsköpfen - eine
mehrfache Overkillkapazität also
auf beiden Seiten. Und wie wird die
Nuklearmacht China, die aufstrebende
Supermacht, auf diese nukleare
Zukunftsperspektive reagieren, nachdem
das Land während des Kosovo-Krieges der
westlichen Allianz schmerzhaft
erfahren musste, dass nicht die "Stärke
des Rechts", sondern das "Recht
des Stärkeren" regiert? ...
Anfang Januar 2002 hat das amerikanische
Verteidigungsministerium dem
US-Kongress einen geheimen Bericht zur
künftigen Nuklearplanung
(Nuclear Posture Review) zugeleitet. Darin
wird entgegen dem Eindruck,
der mit dem Moskauer Vertrag öffentlich
vermittelt wird, die Modernisierung
und Entwicklung neuer Nuklearwaffen
diskutiert und empfohlen. Daneben
werden Länder genannt, die demnächst zu
Zielstaaten eines
US-Nukleareinsatzes werden könnten.
Darunter sind sogar solche, die
selbst keine eigenen Nuklearwaffen
besitzen wie Nordkorea, Irak, Iran,
Libyen und Syrien. Kann man ausschließen,
dass die indizierten Länder -
spätestens seit dem Bekanntwerden der
Studie - nach Wegen suchen,
sich der Drohung gerade auch mit nuklearen
Rüstungsprogrammen zu
erwehren? Und wie werden wiederum die USA
reagieren, wenn sie
bestätigt bekommen, was sie vermutet, aber
eben auch mit provoziert
haben?
Nein! Von einem "historischen Tag" und
einem "hoffnungsvollen Tag für die
ganze Welt", wie es uns Politik und Medien
glauben machen wollen,
konnte keine Rede sein. Eher schon von
einem Versagen derjenigen, die
Verantwortung tragen für eben diese ganze
Welt und ihre Menschen.
* Professor Dieter S. Lutz ist Direktor des
Instituts für Friedensforschung
und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität
Hamburg.
Aus: Freitag 23, 31. Mai 2002
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